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Weder Fakten noch Fiktionen

  • Susanne Knaller (Hg.): Realitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur. Beiträge zu Literatur, Kunst, Fotografie, Film und zum Alltagsleben. Wien: Böhlau 2008. 260 S. 13 Seiten farb. und 1 Seite s/w Abb. Paperback. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-205-77718-2.
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Als der im vergangenen Jahr verstorbene französische Kulturtheoretiker und Philosoph Jean Baudrillard vor genau 30 Jahren seine Simulationstheorie vorstellte, wurde dieser Entwurf vor allem aus einem Grund als blanke Fiktion abgetan: Baudrillard hatte in letzter Konsequenz aus dem referenzlosen sprachlichen Zeichen (Simulacrum) Jacques Derridas ein mediales Zeichen gemacht, das er als konstitutiv für die Mediengesellschaft ansah. Die daraus resultierende »Hyperrealität«, von der Baudrillard in seiner Theorie schrieb, ist ein Zustand, in dem aufgrund des nicht mehr klärbaren ontologischen Status’ dieser medialen Signifikation eine Unterscheidung von Fiktion und Realität unmöglich wird. Sowohl die politisch orientierte Kulturtheorie (in der Nachfolge Adornos) kritisierte dieses Konzept als in letzter Konsequenz ahistorisch und ideologisch indifferent als auch die ästhetische Theorie, die sehr wohl Kriterien für die Unterscheidung von Fiktion und Realität ausgemacht zu haben glaubte.

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Die Ende der 1990er Jahre erneut einsetzende Diskussion um das Phänomen der Authentizität scheint die Ideen Baudrillards zu bestätigen. Längst hat das Authentische seine erkenntnistheoretische Konnotation von »echt« bzw. »real« verloren und ist als Strategie einer ästhetischen Konstruktion anerkannt worden. Authentizitätstheorien der Medien basieren jetzt auf konstruktivistischen Paradigmen – oder auf simulationstheoretischen Annahmen. Vor zwei Jahren hatten Susanne Knaller und Harro Müller in einem Sammelband über »Authentizität« 1 Bilanz unter diese neuen Perspektiven zu ziehen versucht. Nun ist erneut eine Herausgeberschaft der Grazer Literaturwissenschaftlerin erschienen, die sich wie eine weitere Bestätigung des konstruktivistischen »turns« in der Authentizitätsdebatte liest: Mit »Realitätskonstruktionen« ist das 260 Seiten starke Werk aus dem Böhlau-Verlag mit einem scheinbaren Oxymoron betitelt. Darin versammelt Knaller 15 Beiträge ganz unterschiedlicher Provenienz, die einerseits im April 2006 als Vorträge auf einem Symposium mit dem Titel des Bandes im Grazer Kunstverein gehalten wurden, andererseits Texte eines im selben Jahr an der Universität Granz veranstalteten interdisziplinären Seminars zu »Intermedialen Entgrenzungen«. 2

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Vom Realismus zum Surrealismus

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Dass es in den Texten des Bandes vor allem noch einmal um die Frage der Authentizität geht, verschweigt der Titel zwar, die Beiträge selbst kreisen das Phänomen jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven ein. In den vier Rubriken »Fotografie, Film, Video«, »Literatur, Kunst, Ästhetik«, »Intermediale Konfrontationen« und »Alltagskultur« nähern sich die Autoren pluriperspektivisch der Frage, inwieweit »Realität« und »Fiktion«, »Echtheit« und »Fake«, »Alltagswirklichkeit« und »Virtualität« angesichts konstruktivistischer Medientheorien überhaupt noch als Dichotomien verstehbar sein können. Die Texte gehen dabei kunsthistorisch, literaturwissenschaftlich, film- und medienwissenschaftlich, ideen- und begriffsgeschichtlich, aber auch »praktisch« vor. Neben akademischen Fachbeiträgen enthält der Band nämlich auch Kunst, die Realitätskonstruktionen thematisiert, etwa ein mehrstrophiges Gedicht Rupert Hubers und eine (vierfarbig wiedergegebene) Fotodokumentation der britischen Medienkünstlerin Andrea Zapp (von ihr selbst kommentiert).

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Die zwei zentralen Texte des Bandes sind Doris Panys begriffs- und kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem »Realismus« als ästhetische Epoche und Epistemologie sowie Doris Pichlers methodologische Arbeit über »Die literarische Fiktion als Erklärungsmodell für moderne Realitätskonstruktionen«. Hierin bündeln sich die Fragen nach der Aktualität und Viabilität der oben erwähnten Dichotomien. Pany fasst in ihrem Text den Realismusbegriff als interdiskursiv auf, das heißt, als ein Konzept, das zwischen verschiedenen Kunst- und Theoriediskursen fluktuiert und dabei ganz unterschiedliche Auffassungen von dem, was denn »real« sei, hervorbringt. Ausgehend von der Fotografie diskutiert die Autorin einen »Umbruch in der Weltwahrnehmung«, der den ästhetischen Zugang zur Wirklichkeit grundlegend verändert und einen Realismusbegriff provoziert, der nicht mehr bloß »Mimesis« meint. Die verschiedenen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhundert – bis hin zum Surrealismus – konstatieren jeweils ganz eigene Verständnisse von Realismus, die sich vom (scheinbaren) Verismus des fotografischen Abbildes distanzieren. Letztlich kann sogar der Kubismus als eine solche »Realisierung der Wahrnehmung« aufgefasst werden – in seinen »Entfaltungen des Raums« zeigt sich am deutlichsten, worin die Defizite der Fotografie zu suchen sind, zeigt sie doch gebunden an die Zweidimensionalität immer nur »eine Seite« der Wahrheit.

