IASLonline

Scheitern auf hohem Niveau

Mediengewalt diskursanalytisch betrachtet

  • Isabell Otto: Aggressive Medien. Zur Geschichte des Wissens über Mediengewalt. (Formationen der Mediennutzung 4) Bielefeld: transcript 2008. 340 S. Kartoniert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-89942-883-4.
[1] 

Isabell Otto hat mit ihrer Kölner Dissertation eine innovative Studie vorgelegt, die versucht, von alt hergebrachten Schemata der Debatten um mögliche schädigende Wirkungen medialer Gewaltdarstellungen wegzukommen. Es geht ihr nicht selbst um empirische Wirkungsforschung, sondern sie nimmt diese auf einer Metaebene in den Blick. Der Diskurs über Mediengewalt wird dabei »als kulturelle Objektivation verstanden, die entscheidend dazu beiträgt, Medien und Mediennutzung in gesellschaftlich relevanter Weise zu bestimmen« (S. 12). Otto geht davon aus, dass mit Mediengewalt Vorstellungen verknüpft sind, die die sozialen Einstellungen zu Medien und deren Nutzung prägen.

[2] 

Damit eine solche Regulierung auf Dauer gestellt werden kann, muss nach Otto der Mediengewaltdiskurs in der Schwebe gehalten werden: die Unsicherheit der Diagnose hat für sie System. Denn nur so kann einerseits das wissenschaftliche Versprechen auf zukünftige Lösungen weitere Forschungsförderung ermöglichen, auf der anderen Seite kann ohne eine valide empirische Basis (à la ›Nichts Genaues weiß man nicht‹) ein gesellschaftlicher Regelungsbedarf aufrecht erhalten werden. Das symbiotische Verhältnis von Forschung und Gesellschaft sieht sie vor allem in dem Umstand gegeben, dass die Medienwirkungsforschung mit moralischen Implikationen operiert und auf diese Weise zur Regulierung von Mediennutzung beiträgt. Das verbreitete Bild von einem strikt getrennten Gegenüber von wissenschaftlich-rationaler (Medienwirkungs-)Forschung und moralisch-emotionalen öffentlichen Debatten hält Isabell Otto für falsch. Deshalb richtet sich ihre Aufmerksamkeit generell auf Praktiken moralischer Regulierung von Mediengewalt. Ihre Grundannahme lautet entsprechend: »Die diskursiven Praktiken, die sich um die Formel ›Mediengewalt‹ gruppieren, so die zentrale Hypothese, die im Verlauf der vorliegenden Studie geklärt werden soll, fordern den Mediennutzer zur autonomen Regulierung seines eigenen Verhaltens auf.« (S. 12 f.)

[3] 

Der Untersuchungsbereich bestimmt sich wie folgt: »Die Analyse einer Regulation von Mediengewalt wird in diskursiven Appellen identifiziert, die Mediennutzer zur Selbstregierung auffordern.« (S. 30)

[4] 

Zur Untersuchung der zentralen Hypothese bedient sich Otto eines diskursanalytischen Zugangs. Die Analyse von Diskurspraxen, Regeln und Formationen geraten ins Blickfeld, wobei es immer um ein wissenschaftshistorisches Erkenntnisinteresse geht und nicht um eine neue Antwort auf alte Fragen zur Mediengewalt.

[5] 

Die zentralen Begriffe ›Kurzschlussformel Mediengewalt‹, ›aggressive Medien‹ und ›Regierung‹

[6] 

Zur Argumentationsführung bedient sich die Arbeit einiger zentraler Begriffe, die hier kurz angesprochen werden, da sie erklärungsbedürftig sind.

[7] 

So bezeichnet Otto Mediengewalt als eine ›Kurzschlussformel‹, weil es nur vorgeblich um mediale Gewaltdarstellungen geht. Mit dem Begriff schwingt immer schon eine unterstellte Wirkung solcher Darstellungen mit. Für Otto bildet Mediengewalt demnach einen Prozess, in dem es um Zuschreibungen geht:

[8] 
Was Mediengewalt ist, wird immer nur punktuell ausformuliert, der Diskurs kommt nie zu einer eindeutigen und längerfristig stabilen Bestimmung darüber, ob ein Zusammenhang – und wenn ja, welcher – zwischen der medialen Gewaltdarstellung und der sozialen Gewalt besteht. Mediengewalt ist außerhalb des Diskurses nichts als eine diffuse Unterstellung. Innerhalb des Diskurses behauptet die Formel in mehr oder weniger starkem Sinne eine Wirkung der Medien und stabilisiert damit das aporetische Kausalitätsmodell der sozialwissenschaftlichen Wirkungsforschung. (S. 34)
[9] 

Neben medialer und sozialer Gewalt spricht die Studie mit ›aggressiven Medien‹ einen dritten Aspekt von Gewalt an, der Medien unabhängig von der Darstellungsebene im Diskurs zugeschrieben wird. Eine klare Definition wird diesem Begriff nicht beigegeben. Es findet sich für dieses ›leitende Konzept‹ (S. 27) eine diffuse Umschreibung: »›Aggressive Medien‹ soll einerseits auf die – chemischen Substanzen analoge – Fähigkeit zu einer schnellen und heftigen Wirkung verweisen, andererseits auf die Potenzialität von Mediengewalt, also einer schädlichen Wirkung auf den Mediennutzer, referieren.« (S. 27; Herv. i. O.)

[10] 

Der dritte zentrale Begriff ›Regierung‹ bzw., synonym verwendet, ›Regulation‹ und ›Regulierung‹ verortet sich im Umfeld von Foucault und den Arbeiten zur Gouvernementalität. ›Regierung‹ wird dabei als ein »Prozess verstanden, der sich nicht auf den engeren staatspolitischen Bereich begrenzt, sondern Praktiken des Regierens in unterschiedlichen – pädagogischen, wissenschaftlichen oder ökonomischen – Feldern umfasst« (S. 12).

[11] 

An anderer Stelle wird der Begriff der Regulation bezogen auf Mediengewalt näher ausgeführt:

[12] 
Regulation von Mediengewalt, wie sie in der vorliegenden Studie verstanden wird, impliziert Verfahren der Formation, verweist also nicht nur auf Prozesse der Zähmung, sondern hat auch einen produktiven Anteil. Wenn Mediengewalt reguliert wird, wird sie gleichzeitig formiert, und sie wird ihrerseits zu einem Verfahren, das Medien und Mediennutzer auf eine spezifische Weise sichtbar macht und damit zuallererst herstellt. (S. 28; Herv. i. O.)
[13] 

Ziel der Arbeit

[14] 

Die drei erwähnten Begriffe deuten bereits an, worum es in dieser Arbeit im Kern geht. Im bestehenden Diskurs um mediale Gewaltdarstellungen sieht Isabell Otto trotz aller Disparatheit der verschiedenen Positionen bei allen Beteiligten ein gemeinsam akzeptiertes Wissen am Werk: »Könnte der Beweis erbracht werden, dass Medienkonsum aggressiv und gewalttätig macht, oder könnte das Gegenteil wissenschaftlich belegt werden, dann wäre die Antwort gefunden und die Jahrtausende währende Debatte endlich stillgestellt.« (S. 26)

[15] 

Um dieses Wissen zu erschüttern (oder vielleicht auch nicht, das wird nicht ganz klar, denn die Suche nach entsprechenden Antworten soll gerade nicht als »sinnloses Unterfangen« (S. 12) entlarvt werden), also dann, milder ausgedrückt, um dieses Wissen zu hinterfragen, soll der wissenschaftliche Beweis selbst auf den Prüfstand gelegt werden:

[16] 
Diese allgemeingültige Akzeptanz des Medien-Gewalt-Diskurses, diese Diskursregel, lässt sich nur kritisch beobachten, wenn die Unschuld der empirisch gemessenen Mediengewalt selbst infrage gestellt wird, ihre anerkannte Objektivität als historische Gewordenheit ausgewiesen und damit einerseits ihre Kontingenz herausgestellt und sie andererseits als Produkt einer spezifischen Machtkonstellation ausgewiesen wird. Dies ist das Vorhaben der vorliegenden Untersuchung. (S. 26; Herv. A.B.)
[17] 

Insofern kehrt sich in der Studie die Fragerichtung um. Mediengewaltforschung wird nicht mehr als eine Reaktion auf öffentliche Befürchtungen gesehen, sondern es werden nun Fragen aufgeworfen wie:

[18] 
Inwiefern fungiert die Mediengewaltforschung als Initiator der Debatte um Mediengewalt? Warum gelingt es ihr nicht bzw. warum strebt sie überhaupt nicht an, die soziale Irritation, die sie ausgelöst hat, wieder zu beruhigen? Wie wird über die vorgeblich objektiv-unschuldige Empirie der Forschung eine soziale Gewalttat zur Medienwirkung programmiert? Wie und mit welcher Zielrichtung werden Medien zur Gefahr? Wie und mit welchem Gewinn wird der Mediennutzer mit einem Gewalttäter identifizierbar? Und warum handelt es sich dabei immer um umstrittenes, unsicheres Wissen? (S. 26)
[19] 

Man kann sehen, dass Hypothese (vgl. S. 12) und Vorhaben der Arbeit nicht genau aufeinander abgestimmt sind. Dies ist ein generelles Problem der Studie, da, wohl auch der Textsorte Dissertation geschuldet, im Laufe der Ausführungen immer wieder Vorannahmen und Arbeitshypothesen formuliert werden, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und nicht systematisch aufeinander bezogen werden.

[20] 

Anlage, Aufbau und Inhalt der Studie

[21] 

Es geht Isabell Otto explizit nicht um die Nachzeichnung einer Geschichte der öffentlichen Empörung über mediale Gewaltdarstellungen, sondern die Mediengewaltforschung soll im Kontext von Praktiken moralischer Regulation von Mediengewalt untersucht werden: »Indem die Mediengewaltforschung im Rahmen einer moralischen Regulation von Mediengewalt beobachtet wird, soll der Unschuld des empirischen Beweises von Mediengewalt ihre Selbstverständlichkeit entzogen werden.« (S. 32)

[22] 

Dabei wird wieder mal eine Ausgangshypothese formuliert: »Mediengewalt geht aus Praktiken der Wirkungskontrolle hervor, die auf Adressierungsprobleme technischer Verbreitungsmedien antworten« (S. 33).

[23] 

Damit gibt es nach Otto vor der wissenschaftlichen Betrachtung das Problem der Mediengewalt überhaupt noch nicht. Bei Mediengewalt handelt es sich offensichtlich um ein Konstrukt bzw. ein emergentes Phänomen, wobei die Benennungsmacht zu großen Teilen bei der Medienwirkungsforschung liegt.

[24] 

Mediengewalt wird in der vorliegenden Untersuchung nicht als klar bestimmbare Positivität verstanden, um die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Disziplin herauszubilden beginnt, sondern als ein Prozess, der ohne diskursive Ereignisse und Praktiken nicht existieren würde. (S. 33)

[25] 

Dies führt zu einer sehr starken Verkürzung bzw. mündet in Widersprüchlichkeiten, weil es einerseits natürlich schon vor der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Medienwirkung Debatten um negative Wirkungen von Medien gab, wie etwa die Debatte um Schund-Literatur um 1900, die von Otto selbst erwähnt wird. Andererseits problematisiert die Verfasserin gerade die häufig anzutreffende Zweiteilung des Mediengewaltdiskurses in eine rational-wissenschaftliche und eine emotional-öffentliche Debatte (vgl. S. 32). Dann macht es aber keinen Sinn nach der »Mediengewaltforschung als Initiator der Debatte um Mediengewalt« zu fragen (vgl. oben und S. 26), um damit genau eine solche Trennung implizit wieder vorauszusetzen.

[26] 

Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil »Wirkungskontrolle« widmet sich wissenschaftshistorisch der Ausbildung wissenschaftlicher Vorstellungen von Wirkungen von Medien in unterschiedlichen Bereichen. Dem zweiten Teil »Regierung der Mediennutzung« liegt eine wissenschaftshistorische Analyse des Mediengewaltdiskurses in einem ausgewählten Gegenstandsbereich, nämlich die Mediengewalt-Debatte in den USA 1968 – 1975, zugrunde.

[27] 

Der erste Teil sieht in Politik, Ökonomie, Pädagogik jeweils Felder, in denen sich in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Beginn einer Medienwirkungsforschung abzeichnet.

