IASLonline

Ante Portas.
Hannibal Lecter zwischen Gothic und Pop

  • Benjamin Szumskyj (Hg.): Dissecting Hannibal Lecter. Essays on the Novels of Thomas Harris. Jefferson/NC, London: McFarland & Company 2008. viii, 232 S. Paperback. USD 35,00.
    ISBN: 978-0-7864-3275-2.
[1] 

Das Phänomen »Hannibal Lecter«

[2] 

Spätestens seit der überaus erfolgreichen Verfilmung seines Romans The Silence of the Lambs (1988) ist der Thriller-Autor Thomas Harris einem weltweiten Publikum bekannt. Inzwischen wurden all seine Romane (Black Sunday, Red Dragon, The Silence of the Lambs, Hannibal, Hannibal Rising) verfilmt. Red Dragon (1981), der erste in der bislang vierteiligen Reihe um den kannibalischen Serienmörder »Dr. Hannibal Lecter«, sogar zweimal, 1986 unter dem Titel Manhunter und dann, nach der Verfilmung von Hannibal (1999), mit dem Schauspieler Anthony Hopkins in einer Reprise seiner inzwischen ikonisch gewordenen Rolle 2002 noch einmal unter dem Romantitel Red Dragon. Die beiden Romane Hannibal und Hannibal Rising (2006) rücken dabei schon merklich von dem detektivischen Grundgerüst der beiden Vorgängerwerke ab sowie von der Dreieckskonstellation zwischen Serienmörder, Detektiv und Lecter. Sie stellen stattdessen die inzwischen zu einer Pop-Ikone geronnene Lecter-Figur ins Zentrum des Geschehens. Ist deshalb die FBI-Beamtin Clarice Starling aus The Silence of the Lambs in Hannibal noch entscheidend für die Geschichte, wenn auch schon deutlich weniger als Detektivin denn als Partnerin und Projektionsfläche für Lecter, so spielt Polizeiarbeit in dem, man könnte sagen ›exzentrischen Bildungsroman‹ Hannibal Rising gar keine Rolle mehr.

[3] 

Die inzwischen vier- beziehungsweise fünfteilige Buch- und Filmreihe, die sich um das Pop-Phänomen »Hannibal Lecter« rankt, gehört wahrscheinlich zu den erfolgreichsten Franchises im Bereich der Genreliteratur und des Genrefilms der letzten Jahre. Populär gemacht hat sie dabei nicht allein die Figur Lecter, sondern auch den Verbrechenstypus des »Serienmörders« und den Beruf des »Profilers«. Vor allem hat diese Reihe den Serienmörder, die triebgesteuerte »Kreatur« 1 und den »Lustmörder« 2 der Weimarer Zeit, in eine kreative und kulturell legitime Figur verwandelt, deren Mordtaten in Literatur und Film mitunter als Kunstwerke inszeniert werden. Mit Thomas Harris’ Romanen, so kann man zusammenfassen, hat der Serienmörder eine beispiellose globale Karriere als Held der Popkultur vorgelegt. Die Romane und vor allem ihre Filmfassungen sind dabei für eine Hundertschaft von weiteren Serienmördern und auch Profilern verantwortlich: in Genreliteratur, so genannter True Crime-Literatur, Film und auch in Fernsehserien, von der frühen Profiler-Serie Millennium (1996–1999) bis zu Dexter (2006 ongoing), in der Detektiv und Serienmörder zu einer Figur verschmelzen.

[4] 

Der Erfolg des Profilers, lässt sich ergänzen, der zunächst beim FBI beheimatet ist und der mit der Figur Will Graham in Red Dragon zum beliebten Protagonisten wird, beruht vor allem auf einer entscheidenden Differenz zum konventionellen Detektiv oder Polizisten: nämlich der genialischen Verbindung des perfekten Spureninterpretierens, eines Deduzierens im Rahmen des konjekturalen Paradigmas 3 in der Nachfolge Auguste Dupins und Sherlock Holmes’, verbunden mit einer einfühlenden und divinatorischen Hermeneutik. Diese befähigt den Profiler dazu, ganz im Sinne Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers, die Perspektive des Verbrechers einzunehmen und diesen zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als dieser sich selbst. Das kriminalistisch psychologische Profil, das die literarische und filmische Figur des Profilers erstellt, befähigt diesen deshalb im Idealfall, ein Muster der Taten zu identifizieren, um dann zukünftige Taten vorhersehen zu können.

