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Neues und Vergriffenes von Bachtin

  • Michail M. Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Hg. von Rainer Grübel, Edward Kowalski und Ulrich Schmid, aus dem Russischen von Hans-Günter Hilbert, Rainer Grübel, Alexander Haardt und Ulrich Schmid. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1878) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. 356 S. Paperback. EUR (D) 13,00.
    ISBN: 978-3-518-29478-9.
  • Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey und mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1879) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. 242 S. Paperback. EUR (D) 10,00.
    ISBN: 978-3-518-29479-6.
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Autor und Held

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Entstanden in den frühen 20er Jahren, liegt Bachtins philosophische Frühschrift nun erstmals in einer vollständigen deutschen (und ausführlich kommentierten) Übersetzung vor. 1 Das nur fragmentarisch überlieferte Werk soll nicht nur eine historische Lücke schließen, indem es dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht wird; Rainer Grübel versucht in seinem Nachwort auch die Aktualität von Bachtins Frühwerk zu begründen. 2

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Was zeichnet dieses Frühwerk aus? In einer ersten Annäherung könnte man leicht auf die Idee kommen, dass der junge Bachtin die Beziehungen untersuchen möchte, die zwischen literarischen Figuren und ihren Schöpfern bestehen – wobei unter »Schöpfer« nicht der Autor in Fleisch und Blut mit all seinen psychischen Dispositionen zu verstehen ist, sondern der im Werk gewissermaßen inkarnierte Autor. Der eigentliche Clou aber ist, dass dem (erst später durch fremde Hand hinzugefügten) Titel zum Trotz der Schwerpunkt nicht auf den literaturtheoretischen Kategorien Autor und Held liegt, sondern auf den philosophischen Konzepten von Ich und Anderem.

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Das Manuskript ist nicht vollständig erhalten und weist eine inkohärente Nummerierung der Kapitel auf. Erstes und letztes Kapitel fehlen ganz (in der Zählung der Herausgeber Kapitel 0 und 7). Es folgen zwei Kapitel, die arabisch beziffert sind. Dann folgen die ursprünglich römisch bezifferten Kapitel 3–6. Sie sind im Gegensatz zu den vorhergehenden Kapiteln (1 und 2) in Unterabschnitte gegliedert und unterscheiden sich methodisch von ihnen. Das erste Kapitel enthält eine Gedichtinterpretation, das zweite ist gewissermaßen eine Zusammenschau dessen, was in den folgenden Kapiteln ausgebreitet wird. Herzstück der Schrift ist das 3. Kapitel über die »räumliche Form des Helden«, auf das im Folgenden stellvertretend für die anderen Kapitel ausführlicher eingegangen wird.

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Ich und Anderer

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Es beginnt mit einer phänomenologischen Meditation im Stil Husserls. Ihr Ziel ist die Bestimmung dessen, was ästhetische Tätigkeit ist. Ausgangspunkt von Bachtins Meditation ist nicht etwa ein Kunstwerk, sondern der Umgang des Ich mit einem Anderen. In dieser Beziehung zwischen Ich und Anderem gibt es nach Bachtin immer einen kognitiven »Überschuss« (S. 77). Ich sehe den Anderen aus einer bestimmten Perspektive, aus der er sich selbst nicht sieht. Diese Beziehung bezeichnet Bachtin auch mit dem Schlüsselausdruck »Außerhalbbefindlichkeit« (russ. vnenachodimost’). Im nächsten Schritt stellt Bachtin fest – und hier verlässt er zwischenzeitlich das meditative Vorgehen –, dass diese Überschuss-Beziehung durch die menschliche Erkenntnistätigkeit aufgehoben wird. Denn Erkenntnis zielt nach Bachtin auf intersubjektiv nachvollziehbare, relative bzw., wie er es nennt, »umkehrbare« Beziehungen ab. Doch genau aus diesem Grund entgehe der – man kann hinzufügen: rationalen – Erkenntnis die unumkehrbare Komponente der Beziehung zwischen Ich und Anderem, nämlich eben die besagte unhintergehbare (wechselseitige) Außerhalbbefindlichkeit. Gemeint ist damit so viel wie Subjektivität. 3 Diese untersucht Bachtin zunächst in ihren räumlichen Bedingungen.