[28] 
Ausgangsüberlegung ist, dass der Mediengewalt-Diskurs sich formiert, indem den einzelnen Diskurssegmenten eine ›stabilisierende Zähmung‹ von ›aggressiven‹, d.h. stark wirkenden Medien installiert wird: In den Bereichen Politik, Ökonomie und Pädagogik ist die Annahme von starker Medienwirkung diskurspolitisch notwendig; in jedem Bereich muss daher auch mit negativen Wirkungen gerechnet werden. Dieser Vorgang der Wirkungsbändigung kann nicht zum Ziel haben, negative Medienwirkungen zu verhindern, denn diese wird gerade in ihren negativen Ausprägungen evident. Es geht also vielmehr darum, die schädliche Medienwirkung in ein gesellschaftlich verträgliches Lot zu bringen und in diesem Sinne zu regulieren. (S. 34; Herv. i. O.)
[29] 

Untersucht werden also Bereiche, in denen es, dem Erkenntnisinteresse der Arbeit folgend, um Praktiken der moralischen Regulation des Umgangs mit Medien geht. Eingeleitet wird der erste Hauptteil mit einer breit angelegten Darstellung der Entwicklung des statistischen Messens, betitelt »Wirkung: Epistemologie des Messens«. Die Statistik ist hier von besonderer Bedeutung, da sie direkt im Zusammenhang mit sozialen und politischen Verfahren der Regelung gesehen wird. Statistik erweist sich nicht als neutrales Wissen, sondern als

[30] 
Machtwissen, das Möglichkeiten der Kontrolle eröffnet. Autorität gewinnt sie [gemeint ist die Statistik, A.B.] durch ihre Verknüpfung von Regierungstechniken und wissenschaftlichen Praktiken, jedoch vor allem durch ihr Verfahren, soziale Phänomene sichtbar zu machen und damit als ›reale Gegebenheiten‹ herauszustellen (S. 53).
[31] 

Diese Ausführungen zur Kausalitätsproblematik und zum Entstehen eines neuen Objektivitätsideals, die auf den logischen Positivismus und den Behaviorismus explizit Bezug nehmen, sind zwar informativ, hätten aber auch auf weniger als 30 Seiten dargestellt werden können. Die unterschwellig mitlaufende Funktion dieses Kapitels kommt deutlich zum Ausdruck: Beabsichtigt ist die durchaus berechtigte Erschütterung des Glaubens an ein objektives Messen, das über Randomisierung und Signifikanztests die Kontrolle durch den Beobachter ausblendet. Die Relevanz der Statistik für Medienwirkungsfragen ergibt sich daraus, dass ein Dispositiv zur Verfügung steht, »das seine Autorität aus einer engen Verknüpfung mit der Regierungskunst bezieht. Dieses Dispositiv ist in der Lage, den gesellschaftlichen Normalbereich festzulegen und seine Abweichungen zu kontrollieren« (S. 53).

[32] 

Im zweiten Kapitel geht es um »Propaganda: Politik der Beeinflussung«. Die Persuasionsforschung, die aus der Kriegspropaganda im 1. Weltkrieg hervorgeht, identifiziert Otto als Vorgeschichte der Mediengewaltforschung. Im Hinblick auf den zentralen Fokus einer moralischen Regulation ist das sinnvoll, denn es werden in der Propagandaforschung aggressive Medien entworfen, die den Bedarf einer regulatorischen Zähmung entstehen lassen, mir der die gewünschten politischen Ziele erreicht werden können. Der Wissenschaftler kann auf diese Weise zum Politikberater werden und auch an Forschungsgelder gelangen. Wichtig und innovativ an diesem Kapitel ist die Herausarbeitung der medienhistoriografischen Ausblendung des Gewaltaspekts:

[33] 
Das aggressive Medium bleibt verdeckt, um auch die Gewalt seiner propagierten Wirkungen im Hintergrund zu halten. Dass es eine basale Voraussetzung und ein unabdingbarer Funktionsgarant für Propaganda ist, bleibt sowohl in Lasswells Propagandakonzept als auch in den Selbsthistorisierungen ausgeblendet. (S. 80)
[34] 