[5] 

Auffällig am Erfolg der jüngeren Serienmörder seit den Romanen von Thomas Harris ist vor allem, dass sie häufig wenig mit ihren realen Counterparts gemein haben. Speziell die Inszenierung raffiniert konstruierter Morde, die ein bestimmtes Muster erfüllen müssen, mit Zitaten aus Kunst- und Kulturgeschichte gespickt sind oder in der Tötungsart originell variieren (dem ›creative killing‹), um ihren Schauwert zu steigern, sind erkennbar exklusiv fiktionale Strategien der Aufmerksamkeitssicherung. Die erfolgreichste Serienmörder-Figur ist dieser Logik entsprechend auch eine, die keinerlei psychologisch realistische Züge mehr trägt und allein noch auf ihre Herkunft aus der Literatur- und Filmgeschichte verweist. So besteht Thomas Harris’ erfolgreichste Strategie in Red Dragon und The Silence of the Lambs auch darin, die Figur des Serienmörders aufzuspalten. Ist die eine Hälfte der Figur, in Gestalt der monströsen und verworfenen Serienmörder »Francis Dolarhyde/Tooth Fairy« (Red Dragon) und »Jame Gumb/Buffalo Bill« (The Silence of the Lambs), trotz ihrer Manierismen noch in einem realistischen beziehungsweise pathologischen Sinne nachvollziehbar, als Mörder, die ihre Identität auf Kosten anderer konstruieren, übersteigt Hannibal Lecter alle menschlichen Grenzen. Er ist in seinem Intellekt, seinem telepathischen Einfühlungsvermögen und seiner Souveränität, jede Situation und alle anderen Figuren um sich herum zu beherrschen, eher den phantastischen Schurken der Gothic Novel, mehr noch aber der Pulp-Literatur, der Superhelden-Comics und vor allem des modernen Vampirromans verpflichtet. Lecter ist eine monströse Kitschfigur aus der Horrorfiktion und wird auch mit ihrem Dandy- und Intellektuellen-Habitus, der einen allzu alteuropäisch bildungsbürgerlichen Bezug zu Kunst und Kultur trägt, deutlich verklärend und aristokratisierend gezeichnet, wie beispielsweise auch der Vampir Graf Dracula in vielen literarischen und filmischen Versionen. Was Umberto Eco über die Mythisierung in der Massenliteratur und speziell über die Comicserie Superman schreibt, könnte deshalb, möchte man sozialpsychologisch argumentieren, auch für die Figur Lecter gelten:

[6] 
Der mit übernatürlichen Kräften ausgestatte Held ist in der populären Vorstellungswelt eine Konstante […] Doch in einer nivellierten Gesellschaft, in der psychische Störungen, Enttäuschungen, Minderwertigkeitsgefühle an der Tagesordnung sind, […] in einer solchen Gesellschaft muss der positive Held die Selbständigkeitswünsche und Machtträume, die der einfache Bürger hegt, aber nicht befriedigen, geradezu exzessiv auf sich versammeln. 4
[7] 

Inwiefern Hannibal Lecter als ›positiver Held‹ gelesen werden kann, bleibt dabei selbstverständlich diskussionswürdig.

[8] 

Auf dem Seziertisch?

[9] 

2001 veröffentlicht Daniel O’Brien mit The Hannibal Files. The Unauthorised Guide to the Hannibal Lecter Trilogy einen Hintergrundband zu den ersten drei Verfilmungen (Manhunter, The Silence of the Lambs, Hannibal) der Romane um Hannibal Lecter und verbindet dabei Filmanalyse mit Informationen zu Produktion und Rezeption. 5 Im Titel macht dieser Guide schon auf die zentrale Rolle der Hannibal-Figur in der Erfolgsgeschichte von Thomas Harris aufmerksam, etwas, das alle anderen Aspekte in seinen Werken nach und nach überdeckt. 2008 übernimmt Daniel O’Brien nun das Vorwort zu dem Band Dissecting Hannibal Lecter. Essays on the Novels of Thomas Harris, herausgegeben von Benjamin Szumskyj. 6 Dieser liefert erfreulicherweise nicht weitere Texte zu den populären Filmen, sondern konzentriert sich weitgehend auf die Analyse der Romane. In zwölf Essays unternehmen Literaturwissenschaftler und Filmwissenschaftler, aber auch Journalisten, Schriftsteller und Fans aus anderen Bereichen den Versuch, sich über verschiedene Perspektiven und Motive der Figur Hannibal Lecter in den Romanen zu nähern. Der Herausgeber Benjamin Szumskyj ist australischer High-School-Lehrer und publiziert vor allem im Bereich der Sword and Sorcery-Fantasy (Robert E. Howard, Fritz Leiber, Karl Edward Wagner), des Horrors (H. P. Lovecraft) und des Comics (Mike Mignola). Die Essays von Dissecting Hannibal Lecter verfolgen, so lässt sich mit einem ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis feststellen, denkbar unterschiedliche Themen und Ansätze. Aber merkbar überträgt sich vor allem das Schillern der transgressiven und transmedialen Figur Hannibal Lecter selbst auf den Band – ihre Existenz zwischen Literatur und Film, zwischen den Traditionen von American Gothic und Splatterfilm, zwischen Mensch und übermenschlichen Vampir – und lässt keine eindeutige Struktur zu. Es gibt keinen roten Faden und keine Sektionen. Zwei Schwerpunkte lassen sich dennoch ausmachen. Das sind zum einen die Bezüge der Romane zur Gothic Novel sowie zum Horrorgenre und zum anderen die komplizierten Verhältnisse zwischen Literatur und Film.