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Ästhetisch sind für Bachtin nun solche Handlungen, »die aus dem Überschuss meines äußeren und inneren Sehens des anderen Menschen resultieren« (S. 79). Damit verankert Bachtin ästhetische Erlebnisse im sozialen Miteinander. Zugleich positioniert er die Ästhetik in Konkurrenz zur Epistemologie, deren (für ihn) unzureichende Ergebnisse sie kompensieren soll. Bachtin befindet sich damit auf der Seite all jener Denker, die das irrationale (religiöse, esoterische, mystische, ästhetische) Unbehagen am rationalen, wissenschaftlichen Welt- und Menschenbild selbst rationalisieren wollen. Ein weiteres Charakteristikum von Bachtins Ansatz ist, dass er das Ästhetische nicht im Gegenstand sucht, sondern es als Handlung, als Prozess und Ereignis versteht. (Der Untertitel gibt daher besser Auskunft über das Programm als der Obertitel.) Und schließlich ist für ihn das Ästhetische eine relationale Kategorie, die nicht unabhängig von den Beziehungen zwischen Schöpfer, Betrachter und Dargestelltem erklärt werden kann. 4

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Der Leib

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Bachtins Relationismus in der Ästhetik könnte man daher als Ausweg auffassen, der sich ihm in der diskursiven Sackgasse des Subjektivismus auftut. Die auf der fundamentalen Subjektivität oder Außerhalbbefindlichkeit gründende ästhetische Tätigkeit legt er auf drei Momente fest: das Sicheinleben (S. 79–90), das Erleben von äußeren Grenzen (S. 91–97), die äußeren Taten in der räumlichen Welt (S. 97–101). Das Moment des Sicheinlebens verhält sich zur Außerhalbbefindlichkeit komplementär. Reines Sicheinleben, z. B. beim Sichidentifizieren mit dem Helden, wie es »ungebildete Menschen ohne Kunstverstand« laut Bachtin tun (S. 83), ist noch keine ästhetische Tätigkeit. Es ist aber ein notwendiger Bestandteil, der durch die aus der Außerhalbbefindlichkeit resultierende Ergänzung durch den Autor oder Rezipienten zum Abschließen (russ. zaveršenie) führt. 5 Die eigentliche ästhetische Tätigkeit setzt nach Bachtin erst dann ein, wenn man sich in den Anderen hineinversetzt hat und zu seinem eigenen Standpunkt zurückkehrt. Man sieht den Anderen nun von außen und ergänzt diese Außenperspektive, vervollständigt das Bild des Anderen, indem man auch den räumlichen Hintergrund hinzuzieht, und bringt es auf diese Weise zum Abschluss. Die Momente des Sicheinlebens, des Grenzenerlebens und des äußeren Handelns markieren für Bachtin die räumlichen Bedingungen der Außerhalbbefindlichkeit.

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Die Komponenten der allgemeinen ästhetischen Tätigkeit im Wechselverhältnis von Ich und Anderem, die er auch in Akten (nicht-sexueller) Liebe erblickt (S. 96 f.), überträgt Bachtin auf die ästhetische Wahrnehmung im engeren Sinne. Dabei entspricht der Andere dem Helden, also z. B. einer literarischen Figur, und das Ich dem Autor oder dem Rezipienten. Bachtins Kunstverständnis ist damit gewissermaßen anthropozentrisch, wie er selbst an verschiedenen Stellen hervorhebt (S. 57, 248). Entsprechend wenig konnte er mit der russischen Avantgarde in Literatur und bildender Kunst anfangen, die in ihrer Ungegenständlichkeit für ihn lediglich experimentellen Charakter hatte (vgl. auch S. 253).

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Im fünften Abschnitt des 3. Kapitels versucht Bachtin die drei Momente der ästhetischen Tätigkeit im Begriff werthafter Leiblichkeit zu integrieren und auf die christlich-abendländische Tradition zu beziehen. Bachtins Synthese stützt sich auf den Wertbegriff, der in der zeitgenössischen Philosophie des Neukantianismus entwickelt wurde. Sie besteht ungefähr in der Überlegung, dass diejenigen Erfahrungen, die Kandidaten für ästhetische Erfahrungen sind, zuallererst körperliche Erfahrungen sind, die immer schon mit Wertungen versehen sind. Dabei unterscheidet er zwischen innerem und äußerem Leib, also leiblichen Empfindungen aus der Innenperspektive und der Wahrnehmung fremder Leiber (auch des eigenen als fremden, äußeren Leibs). In der Wechselwirkung der Eigen- und Fremdwahrnehmung des Leibes und ihrer dadurch bedingten unterschiedlichen Wertung erblickt Bachtin das Fundament der ästhetischen Tätigkeit. In der ästhetischen Wahrnehmung, konzipiert als Tätigkeit, steckt somit immer ein Doppeltes: Innen- und Außenperspektive, Eigen- und Fremdwahrnehmung. In Bachtins Worten: »Der innere Leib des Helden wird von seinem für den Anderen, für den Autor äußeren Leib umfasst und durch seine wertorientierte Reaktion ästhetisch verdichtet« (S. 116).