In den beiden folgenden Kapiteln »3. Werbung: Ökonomie der Suggestion« und »4. Erziehung: Pädagogik der Gefährdung« werden Konzepte erwünschter und unerwünschter Wirkungen untersucht, die sich im ökonomischen Diskurs um die Kurzschlussformel ›Mediengewalt‹ gruppieren. Der pädagogische Diskurs wird im Zusammenhang mit dem ökonomischen gesehen, da dort negative Wirkungen nicht einer falschen Erziehung, sondern der ökonomischen Seite der Medien zugeschrieben werden (vgl. S. 132). Der Unterschied von erwünschten und unerwünschten Wirkungen drückt sich darin aus, dass im Bereich der Erziehung unerwünschte Medienwirkungen als Sorge diskutiert werden, der Nutzer könne das Falsche lernen; deshalb auch die explizitere Darstellung von Banduras Lerntheorie. Im Bereich der Wirtschaft dagegen geht es um die Befürchtung, dass bestimmte Techniken persuasiver Werbung zur Folge haben könnten, dass der Mediennutzer den erwünschten Kaufakt nicht vollzieht. Beide Bereiche unterliegen letztlich einem Nützlichkeitskalkül. Dessen Aushandlung erfolgt, »noch bevor Mediengewalt im etablierten Feld der Mediengewaltforschung als Teil der ›Produktionskosten‹ liberaler Medienkonzeptionen zu beobachten ist und Sicherheitsmechanismen notwendig werden lässt« (S. 109).

[35] 

Wird in den Bereichen Politik, Ökonomie und Erziehung ein Regulierungsbedarf erzeugt, so wird in Kapitel 5 »Heilung: Therapie der Mediengewalt« die resultierende ›Lösung‹ angesprochen: »Der Diskurs selbst formiert sich als Regulierungspraxis, die eine sozialhygienische Heilungsbedürftigkeit des gesamten Publikums der Verbreitungsmedien konstatiert und als sein vorrangiges Bezugsproblem entwirft« (S. 162; Herv. i. O.). In dieser Diskurslogik muss notwendigerweise eine Ausgrenzung der Katharsisthese erfolgen, da diese einen Heilungsbedarf gerade ausschließt. Otto weist diesen Zusammenhang in einer ausgiebigen Erörterung der Katharsisthese eindrucksvoll nach. Den wissenschaftshistorischen Teil abschließend, formuliert sie die zentrale These ihrer Untersuchung neu:

[36] 
Das etablierte wissenschaftliche Feld des Mediengewalt-Diskurses emergiert aus Projekten der sozialmedizinischen – man könnte auch sagen biopolitischen – Regulation der Bevölkerung. Der Mediengewalt-Diskurs trägt dazu bei, diese Regulationsprojekte in den Bereich der Mediennutzung zu transformieren. (S. 184)
[37] 

Fallstudie: Debatten zur Mediengewalt in den USA
zwischen 1968 und 1975

[38] 

Der Übergang zum zweiten Hauptteil »Regierung der Mediennutzung« wird durch eine Zwischenbilanz zum Wissen über Mediengewalt hergestellt. Im Anschluss daran wird die Etablierung der Mediengewalt-Debatte in den USA nachgezeichnet, die schwerpunktmäßig zwischen 1968 und 1975 erfolgte. Die Leitthese dieser Darstellung wird wie folgt angegeben:

[39] 
Wenn sich die Mediengewaltforschung im wissenschaftlichen Feld etabliert […] verzahnt sie sich eng mit Praktiken einer gouvernementalen Formierung der Mediennutzung. Der vorgeblich rationale empirische Diskurs verhandelt Vorstellungen von richtiger und falscher Mediennutzung. Nicht nur in der öffentlichen Debatte, sondern auch in der Forschung wird Mediengewalt als eine moralische Frage formuliert. (S. 194)
[40] 