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Konstruktion und Kulturproduktion

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Doris Pichler nimmt sich Umberto Ecos 1988 erschienenen Roman Das Foucaultsche Pendel zum Anlass einer Untersuchung der Frage nach dem scheinbaren Widerspruch von Fiktionalität und Realität. Fiktionstheorien existieren in geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie Pichler mit Verweis auf Hans Vaihingers 1920 publizierte Philosophie des Als-ob feststellt. Nach einer gründlichen etymologischen Herleitung des Terminus »Fiktion« findet sie im Wortursprung Indizien dafür, dass es einen Wandel vom moralischen »täuschen« hin zur neutraleren »Mimesis« gegeben hat; dieser Wandel wird von ihr weiter vollzogen, wenn sie feststellt, dass Realität und Fiktion über das dritte Konzept des »Imaginären« keineswegs mehr Widersprüche zueinander bilden, sondern sogar beide Momente einer modernen Ästhetik sind. Konstruktivistische Überlegungen Wolfgang Welschs (aber auch des eingangs erwähnten Baudrillard, den Pichler hier nicht anführt), wonach sich Realität und Fiktion gegenseitig beeinflussen und bedingen, bereiten das Neuverständnis von Fiktionalität vor, das Eco in Das Foucaultsche Pendel zur Basis seiner Erzählung über drei Verleger macht, die sich ein Textuniversum aus Realitätskonstruktionen erschaffen, dessen ontologischen Status sie zuletzt selbst nicht mehr durchschauen können. Die Frage der »Rahmung« ist laut Pichler dabei für Fiktionalitätstheorien ebenso wichtig wie für das Dilemma der von Eco erdachten Verschwörungstheoretiker: Wo, wie in der modernen Kunst, ein auf das mediale Dispositiv verweisender Rahmen nicht mehr zu finden ist, dort lässt sich auch nicht mehr entscheiden, ob man es mit Fiktion oder Wirklichkeit zu tun hat.

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Zwischen den Polen, die die Texte Panys und Pichlers in der Debatte um Realitätskonstruktionen abstecken, fügen sich dann auch die anderen Texte des Bandes ein, die sich vor allem die konkreten kulturellen Ausformungen solcher Konstruktionen untersuchen. Michael Wetzel geht der unklärbaren Frage nach dem archimedischen erzählerischen Ursprung einer Fiktion – dem Hitchcock-Film Vertigo – nach, wenn er fragt, ob Hitchcock Freud und E.T.A. Hoffmann gelesen haben könnte, Cornelia Lund untersucht Authentizitäts- bzw. Fake-Strategien in Filmen der Hip-Hop-Szene und stellt zwei davon vor, Karin Weitzer nimmt sich noch einmal und leider etwas deskriptiv das Phänomen »Big Brother« und damit die Frage nach der inszenierten Authentizität in Docu-Soaps vor, Harro Müller untersucht das überaus komplex mit den Phänomenen »Authentizität« und »Fake« spielende Werk Alexander Kluges und Bernhard Kettemann beschließt den Band mit einem Aufsatz über Bedeutungskonstruktionen in der Werbung unter der besonderen Berücksichtigung des mittlerweile kanonisierten »Konstruktionismus« Watzlawick’scher/Maturana’scher Prägung und der Semiotik.

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Ohne auf diese und weitere im Band enthaltene Beiträge im Einzelnen einzugehen lässt sich anmerken, dass sich das Phänomen der Realitätskonstruktion »in der zeitgenössischen Kultur« (so der Untertitel des Bandes) in allen Bereichen und den vielfältigsten Ausformungen zeigt. Die Analyse von vielfältig untersuchten (»Big Brother«) und die Vorstellung von bislang wenig beachteten Kulturgegenständen (etwa des Hip-Hop-Films) führt dies facettenreich vor Augen. Diese Vielseitigkeit der Gegenstände und der Perspektiven der theoretischen Zugänge lässt den Sammelband Susanne Knallers als etwas offen und disparat erscheinen. Es können jedoch notwendigerweise nur Ausschnitte von »zeitgenössischer Kultur« zwischen den Buchdeckeln eines Paperback Platz finden. Von daher lässt sich die Existenz des Bandes und die darin enthaltenen Annäherungen vielleicht eher als eine nachträgliche Bestätigung jener Annahmen Baudrillards auffassen, dessen »kulturpessimistische Lanze« jedoch gleichzeitig gebrochen wird: Die Arbeit des Simulacrums am Verwischung der Grenzen von »Realität« und »Fiktion« hat nicht etwa Hyperrealität und Indifferenz zur Folge gehabt, sondern ein verstärktes und vertieftes Verständnis ästhetischer Prozesse über alle Disziplinengrenzen hinaus.

 
 

Anmerkungen

Susanne Knaller / Harro Müller (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München: Wilhelm Fink 2006. Vgl. dazu meine Rezension in IASLonline, URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1715 (Datum des Zugriffs: 20.11.2008).    zurück
Das vollständige Inhaltsverzeichnis des Bandes ist über den Katalog der DNB zugänglich, URL: http://d-nb.info/986862800/04 (Datum des Zugriffs: 20.11.2008).    zurück