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Im sechsten Abschnitt folgt eine kritische Auseinandersetzung mit der von Bachtin sogenannten Ausdrucksästhetik (S. 117–154). Darunter versteht er psychologische Ästhetiken der Einfühlung bzw. Nachahmung (Volkelt, Lipps, Groos u. a.), die er für einseitig hält und daher ablehnt. Ihr stellt er die Eindrucksästhetik (die Formästhetik Hanslicks, Fiedlers, Riegls) gegenüber, die er ebenfalls für einseitig hält, aber nur am Rande erwähnt (S. 154). Die Erörterung der Ausdrucksästhetik und die Kritik an ihr sind für das Verständnis dessen, was Bachtin vorschwebt, recht instruktiv. Denn in der Konfrontation mit der Einfühlungsästhetik kann er sein Konzept der Außerhalbbefindlichkeit noch weiter schärfen. Ästhetisch wird ein Erlebnis nicht im Nacherleben, sondern in der, modern gesprochen, Kontextualisierung des dargestellten Erlebnisses. Tragisch sind Ödipus’ Erlebnisse nicht an und für sich, sondern erst vor dem Hintergrund, der Ödipus’ Sicht übersteigt (S. 126 f.). Diese dialektische Komponente fehlt nach Bachtin der bisherigen Ästhetik, deren Elemente jeweils als voneinander unabhängige Einheiten gedacht werden. »Das ästhetische Bewusstsein [Bachtins] hingegen – das liebende und den Wert voraussetzende Bewusstsein – ist Bewusstsein von einem Bewusstsein, das Bewusstsein des Autor-Ich vom Bewusstsein des Helden, des Anderen« (S. 146).

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Die Seele

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Was Bachtin im dritten für den Leib geleistet hat, versucht er im vierten Kapitel für die Seele auszuführen. Der Begriff der Seele entspricht der zeitlichen Bestimmung des Helden. Zentral für die Seelenbeziehung von Ich und Anderem ist der Begriff des mitfühlenden Verstehens. Auch hier geht es wiederum nicht um Selbstaufgabe im Anderen bzw. pures Nacherleben des Anderen, sondern um eine Verlagerung und Ergänzung, ein In-Beziehung-Setzen zum eigenen Ich:

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Mitfühlendes Verstehen ist kein Abkupfern, sondern eine prinzipiell neue Bewertung, die Ausnutzung des eigenen architektonischen Standortes im Sein außerhalb des inneren Lebens des Anderen. Das mitfühlende Verstehen restituiert den gesamten inneren Menschen in ästhetisch liebevollen Kategorien für ein neues Sein auf einer neuen Ebene der Welt. (S. 166)
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Seelische Vorgänge, die Bachtin nicht als psychologische versteht, werden vom Selbstbewusstsein und vom Bewusstsein des Anderen geformt. Exemplarisch geht er auf die Erfahrung von Geburt und Tod ein, die Grenzen des Lebens, von denen man nur durch Perspektivwechsel eine Ahnung bekommen kann. Das Ganze des Lebens ist somit für Bachtin nur unter Rückgriff auf Fremderfahrung fassbar. Das Ich allein ist immer unzureichend.

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Der Sinn

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Mit dem Sinn führt Bachtin eine nach Raum und Zeit dritte Dimension »künstlerischer Weltsicht« ein (S. 200). Im »Das Sinnganze des Helden« überschriebenen fünften Kapitel erörtert Bachtin eine Reihe von Konzepten, die für ihn die Sinndimension der Beziehung von Autor und Held, Ich und Anderem markieren: Akt (im Sinne von Handlung), Beichte, Autobiographie, Biographie, lyrischer Held, Charakter, Typ und Vita. Die Heterogenität dieser Konzepte macht es zuweilen schwer, Bachtin zu folgen. Er versteht sie als ideale Grenzbegriffe, als »Formen des Sinnganzen des Helden«, die »nicht mit konkreten Werkformen identisch« sind (S. 247). Jedes einzelne Konzept untersucht Bachtin im Hinblick auf die Anteile von Autor und Held. Die Beichte z. B. entbehrt sowohl des einen wie des anderen (S. 208). Sie wäre damit nicht ästhetisch. Sie wird es erst, wenn sie im Kontext etwa eines Romans in eine übergeordnete Autor-Held-Struktur eingebettet ist. In der Biographie dominiert der Held den Autor, in der Lyrik umgekehrt der Autor den Helden.