An der untersuchten Debatte sind Politiker, Beamte, Juristen, Wissenschaftler, Pädagogen und Publizisten beteiligt, die sich in der Presse, in öffentlichen Anhörungen und in diversen Publikationen zu Wort melden. Als Institutionen sind unter anderen die folgenden beteiligt: das Subcommittee on Communications des US-Senats, das amerikanische Gesundheitsministerium mit dem daran angeschlossenen Public Health Service, das National Institute of Mental Health, die National Commission on the Causes and Prevention of Violence, sowie das Advisory Committee on Television and Social Behavior (des Surgeon General des Gesundheitsdienstes). Im Detail werden verschiedene Quellen herangezogen und die unterschiedlichen Positionen beleuchtet, was an dieser Stelle nur konstatiert, aber nicht nachgezeichnet werden kann. Alle Positionen sind sich jedoch darin einig, dass die wissenschaftliche Antwort auf die Frage von Wirkungen medialer Gewaltdarstellungen, wenn nicht bereits vorliegend, so doch mit zukünftiger Forschung prinzipiell auf empirischer Basis erbracht werden könne. Genau darin liegt wohl der Kernpunkt der Beweisführung, ohne dass dieser von Otto so benannt würde: »Dass gerade die notwendige Unmöglichkeit, eine definitive Antwort zu finden, ein ebenso entscheidender Teil des Diskurses ist, bleibt sein blinder Fleck, der sein weiteres Prozessieren gewährleistet« (S. 223). Die gesamte Analyse läuft auf den Punkt hinaus, dass in der Debatte zwar immer wieder abschließende Antworten auf die Gewaltfrage gefordert werden, aber diese Forderungen aufgrund der diskursiven Regulation prinzipiell nicht einlösbar sind. Für die Verhältnisse in den USA kommt noch ein weiterer Aspekt in den Blick, der mit dem First Amendment, dem ersten Verfassungszusatz, gegeben ist. »Mediengewalt muss regulierbar sein, ohne das Recht auf freie Meinungsäußerung zu gefährden. Die Regulation von Mediengewalt hat innerhalb einer liberalen Gouvernementalität zu funktionieren, sie darf sich nicht in Opposition zu ihr positionieren« (S. 220; Herv. i. O.). Auch deshalb wären definitive Antworten, die auf Zensurmaßnahmen hinauslaufen würden, in den USA nicht tragfähig. Kein Wunder also, dass der Selbstregulation der Mediennutzer in der gesamten Debatte ein starkes Gewicht zukommt.

[41] 

Ihre Analyse abschließend, spricht Isabell Otto die »Offenheit der Mediengewalt-Frage« an. Sie geht dabei ein auf die aktuelle Situation in Deutschland, wo von verschiedenen Seiten Verbote von ›Killerspielen‹ gefordert werden und wo mit Aktionen wie Schau hin! vor TV-Gewalt gewarnt und an autonome Subjekte appelliert werden soll.

[42] 

Eine kritische Würdigung

[43] 

Isabell Otto bringt das Anliegen ihrer Studie klar zum Ausdruck:

[44] 
Eine medienkulturwissenschaftlich informierte Diskursanalyse, wie sie in der vorliegenden Arbeit unternommen wird, verfolgt nicht das Anliegen, eine andere Geschichte zu erzählen, indem sie Diskursereignisse aufzufinden versucht, die in Selbsthistorisierungen nicht in den Blick genommen wurden. Stattdessen unternimmt sie den Versuch, eine neue Perspektive einzunehmen, und erhofft sich dabei nicht mehr, sondern anders zu sehen. (S. 206)
[45] 

In durchaus beeindruckender Weise ist ihr dieser neue Blick gelungen. Neben den bisherigen einschlägigen Forschungsberichten und Überblicksdarstellungen, die sie selbst erwähnt, eröffnet sich mit ihrer Untersuchung ein ganz anderer Zugang zu und Umgang mit dem Thema ›Mediengewalt‹. Bewundernswert ist auch die breite Sichtung und akribische Analyse der Entstehung der Mediengewalt-Debatte in den USA Ende der 1960er Jahre. Nach der Lektüre stellt sich jedoch eine Reihe von Fragen, die offen bleiben oder auch ratlos machen.

[46] 

Zunächst geht es um methodische Aspekte. Reicht die neue Perspektive, das neue Sehen der Diskursanalyse aus? Ist mehr damit erreicht oder erreichbar als ›Ja, kann man so sehen‹? Anders gefragt: Kann sich die Diskursanalyse völlig dem Diskurs selbst entziehen oder ist sie nicht immer schon Teil des Diskurses und müsste dann auch explizit Stellung beziehen können? Otto selbst macht ja an verschiedenen Stellen keinen Hehl aus eigenen Wertungen gegenüber den Arbeiten von Merten, Kunczik und anderen. Dass auch deren Untersuchungen und die Medienwirkungsforschung generell in moralische Regulierungen verstrickt sind, mag ja richtig sein. Aber reicht das aus, um sie zu diskreditieren? Denn jede Disziplin, auch die Medienwirkungsforschung, muss zunächst einmal im Rahmen normaler Forschung im Sinne Th. S. Kuhns von der Lösbarkeit ihrer Forschungsprobleme ausgehen, auch wenn sich später herausstellen sollte, dass manche Fragen falsch gestellt wurden. Und kein Zweifel, viele Fragen der Medienwirkungsforschung sind falsch gestellt. So möge denn die hier besprochene Arbeit zu einer Wissenschaftskrise und einem möglichen Paradigmenwechsel beitragen. Die Mediengewalt-Frage ist auch nicht nur eine des Diskurses oder der Theoriebildung. Die Faktoren, die sich mit der Mediennutzung einzelner Personen verbinden, sind so vielfältig und teilweise nicht zugänglich (wie etwa die komplette Lebensgeschichte eines Probanden), so dass exakte Vorhersagen von Wirkungen sich verbieten. Wenn das die unausgesprochene Schlussfolgerung ihrer Arbeit sein sollte, nämlich den Mediengewalt-Diskurs in eine soziale Frage zu transformieren, dann hätte sie meine volle Zustimmung.