[10] 

American Gothic I

[11] 

Eröffnet wird der Band von Peter Messent mit dem Essay »American Gothic: Liminality and the Gothic in Thomas Harris’s Hannibal Lecter Novels« (S. 13–36) 7 . Er beginnt zunächst mit einer kurzen Ausführung über »Gothic« als Genre sowohl der Grenze als auch der Grenzverletzung und beschreibt es als »liminal space«, als einen instabilen Schwellenraum zwischen dem Bekannten und dem ›Anderen‹, und stellt diesem das Thema des Kannibalismus gegenüber. Thomas Harris’ Romane, so die These Messents, stehen selbst zwischen den Genres, denn sie sind eine Art »anti-mystery«, in der der Leser nicht nur mehr weiß als der Detektiv, sondern in denen auch alle Genreaspekte der Detektivgeschichte bezüglich der Figuren, der Epistemologie und des Verlaufs in Frage gestellt werden. In die Nähe rücken die Romane stattdessen zum Horrorgenre, wie mit dem labyrinthischen ›dungeon‹ am Schluss von The Silence of the Lambs oder dem Serienmörder Jame Gumb als eine Figuration des Monsters aus Mary Shelleys Frankenstein, dessen Identität ebenfalls aus Teilen von anderen besteht. Thomas Harris, so Messents These, ›kannibalisiert‹ damit das Gothic Genre des 19. Jahrhunderts, und seine Romane lassen sich deshalb selbst als ›hybrid monsters‹ lesen. 8 Denn mit der Figur des Kannibalen, so macht er deutlich, gerät der entgrenzende Akt des Kannibalismus in den Text, und Hannibal Lecters »desire then cannot be contained within ›proper‹ limits, violently incorporates the other, extends his own bodily territories in the pursuit of his own private needs« (S. 20).

[12] 

Messent beschreibt dann allerdings vor allem die psychischen Aspekte der literarischen Figur Lecter und verwendet leider auch einen ausführlichen Exkurs zum Kulturphänomen Kannibalismus ausschließlich als metaphorische Beschreibungsfolie, um damit die Souveränität einer Figur zu betonen, die ihrerseits schon im Text sowohl als Kannibale als auch als Souverän über die anderen Figuren gekennzeichnet ist. Messents Anmerkungen zum Kannibalismus-Motiv und der Verhandlung von Psychoanalyse, vor allem in Lecters nachgeschobenem Motivkomplex in den Romanen Hannibal und Hannibal Rising, verbleiben dann zunächst auch bei der Psychologisierung und rekurrieren erst zum Schluss des Essays auf den literarischen Text und auf die Monstrosität des Genres. So zeigt Messent am Kannibalismus letztlich eine interessante Transformation des Figurativen in das Buchstäbliche auf, die für das Genre des »Gothic« konstitutiv sei. Sein einleuchtendes Fazit, dass die Metaphorizität von Kannibalismus und Monstrosität für etwas anderes stehen, unter anderem »for capitalism, psychoanalysis, child-mother relationships« (S. 30), und dann auch noch für den »liminal space« des monströsen »gothic genres«, verliert allerdings durch die etwas unentschiedenen Adressierungen an Trennschärfe.

[13] 