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Das letzte Kapitel, »Das Problem des Autors« 6 , enthält u. a. eine kurze Auseinandersetzung mit den russischen Formalisten (Boris Ėjchenbaum, Viktor Šklovskij), ohne sie freilich beim Namen zu nennen. Sie klärt über den fundamentalen Unterschied zwischen beiden Ansätzen auf, denn Bachtin lehnt gerade die formalistische Loslösung spezifisch-künstlerischer Elemente von ihrer Referenz ab. Während für Šklovskij ästhetisch wahrnehmbar ist, was sich von der Routine abhebt (durch Verfremdung, durch lautliche, stilistische Widerständigkeit usw.), setzt nach Bachtin ästhetische Wahrnehmbarkeit die Referenz auf das Leben voraus (S. 259). M. a. W.: Kunst wird nicht gemacht, sie passiert. Und das heißt auch: Kunst, die aus Kunst entsteht, ist für Bachtin keine Kunst, sondern leere Attitüde.

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Fazit 1

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Die grundlegende Idee, den Kern ästhetischer Tätigkeit in der wechselseitigen Komplettierung von Ich- und Fremderfahrung zu sehen, wiederholt Bachtin ein ums andere Mal. Er unterfüttert diese Idee mit phänomenologischen Betrachtungen dieser Erfahrung. Aber eine nähere Begründung erfährt die Idee nicht; sie bleibt ein Postulat, dem man sich anschließen kann (wenn man ähnliche Gefühle hat) oder eben nicht (wenn man Bachtins Zugang zu ästhetischen Phänomenen nicht teilt). In der Geschichte der Ästhetik zählt Bachtin somit zu jenen, die Ästhetisches in letztlich außerästhetischen Phänomenen fundieren. Diese Strategie läuft auf zwei Konsequenzen hinaus: Entweder das Ästhetische wird auf Außerästhetisches reduziert oder außerästhetische Phänomene, wie Bachtins liebevolle Zuneigung, werden durch die Theorie ästhetisiert. Diese Konsequenzen wirken nicht auf jedermann abschreckend, wie die Konjunktur Bachtinscher Ideen in den letzten Jahrzehnten zeigt. Mit dem vorliegenden Band können nun auch deutsche Leser die Genese dieser Ideen in Auseinandersetzung mit heute fast vergessenen philosophischen Ansätzen aus der Zeit nach der Wende des 19./20. Jahrhunderts nachverfolgen. Unabhängig davon, ob man Bachtins Überlegungen auf den Rahmen der Ästhetik festlegt, sind sie von nicht geringem Interesse für die Sozialphilosophie. Es wäre zu begrüßen, wenn die hierzulande viel zu wenig wahrgenommene russische Philosophie der Jahrhundertwende im Zuge dieser Übersetzung stärkere Beachtung finden würde.

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Chronotopos

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Der Buchtitel mit dem so eingängigen wie rätselhaften Fremdwort ist eigentlich ein Kurztitel, der für Bachtins ursprünglichen Titel steht: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Entstanden in den Jahren des Großen Terrors 1937/38 und um ein Kapitel mit Schlussbemerkungen aus dem Jahr 1973 erweitert, erschienen die Untersuchungen erst 1975, im Jahr von Bachtins Tod, in einem Band mit bis dahin unveröffentlichten Schriften. 7 Die deutsche Übersetzung kam 1986 im Aufbau-Verlag im Rahmen einer Bachtin-Anthologie heraus. 1989 wurde der Text vom Fischer-Verlag in einem eigenen Band publiziert. 8 Beide Bände sind vergriffen und schwer zu bekommen. Die Neuauflage ist also angesichts des ungebrochenen Interesses an Bachtin ein überfälliges Unterfangen.

