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Facettenreiche Bezüge zwischen
Kunst und Technik

  • Knut Hickethier / Katja Schumann (Hg.): Die schönen und die nützlichen Künste. Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung. München: Wilhelm Fink 2007. 412 S. einige s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-7705-4561-2.
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Die Festschrift für Harro Segeberg mit ihren 32 Aufsätzen zu verschiedenen Themen der Literatur- und Mediengeschichte bietet dem Leser eine ebenso abwechslungsreiche wie kurzweilige Lektüre und stellt einen Rezensenten eben deshalb vor keine leichte Aufgabe. Zwei grundsätzliche Aspekte halten die Aufsätze innerlich zusammen, einmal der fast durchgängige Rekurs auf das Werk des Jubilars, der aus dem Band eine wirkliche Hommage macht, und zweitens der Anspruch, den Bezug zwischen schönen und nützlichen Künsten, der in der Ausdifferenzierung des universitären Fächerkanons leicht verloren geht, wieder sichtbar zu machen.

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Menschliche Wahrnehmung unter dem Einfluss
von Technik und Medien

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Ein Teil der Aufsätze widmet sich dem Einfluss von Technik und Medien auf die menschliche Wahrnehmung, darunter in erster Linie auf das Sehen. Dazu gehören Reflexionen zur Sichtbarkeit der Medientechnik (K. Hickethier, S. 25–34) oder zur Darstellung der Unsichtbarkeit im Film (J. Paech, S. 35–47), weiterhin Fallbeispiele zu den bereits klassischen Fragestellungen des filmischen Schreibens (hier bei Th. Storm; G. Eversberg, S. 123–133), der Literaturverfilmung (von Texten Fontanes; I. Scheidgen, S. 135–146) und der von Segeberg beschriebenen »Dynamisierung des Sehens« durch den Blick aus dem Eisenbahnabteil, der filmisches Sehen vorbereitet (B. Wagner, S. 147–154). Hier mag man auch R. Innerhofers Deutung des Glases als Material verorten, das in der Moderne als Metapher für Transparenz und Zersplitterung zugleich dient (S. 155–163).

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Beschleunigungen seit 1900

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Da das Verhältnis zwischen den schönen Künsten und Wissenschaft und Technik in den letzten hundert Jahren eine beschleunigte Veränderung erlebt hat, gruppiert sich eine Reihe von Aufsätzen um das Jahr 1900 und fragt u.a. nach der lyrischen Verarbeitung von Telefonie (M. Föcking, S. 167–180), spürt zivilisationskritischen Gedanken nach (D. Heimböckel, S. 181–190), zeichnet die Rezeption von Ethnologie (H. Mottel, S. 191–209), Naturwissenschaft (U. Köster, 211–220) oder Psychoanalyse nach (D. Müller, S. 221–233) oder arbeitet exemplarisch das Verhältnis zwischen Film und Fernsehen heraus (bei Hitchcock; B. Dotzler, S. 301–311).

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Digitale Medien

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In einer weiteren Abteilung sammeln sich Annäherungen an die digitalen Medien und die Gegenwart. Darin geht es u.a. um die Film-DVD, deren Bonus-Material dem Rezipienten heterogene Nutzungsoptionen anbietet und die Frage nach der Autorschaft neu stellt (J. Distelmeyer, S. 341–351), um den computeranimierten Familienfilm (J. Eder, S. 353–371) oder das Genre der Dino-Dokus (C. Müller, S. 385–392).

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Kulturwissenschaftliche und didaktische Perspektiven

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Eine besondere Beachtung verdienen meiner Meinung nach diejenigen Aufsätze, die eher quer zur üblichen Herangehensweise und den klassischen Themen liegen, weil sie den Blick für Leerstellen und weitere Verbindungen im Geflecht der Disziplinen schärfen können. So zeigt E. Schütz an der Geschichte der Schlachthöfe von Chicago, wie Tötungsmechanismen verdrängt und damit evtl. neutralisiert werden und zugleich die Kompensationsfunktion der Zerstreuungskultur gefördert haben könnten (S. 291–300). Die historische Perspektive verbindet sich mit einer politischen in W. Königs Darstellung der Versuche Wilhelms II., Kunsterzieher der Nation zu werden und dabei seinen konventionellen Geschmack als verbindlich erscheinen zu lassen (S. 235–244).