Philip L. Simpson greift in seinem Text »Gothic Romance and Killer Couples in Black Sunday and Hannibal« (S. 49–67) Messents Thema des American Gothic auf und beginnt ebenfalls mit der Beschreibung von Thomas Harris als einem Autor von Romanen, die »the boundary between binaries« (S. 50) kollabieren lassen. Ein Beispiel dafür und dass diese, hier folgt Simpson explizit den Texten von Messent und Magistrale (S. 133–146), in eine Gothic-Tradition gehören, 9 ist für Simpson die Konstellation des »killer couple«, wie Clarice Starling und Hannibal Lecter in Hannibal und das Terroristenpaar Michael Lander und Dahlia Iyad in Black Sunday: »The Gothic, after all, is the true genre residence of Harris’ fiction […] and not the ›political thriller‹ or ›crime novel‹«. (S. 51) Begründet wird dies motivisch außerdem mit dem Fehlen von Linearität, dem Vorhandensein des Übertriebenen, Transformativen und Chaotischen, mit Dopplungen und dem Primitiven, ohne dass Simpson dies allerdings am Text ausführt. Als weiteres Merkmal von »Gothic« nennt Simpson dann in seiner ausführlichen Charakterisierung der beiden Paarungen die »altered states of reality« (S. 51) der Figuren, meint aber nur ihre jeweiligen Perspektiven auf die Dinge. Ein Beispiel ist Hannibal Lecters »memory palace«, eine mentale Fluchtbewegung der Figur aus dem Alltag. Ein weiteres Merkmal ist die Sexualität der Figuren, die stets mit Gewalt und Tod verbunden zu sein scheint. Dass Leser von Hannibals Schluss erstaunt sind, so Simpson, nämlich über die Tatsache, dass Starling zur Gefährtin von Lecter wird, mag deshalb mit einer falschen Genreerwartung zusammenhängen. Aber inwiefern Harris’ Romane in eine Tradition des Gothic oder Neo-Gothic einpassen, erläutert Simpson leider nicht. Dabei erwähnt Simpson sowohl die Rachephantasien der Figuren, Lecters körperliche Monstrosität (sein gedoppelter Mittelfinger), die Vater-Kind-Konstellation zwischen Lecter und Starling und auch die Geister der Vergangenheit, die beide heimsuchen, Figurationen, die durchaus auf die Gothic Novel referieren, macht diese Punkte aber merkwürdigerweise ausgerechnet nicht für eine Genrebestimmung stark.

[14] 

American Gothic II

[15] 

S. T. Joshi ist für den Leser angloamerikanischer Literatur der Phantastik sicher der bekannteste Autor in diesem Band. Denn Joshi ist der Biograph und Herausgeber zahlreicher Editionen wichtiger Autoren der so genannten »Weird Fiction«, der Horrorliteratur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu denen beispielsweise H. P. Lovecraft, Ambrose Bierce und Algernon Blackwood zählen. Auch hat Joshi zahlreiche eigene Aufsatzsammlungen zu Horrorautoren, zum Beispiel The Weird Tale (1990) oder The Modern Weird Tale (2001), veröffentlicht. 10 Wie diese verhandelt auch der Text »Suspense vs Horror: The Case of Thomas Harris« (S. 118–132) in diesem Band das Thema aus einer radikalen Fan-Perspektive und stellt dabei auf Hierarchisierung ab, das heißt, auf die Schaffung eines Kanons von guten und weniger guten Texten innerhalb eines übersichtlichen Verweiskosmos’ phantastischer Literatur. Joshis Essay unternimmt denn auch, beginnend mit H. P. Lovecraft und Robert Bloch, eine Verortung der Romane von Thomas Harris in dem Genre, das er als »weird tale« (S. 118) bezeichnet.

[16] 

Nach dem Abstecken einiger Koordinaten, wie der Unterscheidung zwischen »suspense/mystery« und »horror« (S. 118) und einer Aufwertung des »psychological horror« (S. 119) oder der verwandten »psychological mystery« (S. 120), die keine übernatürlichen Elemente aufweist, gegenüber Lovecrafts Verdikt eines »cosmic horror« (S. 119), kommt Joshi zu der folgenden These: Thomas Harris’ Romane gehören zur »non-supernatural weird tale« (S. 119) oder sind »pseudo-supernatural« (S. 119), einer Zuordnung, der viele Detektivgeschichten folgten. Sein Fazit ist deshalb, dass Harris in einem Feld schreibt, das Robert Bloch als »psychological suspense« (S. 132) bezeichnet, und dass er, so betont Joshi, beide Hälften diese Kompositbegriffs betont, »and perhaps even a little more to the latter« (S. 132) tendiert. Auch wenn Joshi mit diesem Essay keine literaturanalytischen Ziele verfolgt, kommt man nicht umhin, sich etwas ratlos zu fragen, welchen Zweck solch ein Versuch einer generischen Gattungszuordnung verfolgt, die überdies eng an eine persönliche Wertung der Texte gebunden ist.