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Mit der Angabe, dass es sich um »Untersuchungen zur historischen Poetik« handele, nimmt Bachtin Bezug auf eine Forschungstradition der russischen Literaturwissenschaft, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. Ihr Begründer Aleksandr N. Veselovskij (1838–1906) begriff darunter eine Entwicklungsgeschichte der Literatur und vertrat die Ansicht, dass sich literarische Formen und Stoffe in jeder Epoche mit neuen Inhalten bzw. Bedeutungen füllen. Literatur war für ihn ein Teil des »gesellschaftlichen Denkens im bildlich-poetischen Erleben und den dieses ausdrückenden Formen«. 9 Veränderte Lebensbedingungen führten nach Veselovskij zu jeweils neuen Inhalten. Mit dieser historischen Betrachtungsweise und der Idee gesellschaftlicher Bedingtheit im weiteren Sinne wurde Veselovskij interessant für die marxistisch-leninistische Literaturwissenschaft. Die Altphilologin Ol’ga Frejdenberg, erste Professorin in der UdSSR, knüpfte ebenso an Veselovskij an, wie der Germanist Viktor Žirmunskij die Gelegenheit nutzte und 1940 die bis heute kanonische Ausgabe mit Schriften Veselovskijs herausgab. 10 Dieser Hintergrund ist in Rechnung zu stellen, wenn man Bachtins Schrift historisch einordnen will. Bachtin war inzwischen aus der kasachischen Verbannung über Saransk nach Savelovo an der oberen Wolga gekommen und versuchte mit dieser Schrift an die aktuelle Debatte in der sowjetischen Literaturwissenschaft anzuknüpfen. 11

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Doch unterscheidet sich Bachtins Ansatz fundamental von Veselovskijs ursprünglichem Programm. Denn es geht Bachtin ausdrücklich nicht um genetische (S. 9, 87, 95), sondern um typologische Fragen, die er anhand von Exempeln aus der abendländischen Literaturgeschichte, angefangen beim griechischen Roman bis hin zu Rabelais, diskutiert. Ziel seiner Untersuchung ist es, die künstlerische »Aneignung« (S. 7), d. h. die besondere Implementierung von Raum und Zeit im Roman zu beschreiben. Eben hierfür prägt er den Begriff des Chronotopos, wobei er mehrfach betont, dass die Komponente der Zeit in der Literatur dominiert (S. 8, 9).

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Verschiedene Chronotopoi

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Infolgedessen sind es denn vor allem die zeitlichen Beziehungen, die im Mittelpunkt von Bachtins Untersuchung stehen. Im griechischen Roman macht Bachtin (am Beispiel von Leukippe und Kleitophon des Achilleus Tatios) eine besondere Zeitgestaltung aus, die er »Abenteuerzeit« nennt (S. 10). Charakteristisch hierfür sei, dass die Abenteuer, die die Helden erleben, sie nicht altern ließen und überhaupt keine Auswirkungen auf ihre Gestaltung hätten. Der Zustand der Helden (wie der Romanwelt überhaupt) vor den Abenteuern sei nicht anders als der Zustand danach. Die Abenteuer selbst würden ausschließlich vom Zufall regiert, wofür Bachtin auch sprachliche Daten anführt, nämlich die Häufung von Adverbien wie »plötzlich« usw. Die Verbindung von Raum und Zeit beschreibt Bachtin darüber hinaus als mechanisch (und nicht organisch). Damit ist gemeint, dass die Dinge, die die Abenteuerwelt bereithält, isoliert nebeneinander stehen und allein durch ihre Fremdartigkeit (für die Helden) ausgezeichnet sind.

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Der Abenteuerzeit des Prüfungsromans stellt Bachtin die Alltagszeit des »abenteuerlichen Alltagsroman[s]« (S. 36) gegenüber, die er anhand von Apuleius’ Goldenem Esel beschreibt. Den zweiten Terminus wählt Bachtin, um deutlich zu machen, dass in diesem Typ das Moment des Abenteuers aufgenommen, aber mit einer anderen – neuen – Komponente verschränkt wird, was zu einer Modifikation, mithin zu einem neuen Chronotopos führt. Denn Gegenstand des Goldenen Esels sei gerade der Lebensweg des Helden Lucius, dessen Ziel (Zustand nach den Abenteuern) sich von seinem Ausgangspunkt (Zustand davor) unterscheidet. Die Veränderung geschieht durch eine Metamorphose (die Verwandlung in den Esel); zugleich »verschmilzt der eigentliche Lebensweg mit dem realen Weg des Wanderns und Umherirrens« (S. 37, Bachtins Herv.). Hier gehen Raum und Zeit nach Bachtin bereits eine organische Verbindung ein. Bachtin macht auch hier viele Zufälle aus, die die Abfolge der Handlung regeln; doch seien sie in einen übergeordneten Rahmen eingebettet, weil »das erste Glied der Abenteuerreihe nicht vom Zufall, sondern vom Helden und dessen Charakter bestimmt« werde (S. 42). Dieser Rahmen ist demnach die Persönlichkeit des Helden. Durch die Verwandlung in den Esel gerät Lucius in die Position eines in das Geschehen äußerlich (als Esel) involvierten, aber letztlich (als Lucius) unbeteiligten Zuschauers. Die Situationen bzw. Abenteuer, die er erlebt, haben nach Bachtin sämtlich privaten Charakter, was er als weiteren Gegensatz zum griechischen Roman bestimmt. Die Alltagszeit selbst (also das, was Lucius als Esel erlebt und beobachtet) hält er jedoch für statisch, da sie in keiner Beziehung zu Lucius’ eigener Zeit steht.