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Am dringlichsten erscheinen mir die Gedanken H. Weilnböcks zur gruppenanalytischen Literatur- und Mediendidaktik (S. 49–59), weil sie gleich auf zwei eher gemiedene Bereiche aufmerksam machen, einmal auf die Psychologie, die derzeit in den Philologien nur wenig Beachtung findet, und andererseits auf die Pädagogik. Welches Potenzial hier schlummert, versucht der Autor anhand seines Seminarkonzepts anschaulich zu machen, das er Gruppenanalytisches Literatur- und Medienseminar nennt und dessen vorrangiges Ziel es ist, einen »Wahrnehmungsmodus der präzisen Subjektivität zu entwickeln« (S. 53) und nicht die üblichen theoretischen und medienhistorischen Betrachtungen anzuvisieren. Dies soll didaktisch über folgende Phasen geschehen: Zunächst werden die intensivsten Rezeptionserlebnisse der Teilnehmer im Gespräch eruiert und eine daran orientierte Lektüreliste erstellt, zu der die Teilnehmer ein Erlebnisprotokoll verfassen. Die erste Phase des Seminars beginnt mit einem Austausch über die persönlichen Lektürereaktionen, also einem vortheoretischen Gespräch über Affekte und gedankliche Assoziationen. Der zweite Schritt liegt in einer Interpretation von Inhalt und narrativer Struktur der jeweiligen Medien, wobei man sich den philologischen Verfahrensweisen in einer allerdings »dezidiert handlungsanalytischen Auslegung von Hermeneutik« (S. 53) wieder annähert. Auf diese Weise können anhand von kulturellen Gegenständen philologische, analytische und kommunikativ-emotionale Schlüsselkompetenzen erworben werden, in denen die vieldiskutierte »Nützlichkeit« der schönen Künste für den Einzelnen und seine Rolle in Gesellschaft und Arbeitswelt klar zutage tritt. Subjektivität wird in diesem Konzept ernst genommen und als Potenzial zur Schärfung der Selbstbeobachtung genutzt, eine Chance, die die universitäre Lehre nicht unversucht lassen sollte.

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Fazit

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Die Breite der Themen stellt sowohl den Reichtum als auch die integrative Kraft der Kardinalfrage des Bandes eindrucksvoll unter Beweis und wird dem Anspruch, interdisziplinäre Grenzen zu überwinden, durchweg gerecht, wenn sie germanistische, romanistische, medien- und kulturwissenschaftliche und linguistische Perspektiven zusammenführt und ihren genuinen Zusammenhang sichtbar macht.

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Exemplarisch ist in dieser Hinsicht H. J. Wulffs Aufarbeitung des Roboter-Motivs im Film (vor allem seit der 1970er Jahre; S. 61–70), das die mediale Reflexion und Antizipation von Technik anschaulich macht und zugleich medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven eröffnet. Denn der Roboter wurde immer wieder unter anthropologischen Annahmen danach befragt, ob er mit Emotionen begabt sei, über Intelligenz und Bewusstsein verfüge und moralische oder soziale Bindungen respektiere, ganz so als sei das menschliche Selbstvertrauen durch ihn unter Druck geraten, während sich andererseits im häufigen Motiv der Venus-Robotin Phantasien der geschlechtlichen Autarkie und der endgültigen Ablösung der Sexualität von ihrer biologischen Funktion Bahn brechen.

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Die Beispiele veranschaulichen, dass es den Herausgebern gelungen ist, einen facettenreichen Band vorzulegen, der nicht in Heterogenes zerfällt, sondern im Rahmen einer allgemeinen Fragestellung mehr ergibt als die Summe seiner Einzelteile. Das darf bei einer Festschrift wohl als keine geringe Leistung gelten.