[17] 

Tony Magistrales Text »Transmogrified Gothic: The Novels of Thomas Harris (S. 133–146)« ist der fünfte, der sich mit Thomas Harris’ Romanen in der Tradition der Gothic Novel beziehungsweise des Horrorromans auseinander setzt. Seinen Ausgang nimmt er dabei zum einen von der These James Twitchells, dass die Attraktion einer Kunst des Terrors vornehmlich psychosexuell begründet sei und zum anderen, dass es im Horrorgenre vornehmlich um Transformation gehe, psychisch wie physisch. 11 Red Dragon handelt dementsprechend von der Verwandlung des Serienmörders Francis Dolarhyde, die auf Kosten von Frauen gehe. Mit einem Exkurs zu William Blake, dessen Gemälde The Great Red Dragon and the Woman Clothed with the Sun ja das Vorbild für Dolarhyde und damit für den Roman darstellt, liest Magistrale diesen auch in einem Kontext des »romantischen Schmerzes«, wie es Mario Praz beschreibt. 12

[18] 

Red Dragon erzählt diesbezüglich von einer Fehllektüre Blakes durch den Serienmörder und wird dabei, so Magristales einleuchtende Lesart, selbst zu einer Fehllektüre von Romantik, die Magistrale bei William Blake allerdings etwas eingeschränkt ausschließlich als lebensbejahenden »romantic optimism« (S. 137) versteht und die Harris in eine »Gothic romance« (S. 137) verwandle. The Silence of the Lambs beschreibt dann ein vergleichbares Projekt des Serienmörders Jame Gumb, der sich ebenfalls in etwas anderes verwandeln möchte und dessen monströse Metamorphose ebenfalls auf Kosten von Frauen geht. Verwandlung ist also das zentrale Thema der beiden Romane, und all ihre Figuren, so Magistrale, gehen eine Veränderung durch. Aber die beiden Serienmörder sind genau wie die Terroristen in Black Sunday – in einer etwas unverbunden sozialkritischen Volte Magistrales – vor allem auch Monster, weil sie wie das Monster in Frankenstein von der Gesellschaft Ausgestoßene sind. Weiter ausgeführt wird dies nicht. Letztlich soll es aber das Kennzeichen von Gothic sein, – Magistrale beruft sich hierbei auf Stephen King (Danse Macabre) und Noël Carroll 13 – die Norm wiederherzustellen und dabei das Abnormale auszulöschen. Auch Black Sunday, Red Dragon und The Silence of the Lambs folgten dieser Vorgabe und zeigten dem Leser dabei zum einen die »transformative energies« (S. 145) und zum anderen, wie sie aus der »conservative worldview« (S. 145) von Thomas Harris heraus abgelehnt würden.

[19] 

Als Ergänzung zu den Erläuterungen, die sich auf eine Genrezugehörigkeit zur Gothic Novel beziehen, kann Davide Manas Beitrag »This is the Blind Leading the Blind: Noir, Horror and Reality in Thomas Harris’s Red Dragon« (S. 87–101) gelesen werden. Dieser ist zwar im Wesentlichen nur ein etwas psychologisierender Vergleich der beiden Serienmörder Francis Dolarhyde und Hannibal Lecter, enthält allerdings den aufmerksamen Fingerzeig auf die Beziehung der Romane von Thomas Harris zum Noir-Genre, ohne dies allerdings weiter auszuführen. Mana weist auf die Ähnlichkeiten der Figuren beispielsweise zu Sam Spade und Philip Marlowe hin, aber sieht Will Graham und Hannibal Lecter auch in der Tradition von Pulpfiguren wie »The Shadow« oder »Dr. Fu Manchu« und deutet zuletzt mit der Erwähnung von Lecters übermenschlichen Fähigkeiten auch auf das Superheldengenre hin.

[20] 

Adaptionen

[21] 

Ein zweiter Schwerpunkt des Sammelbandes lässt sich in der synoptischen Lektüre und Betrachtung der Hannibal Lecter-Romane und ihrer Verfilmungen ausmachen. John Goodrich geht in seinem Essay »Hannibal at the Lectern: A Textual Analysis of Dr. Hannibal Lecter’s Character and Motivations in Thomas Harris’s Red Dragon and The Silence of the Lambs« (S. 37–48) zwar vor allem auf die Romane ein, unternimmt dies aber auch in einem filmischen Kontext. So weist er zunächst auf die Veränderung der »stock trope« (S. 37) des Serienmörders hin, wie sie durch die Hannibal Lecter-Figur angeregt wurde: nämlich von gesellschaftlichen Außenseitern wie in Robert Blochs Roman Psycho oder Fritz Langs Film M hin zu den genialen Mördern in David Finchers Film Seven oder Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho. Etymologisch sich über Vor- und Nachname von Hannibal Lecter an die Figur herantastend, versucht Goodrich dann, mit einer Analyse der verschiedenen Interaktionen dieser Figur, vor allem den Dialogsituationen, in Red Dragon und The Silence of the Lambs den undurchsichtigen Charakter und zugleich die Popularität von Lecter zu ergründen, landet aber letztlich bei einer etwas psychologisierenden Nacherzählung, die mit der Schlussbemerkung endet, dass die Frage der Moral für Lecter offen bleibt.