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Genau in diesem Merkmal unterscheidet sich Bachtins dritter Typ von den beiden vorangegangenen Typen, die biographische Zeit, mit der Bachtin zufolge in der Antike wiederum ein neues Menschenbild einhergeht, das er hauptsächlich mit den Kategorien öffentlich vs. privat spezifiziert. Den Chronotopos der biographischen Zeit – das schreibt Bachtin jedoch nicht ausdrücklich – scheint er vor allem im neuzeitlichen Bildungsroman realisiert zu sehen. 12 In der Antike entdeckt er lediglich einige Ansätze, die er in verschiedene Subtypen unterteilt. In der griechischen Literatur unterscheidet er zunächst (a) die platonische von (b) der rhetorischen (Auto)Biographie, deren Vertreter die Apologie des Sokrates (a) und das Enkomion in der Form der Verteidigungsrede des Isokrates (b) sind. Ihr Spezifikum sieht Bachtin im öffentlichen Charakter der Darstellung eines Lebens. Die Griechen hätten die Unterteilung in Privates und Öffentliches nicht gekannt, und daher sei das Menschenbild der griechischen Antike ganzheitlich. In der römischen Antike zeigen sich Bachtin zufolge bereits die ersten Auflösungserscheinungen dieser Einheit und Ganzheit, und zwar in der Ironisierung der »Selbstcharakteristiken in Versen bei Horaz, Ovid und Properz«, das Aufkommen des Freundesbriefes mit seinem Gestus der Intimität und Privatheit sowie die Entstehung von Tröstungen und Bekenntnissen bei Cicero, Seneca, Marc Aurel, Augustinus u. a. (S. 70–72).

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Diese Beobachtungen bezieht Bachtin in einem kurzen Überblick auf die Literatur des Mittelalters, wobei er auf Kontinuitäten (Chronotopos der Abenteuerzeit im Ritterroman) und Diskontinuitäten (Plötzlichkeit und Zufall seien keine Störgrößen, sondern integraler Bestandteil der wunderbaren Welt im Ritterroman als Darstellung von Ruhmeswegen) hinweist.

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Rabelais

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Das kurze Kapitel über den Ritterroman, in dem er auch auf Dantes Göttliche Komödie eingeht, sowie eine Betrachtung der »Funktionen des Schelms, des Narren und des Tölpels« (S. 87) dienen der Vorbereitung eines längeren Abschnitts über Rabelais, in dem Bachtin mit merklicher Begeisterung die besondere Stellung von Gargantua und Pantagruel in der Geschichte des europäischen Romans zu begründen versucht. 13 Der Renaissanceroman ist nach Bachtin für den Roman das, was die geographischen, astronomischen und mathematisch-physikalischen Entdeckungen für das neuzeitliche Weltbild sind. Die beiden Kapitel über Rabelais unterscheiden sich auch methodisch von den vorangegangenen Kapiteln, denn Bachtin analysiert den Roman in sieben thematischen Reihen (Körperbeschreibungen, Kleidung, Essen, Trinken/Trunksucht, Geschlechtsleben, Tod und Ausscheidungen) und gibt ausführliche Zitate. Seine leitende Annahme ist dabei die, dass Rabelais’ Roman die Trümmer des mittelalterlichen Weltbilds wieder neu zusammenfügt. Der zerstörten Geschichtskonzeption des Mittelalters, in der die Zeit im Jenseits aufgelöst wurde, stellt Rabelais mit seiner hyperbolischen Phantastik, die nach Bachtin auf dem Prinzip des Wachsens fußt, ein neues Raumzeitgefühl entgegen, das ausgesprochen diesseitig ist.