[47] 

Ein weiteres methodisches Problem entsteht aus verschiedenen Formulierungen, die vielleicht nicht so gemeint sind; denn sie beinhalten Implikationen, die quer zu einer diskursanalytischen Wissenschaftsgeschichte stehen. Ich spiele auf Sätze an wie: »Wie die folgenden Ausführungen zu zeigen versuchen, untersagt die ›diskursive Polizei‹, die Formel ›Mediengewalt‹ selbst zum Therapeutikum zu erklären« (S. 162); »Eine solche Argumentation führt zu einem Ausschluss durch die hegemoniale Diskurspolitik«; »[...] weil die Rolle der Sozialwissenschaftler im etablierten Feld des Mediengewalt-Diskurses darin besteht, die definitive Information immer wieder nicht zu erbringen« (S. 217; Herv. i. O.). Termini wie »diskursive Polizei«, »Diskurspolizei« (S. 165), »hegemoniale Diskurspolitik« und »Rolle« suggerieren im Zusammenhang mit einem Begriff wie »Leerstelle Mediengewalt« (S. 102) die Vorstellung von einem vorliegenden Strukturplan, an den sich die Akteure zu halten bzw. den sie zu füllen haben.

[48] 

Neben den angesprochenen methodischen Fragen ergibt sich noch ein gravierendes Problem hinsichtlich des analysierten Gegenstandsbereiches. Zu Beginn der Arbeit wird mit dem Abschnitt »Die Kontroverse der Experten« auf die Mediengewalt-Debatte in Deutschland eingegangen, die nicht nur durch den ebenfalls erwähnten Amoklauf in Erfurt 2002 geprägt ist. Dabei finden Lukesch und Glogauer auf der einen, Merten und Kunczik auf der anderen Seite ihre zugewiesenen Plätze. Am Schluss der Arbeit wird punktuell der Mediengewaltdiskurs in Deutschland beleuchtet, wobei die gesamte Literatur zum Jugendmedienschutz wohlweislich ausgeblendet wird. Denn mit dem Jugendmedienschutz-Gesetz und mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien und deren Indizierungen gibt es in Deutschland Strukturen und Maßnahmen, die mit einem Verdacht auf Zensur die zentrale Argumentation von Otto unterlaufen würden. So formuliert das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 16.12.1971:

[49] 
Hingegen bestehen hinsichtlich des in § 5 AbS. 6 GjS geregelten Werbeverbotes Bedenken, ob es noch das ›gebotene und adäquate Mittel zum Schutz der Jugend‹ ist […], insbesondere ob es der in Art. 5 Abs. 1 GG garantierten Informationsfreiheit der Erwachsenen ausreichend Rechnung trägt. Das Werbeverbot kommt bei Einzelerzeugnissen, insbesondere Büchern, Schallplatten und Filmen, praktisch einem Verbot des Werkes gleich […]. Darin liegt eine sehr weitgehende Einschränkung der Informationsfreiheit Erwachsener. (NJW 1972, S. 597)
[50] 

Wer also den Mediengewalt-Diskurs inhaltlich für den deutschen Bereich und auch ganzheitlich sehen möchte, der sieht sich enttäuscht. Denn die Unterschiede zu den Verhältnissen in den USA sind doch so gravierend, dass der Mediengewalt-Diskurs in Deutschland ganz anders zu beobachten wäre. Denn hier wird mit der Indizierung von Medienangeboten der Mediengewalt-Diskurs schon mal punktuell angehalten.