[22] 

Tony Williams schreibt danach in »From Red Dragon to Manhunter« (S. 102–117) über die symbiotischen Beziehungen zwischen Jäger und Beute in Literatur und Film, die sich auch in der Paarung Serienmörder und Profiler ergäben. Gemäß der Tradition der Gothic Fiction gehört für ihn deshalb auch in Red Dragon und seinen beiden Verfilmungen die Dualität zu den zentralen Themen. In psychoanalytischer Terminologie skizziert Williams die Verhältnisse zwischen den Figuren dann zum einen als Familienkonstellationen, wie die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Hannibal Lecter und Will Graham, oder in Freudschen Begrifflichkeiten der Psyche, wie mit den konkurrierenden »super-egos« von Lecter und Jack Crawford. Williams geht dabei vor allem auch auf die Unterschiede zwischen den Versionen Manhunter, dem Roman Red Dragon und der gleichnamigen Neuverfilmung ein, in denen das Schicksal der Figuren jeweils andere Akzente erhält.

[23] 

Ali S. Karim nimmt sich mit »Hannibal Rising: Look Back in Anger« (S. 147–159) des jüngsten Romans von Thomas Harris in Form einer Rezension an. Er hebt dabei zunächst hervor, dass die Öffentlichkeit sich vor allem für die Filmfassung interessiert. Nach einigen Randdaten rund um den Film und die beteiligten Personen folgt dann ein persönlicher Lesebericht des Romans. Karim zählt dabei die inhaltlichen Diskrepanzen zwischen Hannibal Rising und seinen Vorgängerromanen sowie einige inhaltliche Fehler auf, bewertet den Roman – als bekennender Fan von Harris’ Schreiben – letztlich aber als ein durchweg positives Leseerlebnis.

[24] 

Scott D. Briggs weicht dann mit seinem Text »Black Sunday, Black September: Thomas Harris’s Thriller, from Novel to Film, and the Terror of Reality« (S. 176–199) zwar vom »Hannibal Lecter«-Thema des Sammelbandes ab, ergänzt damit aber den Band zu einer Gesamtschau der Werke Harris’. Er geht dabei zunächst auf die Geschichte terroristischer Anschläge ein, Folien für die Handlung des Romans, um dann den Plot nachzuerzählen und zu diesem Vergleiche in der Filmgeschichte zu bringen. Nach Filmkritik und –hintergründen, einigen Bemerkungen über die Veränderungen, die im Film vorgenommen wurden, kommt er allerdings zu dem Schluss, dass Thomas Harris’ Stil in den Filmen immer noch sichtbar bleibt. Den Roman Black Sunday bewertet er letztlich als »relevant, important classic of the genre« (S. 198).

[25] 

Zwei Lektüren und ein Plädoyer

[26] 

Robert H. Waugh liest in »The Butterfly and the Beast: The Imprisoned Soul in Thomas Harris’s Lecter Trilogy« (S. 68–86) diese aus der Perspektive der literarischen Motivgeschichte. Im Zentrum steht dabei das Motiv des Schmetterlings. Dies setzt er sinnfällig in Bezug zu Figuren in Arthur Conan Doyles Roman The Hound of the Baskervilles, John Fowles Roman The Collector, zu Edgar Allan Poes Erzählung The Gold Bug oder auch zu Vladimir Nabokovs Roman Lolita und erschließt dadurch einige interessante Motivketten und Bedeutungsebenen. Waugh zeigt auch Lecters Ähnlichkeit zu Sherlock Holmes auf und weist dabei auf die detektivischen Fähigkeiten des Kannibalen hin. Eine weitere wichtige Figuration, die hervorgehoben wird, ist die von Optik und Distanz, die die Konstellationen zwischen den Figuren regelt, die einander immer wieder unentdeckt beobachten. In seiner Analyse der Figuren bezieht sich Waugh dabei auch auf verschiedene mythologische Präfigurationen, ein Thema, das zum Beispiel in Red Dragon in Gestalt des Gemäldes von William Blake eine wichtige Rolle spielt. Zum Abschluss deckt er zum einen die hegelianischen Herr-Knecht-Beziehungen zwischen den Figuren auf, beispielsweise zwischen Hannibal Lecter und Clarice Starling, und zum anderen die Dialektik von Souveränität und Ohnmacht bei den Monster-Figuren, wie Francis Dolarhyde, Jame Gumb und Mason Verger, die er als Figurationen des »Minotaurus« liest.