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Im anschließenden Kapitel über die »folkloristischen Grundlagen des Rabelaisschen Chronotopos« bezieht Bachtin seine Befunde auf die zeitgenössischen ideologischen Debatten: Rabelais’ Roman als progressive Reaktion auf die Feudalgesellschaft. Diese Ausführungen fallen aus dem bisherigen Duktus heraus, denn Bachtin spekuliert hier viel über das Lebensgefühl der Vorklassengesellschaft. Damit greift er den zeitgenössischen sowjetischen Diskurs auf, der von der Synchronisierung von Literatur- und Sprachgeschichte mit dem marxistischen Geschichtsverständnis geprägt ist. 14

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Nachbarschaft und Sublimierung

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In diesen Kapiteln führt Bachtin zwei neue Begriffe ein, von denen er intensiv Gebrauch macht: Nachbarschaft und Sublimierung. Der Begriff der Nachbarschaft (russ. sosedstvo) bezieht sich auf den in der russischen Literaturwissenschaft üblichen Reihenbegriff und schließt zwei Elemente einer Reihe ein, die im Text und daher auch im Chronotopos miteinander verbunden sind. Rabelais’ Kunst zeichnet sich durch das Aufbrechen alter Nachbarschaften und die Etablierung neuer Nachbarschaften (bzw. die Aufdeckung tabuisierter Nachbarschaften) aus. Sublimierungen sieht Bachtin dort, wo – wie in literarischen Idyllen – einzelne Motive als Überbleibsel alter Chronotopoi zu deuten sind. So seien in der Familienidylle »Kinder oft eine Sublimierung des Geschlechtsaktes und der Empfängnis, gepaart mit Wachstum, Lebenserneuerung und Tod« (S. 163).

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Bachtins allgemeine Vorstellung von der Entwicklung sieht ungefähr folgendermaßen aus: Die Vorklassengesellschaft sei durch Ganzheitlichkeit gekennzeichnet, da die grundlegenden Lebensfunktionen (die ungefähr den genannten thematischen Reihen in Rabelais’ Roman entsprechen) noch unmittelbar nebeneinander, »nachbarschaftlich«, existieren. Das Aufkommen der Klassengesellschaft mit ihren Ideologien führt Bachtin zufolge zur Sublimierung (d. h. so viel wie Tabuisierung) dieser Nachbarschaften, und erst Rabelais entwirft wieder eine ganzheitliche Welt, in der auch das Innerste nach außen gekehrt ist und die alten Nachbarschaften völlig unsublimiert zu erkennen sind. Auf Rabelais folgt wiederum eine Welle der Sublimierung, wie Bachtin eben am Beispiel der Idylle zu zeigen versucht.

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Fazit 2

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Bachtin zieht eine erstaunliche Materialfülle als Grundlage für seine Thesen heran. Immer wieder versucht er Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Romanentwicklung aufzuzeigen. Am überzeugendsten gelingt ihm dies in den ersten Kapiteln bzw. in jenen Abschnitten, in denen er sich auf ein überschaubares Inventar an Begriffen beschränkt und diese aufeinander bezieht. Auch in den späteren Kapiteln zeigt Bachtin große Linien auf, die die Romanentwicklung durchziehen. Das ist immer anregend, immer bedenkenswert. Ob es auch zutrifft, müssen die zuständigen Spezialisten entscheiden. Der Begriff des Chronotopos bleibt indes auf der Strecke. Spätestens wenn Bachtin sich den verschiedenen Reihen bei Rabelais zuwendet, verwandelt sich seine Untersuchung in eine Motivgeschichte, in der der Begriff des Chronotopos nur noch sporadisch aufscheint. Dass der Begriff selbst alles andere als wohldefiniert ist, braucht man in diesem Zusammenhang gar nicht zu betonen. Das war gewiss nicht Bachtins Stärke. Immerhin hat er damit einen Begriff geprägt, dessen Potential noch immer nicht ausgelotet ist. Beide Bände, Autor und Held wie Chronotopos, geben nun die Möglichkeit, Bachtins Ideen als Quell der Inspiration zu nutzen, aber auch zu sehen, dass die Kategorien ›Raum‹ und ›Zeit‹ ihn schon zu Beginn seines Schreibens in der Strukturierung seiner Welt- und Kunstauffassung leiteten.