[27] 

Phillip A. Ellis’ Ausgangspunkt in »Before Her Lambs Were Silent: Reading Gender and the Feminine in Red Dragon« (S. 160–175) ist die Beobachtung, dass Clarice Starling aus The Silence of the Lambs generell zwar als Heldin und »strong feminist character« (S. 161) betrachtet wird, aber die Frauenrollen und das Thema »Gender« in den Lektüren zu Red Dragon bislang nur wenig Beachtung gefunden haben. Ellis führt das Gender-Thema dann allerdings theoretisch nicht weiter, sondern beschränkt sich darauf, die verschiedenen Figuren des Romans, ihre Verbindungen, Feminisierungen und Maskulinisierungen sowie ihre jeweilige Zuordnung in ein etwas unbestimmtes gut/böse-Schema zu beschreiben. Eine aus Gender-Perspektive vorgenommene Textanalyse, die gerade vor dem ubiquitären Thema der Monstrosität in Harris’ Romanen hoch interessant gewesen wäre, bleibt leider aus.

[28] 

Der letzte Essay des Bandes »Morbidity of the Soul: An Appreciation of Hannibal« (S. 200–211), verfasst vom Herausgeber Benjamin Szumskyj, offenbart schließlich eine der Hauptintentionen des Bandes. Es geht um die Apologie von »written masterpieces« (S. 210). Denn Harris’ Hannibal-Roman ist im Gegensatz zu den beiden Vorläufern vorwiegend negativ kritisiert worden – »from book reviewers to Amazon.com customers« (S. 200) –, und Szumskyj versucht mit diesem Aufsatz, dagegen zu halten und die Qualitäten des Romans zu betonen. Wie er das unternimmt, bleibt allerdings schleierhaft. Denn unverbunden hebt er einfach einige Aspekte von Hannibal hervor: Er skizziert die Figur Rinaldo Pazzi, Lecters Familiengeschichte und berichtet schließlich von anderen möglichen Geschichten über den Kannibalismus. Zwei weitere Beobachtungen sind zum einen Thomas Harris’ Implementierung eines »memory palace« der ars memoriae in die Figur Hannibal Lecter gewidmet (vgl. S. 205). Dies würde Lecter »intellectually attractive« (S. 206) machen und »free of a uncontrollably psychotic nature« (S. 207), was ihn von anderen Serienmördern – realen wie fiktionalen – unterschiede. Zum anderen hebt Szumskyj den Einfluss von Stephen Hawkings Zeittheorie hervor, der es der Figur Lecter ermögliche, den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft zu nivellieren und aus der verlorenen Schwester Mischa die zukünftige Gefährtin Clarice Starling zu machen. Das Ende von Hannibal in der Paarung der beiden Figuren, »a stroke of genius on the decision of the author« (S. 209), ist für Szumskyj dann auch ein Zeichen dafür, das der Roman »unconsciously« eine »Gothic novel« (S. 208) sei und dies schon in Red Dragon angedeutet werde, als Lecter die Gleichheit zwischen ihm und dem Profiler Will Graham formuliert.

[29] 

Fazit

[30] 

Abschließend lässt sich sagen, dass Szumskyjs Band angesichts des Themas zur transgressiven Figur Hannibal Lecter und der stark gemachten Einordnung in eine Genretradition der Gothic Novel selbst ein Hybrid geworden ist. Das Buch kommt, so muss man zunächst festhalten, deutlich aus einem Fan-Kontext, enthält aber auch akademisch ausgewiesene Beiträge. Die Essays schwanken in Absicht, Informationsgrad und Perspektive enorm und sind deshalb in ihrer Qualität nur schwer einzuschätzen. Zwischen deutlich literaturwissenschaftlich ausgeflaggten Aufsätzen für ein akademisches Publikum und mehr oder weniger informierten und persönlichen Sach- und Fantexten sind die meisten eher halbherzige Mischungen beider Stile und Kontexte, von Autoren, die versuchen, über ein mehr oder weniger kontingentes Konzept sich den Romanen von Thomas Harris zu nähern, ohne Textanalyse zu betreiben. Aus diesem Grund finden sich alle Stärken und Schwächen, die Sammelbände üblicherweise auszeichnen, in verstärkter Form in diesem Band wieder.

[31] 

Die Heterogenität der Herangehensweisen bietet überdies einerseits zwar viele interessante Ideen und Ansätze, sorgt aber andererseits für Redundanzen, wenn in den Essays immer wieder Teile der Romane paraphrasiert und die immer gleichen Figuren vorgestellt werden müssen. Eines der Hauptprobleme eines nichtdisziplinären, vielleicht im positiven Sinne dilettantischen, Umgangs mit Literatur, das sich in diesem Band zeigt, ist auch die deutliche Tendenz zur Psychologisierung von literarischen Figuren, die sich aus der Ausblendung der Tatsache ergibt, dass ein Roman ein literarisches Konstrukt ist und sich bestimmter literarischer und rhetorischer Mittel bedient. Die literarische Analyse der Erzähltechniken von Thomas Harris bleibt denn auch mit einigen Ausnahmen außen vor. Im Wesentlichen geht es in den Essays um bestimmte Motive, Figuren und um allgemein menschliche oder moralische Probleme, die diskutiert werden und die mitunter zu etwas schlichten Gegenüberstellungen von literarischen mit nichtliterarischen Sachverhalten führen.

[32] 

Unbedingt positiv hervorzuheben ist, dass nach und abseits des Hypes und der enormen Publizität, die vor allem die Verfilmungen der Romane erreicht haben, es überhaupt ein Band versucht, sich um die Literatur selbst zu kümmern und damit auch das Feld der Diskussion um populäre Literatur zu erweitern. Ob man Thomas Harris als Literaten oder innerhalb dieses oder jenen Genres als relevanten Autor einordnet, bleibt dabei gleich. Denn es kann zwar keineswegs mehr davon gesprochen werden, dass die Literaturwissenschaft sich immer noch ausschließlich um Literatur des Höhenkamms kümmere, aber eine Textanalyse zu Genres, die sich jenseits der Kriminalliteratur einordnen, wie beispielsweise moderne Formen der Gothic Novel beziehungsweise des Horrors, – und möchte man dem Grundtenor einiger Essays dieses Bandes folgen, loten Harris’ Romane sehr nachvollziehbar exakt diese Grenzen zwischen Kriminal- und Horrorliteratur aus – kann immer noch als ein Desiderat der Forschung betrachtet werden. Letztlich tut der Sammelband diesem Anliegen aber vielleicht auch keinen Gefallen, da zusammengefasst die Qualität und Reichweite der Beiträge sehr schwanken. Sie bieten zwar eine Vielzahl von interessanten Perspektiven, greifen methodisch aber oft zu kurz. So fällt in seiner Mischung aus Fantext, populärem Sachtext und Essay mit literaturwissenschaftlichem Ansatz dieser Band deshalb vielleicht ein wenig zu heterogen für eine bestimmte Zielgruppe aus.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M. 1994.    zurück
Vgl. Hania Siebenpfeiffer: Kreatur und Kalter Killer. Der Lustmörder als Paradigma männlicher Gewalt in der Moderne. In: Hanno Ehrlicher / H. S. (Hg.): Gewalt und Geschlecht. Bilder, Literatur, Diskurse im 20. Jahrhundert. Köln 2002, S. 109–130, sowie Martin Büsser: Lustmord – Mordlust. Das Sexualverbrechen als ästhetisches Sujet im zwanzigsten Jahrhundert. Mainz 2000.    zurück
Vgl. Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: C. G.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin 2002, S. 7–57.    zurück
Umberto Eco: Der Mythos von Superman. In: U. E.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt/M. 1994, S. 187–222, hier S. 193.   zurück
Daniel O'Brien: The Hannibal Files. The Unauthorised Guide to the Hannibal Lecter Trilogy. London 2001.    zurück
Das vollständige Inhaltsverzeichnis des Bandes ist über die Website des Verlags zugänglich, URL: http://www.mcfarlandpub.com/book-2.php?id=978–0–7864–3275–2 (21.10.2008).   zurück
Die Seitenzahlen im Fließtext beziehen sich auf den rezensierten Band.    zurück
Hier könnte man anmerken, dass die Gothic Novel, abseits von Mary Shelleys Frankenstein (1818), eher ein Genre des 18. Jahrhunderts ist.    zurück
Als Referenz verweist er dabei allerdings nicht auf Studien zur Gothic Novel, sondern auf seine Arbeit Psycho Paths (2000) zu Serienmördern in Film und Literatur der Gegenwart.    zurück
10 
In The Modern Weird Tale ist auch ein großer Teil dieses Textes zu finden. Siehe die deutsche Ausgabe S. T. Joshi: Frauen aufreißen mit Robert Bloch, Thomas Harris und Bret Easton Ellis. In: S. T. J.: Moderne Horrorautoren. Essays. Band 2. Almersbach 2001, S. 81–102.    zurück
11 
James Twitchell: Dreadful Pleasurers: An Anatomy of Modern Horror. New York 1987.    zurück
12 
Mario Praz: The Romantic Agony. New York 1970.    zurück
13 
Noël Carroll: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart. New York, London 1990.   zurück