 
 

Anmerkungen

Auszüge erschienen in einer Übersetzung in: Kunst und Literatur. Sowjetwissenschaft 37 (6), 1979, S. 760–781 (Angabe nach Bachtin, Autor und Held, S. 269). Eine ebenfalls reich kommentierte englische Übersetzung liegt schon seit Längerem vor. Vgl. Mikhail Bakhtin: Art and Answerability. Austin 1990.   zurück
Während Ulrich Schmid in seinem Vorwort das Werk in den historischen Zusammenhang einordnet. Eine Rekonstruktion, die Bachtins oft widersprüchliche Ideen zu systematisieren versucht, bietet Matthias Freise: Michail Bachtins philosophische Ästhetik der Literatur. Frankfurt/M. 1993.   zurück
Die Pointe von Bachtins Philosophie ist, dass er Subjektivität im Spannungsfeld von Ich und Anderem verortet. Später verwahrt er sich explizit gegen einen »üblen, partikulären Subjektivismus« (S. 164).   zurück
Damit befindet sich Bachtin sicherlich auf der Höhe der Zeit – oder noch höher. Prozessualität und Relationalität (die er bald zum Konzept der Dialogizität weiterentwickelt) sind seine progressiven Ideen. Ausgesprochen veraltet erscheint einem dagegen die Kategorie des Anschauens oder Sehens (russ. vídenie), die dem Konzept der Außerhalbbefindlichkeit außerdem zugrunde liegt. Wie so häufig bei Bachtin changiert allerdings auch dieser Begriff: Neben Anschauung im engeren Sinne bedeutet er auch künstlerische Weltsicht (S. 56), die nach Bachtin die wissenschaftliche Sicht ergänzt – oder ihr gar überlegen ist.   zurück
Das Abschließen ist ein Schlüsselbegriff Bachtins, der im Frühwerk noch zu den Bedingungen des Ästhetischen zählt. Später jedoch ist für Bachtin das Abgeschlossene gerade ein Charakteristikum des Monologischen, also des für Bachtin ästhetisch und ethisch Zweitrangigen bzw. Zweifelhaften.   zurück
Auch dieses Kapitel wurde bereits in einer anderen Übersetzung veröffentlicht in: Kunst und Literatur. Sowjetwissenschaft 26 (1978), S. 265–279,   zurück
In: M. M. Bachtin: Voprosy literatury i ėstetiki. Moskva 1975.   zurück
In: M. M. Bachtin: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Berlin/Weimar 1986, S. 262–464. M. M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt/M. 1989.   zurück
A. N. Veselovskij: »Iz vvedenija v istoričeskuju poėtiku« [Aus der Einführung in die historische Poetik (1893)]. In: A. N. V.: Istoričeskaja poėtika. Moskva 1989, S. 42–58, hier: S. 42.    zurück
10 
O. M. Frejdenberg: Poėtika sjužeta i žanra. Leningrad 1936. Vgl. hierzu: Nina Braginskaja: »O rabote O. M. Frejdenberg ›Sistema literaturnogo sjužeta‹«. In: Tynjanovskij sbornik. Vtorye Tynjanovskie čtenija. Riga 1986, S. 272–283. Annette Kabanov: Ol’ga Michajlovna Frejdenberg (1890 – 1955). Eine sowjetische Wissenschaftlerin zwischen Kanon und Freiheit. Wiesbaden 2002. A. N. Veselovskij: Istoričeskaja poėtika. Leningrad 1940.   zurück
11 
Hier wurde gerade zu dieser Zeit dem an chronischer Osteomylitis leidenden Bachtin das rechte Bein amputiert. Vgl. Katerina Clark / Michael Holquist: Mikhail Bakhtin. Cambridge/Mass. 1984, S. 261.   zurück
12 
Ein in den Kriegsjahren verloren gegangenes Manuskript, von dem nur wenige Fragmente erhalten geblieben sind, war dem Bildungsroman gewidmet. Vgl. Clark/Holquist (wie Anm. 11), S. 272 f.   zurück
13 
Man kann Chronotopos daher auch als Vorstudie zu Rabelais und seine Welt auffassen, das etwa zeitgleich entstand, aber erst 1965 (dt. 1987) publiziert wurde.   zurück
14 
Vgl. das Buch von O. Frejdenberg (wie Anm. 10) und die sprachgeschichtlichen Arbeiten von Nikolaj Marr.   zurück