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»Gestern Kommunist - morgen Kommunist, aber doch nicht jetzt, beim Dichten?!«

Dieter Lamping untersucht die politische Lyrik seit 1945

  • Dieter Lamping: »Wir leben in einer politischen Welt«. Lyrik und Politik seit 1945. Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 143 S. Kartoniert. EUR (D) 14,90.
    ISBN: 978-3-525-20859-5.
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Die Rede, die Daniel Kehlmann zur Eröffnung des letzten Brecht-Festivals im vergangenen Jahr in Augsburg gehalten hat, war alles andere als eine Festrede der üblichen, ihren Gegenstand feierlich verklärenden Art. Ganz im Gegenteil übte Kehlmann scharfe Kritik an dem »gute[n] Mensch von Augsburg«:

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[…] bevor wir uns wohlfeilen Phrasen überlassen, sollten wir einmal deutlich aussprechen, welches Glück wir haben, alle von uns, jeder Einzelne, dass die Welt nicht so geworden ist, wie er [Brecht] sie sich gewünscht hat, denn die seine würde keine freien Wahlen kennen, keine Meinungsfreiheit, keine Freiheit, dorthin zu gehen, wohin man will. In jenem großen Religionskrieg der Sowjetunion gegen ihr eigenes Volk, einem Krieg, in dem nur eine Seite bewaffnet war, stand er zuverlässig, wenn auch mit jener sanften Ironie, auf die seine Verteidiger sich gerne berufen, bei denen, die die Religion hatten und die Maschinengewehre. 1
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Es ging also um den politischen Autor Brecht, dem Kehlmann unter anderem vorwarf, dass er es für nötig gehalten hatte, obwohl er »sich auch hätte heraushalten können«, den beiden sowjetischen Wissenschaftlern Lyssenko und Mitschurin »und damit auch einem agrarischen Großexperiment, das unzählige Hungertote forderte, eine Hymne zu widmen.« Kehlmann jedoch – und dies macht seine Rede zu einem über ihren Anlass hinaus interessanten literarhistorischen Dokument – ging noch weiter und verabschiedete am Beispiel Brechts den Typus des engagierten Autors überhaupt:

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Schriftsteller sind keine Autoritäten, sie werden es nie mehr sein nach jenem Zeitalter der Wölfe, wie Ossip Mandelstam es nannte, bevor er ihm selbst zum Opfer fiel, jenem Zeitalter, das so viele Schreibende derart verführbar zeigte als beredte Gegner von Demokratie und Freiheit, deren Argumente nur besser formuliert, aber nicht besser waren als die des nächstbesten Stammtischkrakeelers.
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Schließlich holte Kehlmann auch noch historisch weit aus und stellte im Grunde einer ganzen Epoche den Totenschein aus:

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Doch jenes von der Aufklärung herrührende Ideal, dass der Schriftsteller ein Führer der Massen, ein Leuchtturm in der Nacht sei, an dessen moralischer Weisheit man sich orientieren könne, ist […] so tot, dass niemand es mehr reanimieren wird. Und das ist eigentlich auch nicht schlimm. Es war immer eine seltsame Annahme, dass Lyriker und Romanciers mehr über Politik wüssten als etwa die Ingenieure, die Zahnärzte oder die Orchestermusiker.
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Es ist offenkundig, dass Kehlmann, der ja einen völlig anderen Autorentypus als Brecht verkörpert, damit auch pro domo und darüber hinaus auch stellvertretend für viele andere Schriftsteller seiner Generation gesprochen hat. Hier wird, so zumindest scheint es, ein poetologischer Paradigmenwechsel erkennbar: Sind in den 1960er Jahren geborene Autoren wie beispielsweise Ingo Schulze oder Durs Grünbein bei aller Skepsis und Distanz letztlich noch immer auf das Modell des auch in politischen Fragen autoritativen Schriftstellers bezogen, hat dieses seine Anziehungskraft für das Gros der um 1970 geborenen Autoren nun offenbar völlig verloren.

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Möglicherweise ist es kein Zufall, dass zu demselben Zeitpunkt, an dem diese Rede gehalten wurde, ein kleines, aber inhaltsreiches Buch des Mainzer Komparatisten und Lyrik-Experten Dieter Lamping erschienen ist, das sich diesem Thema, genauer: einem historisch und systematisch begrenzten Teilaspekt dieses Themas, nämlich ›Lyrik und Politik seit 1945‹, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nähert. Man ist versucht, diese Koinzidenz als einen Beleg dafür zu interpretieren, dass Kehlmanns Diagnose richtig ist und die politische Literatur à la Brecht zu Beginn des dritten Jahrtausends endgültig der Vergangenheit angehört; die Wissenschaftsgeschichte hält ja genügend Beispiele dafür bereit, dass Phänomene erst dann zum Gegenstand der Wissenschaft werden, wenn sie bereits historisch geworden sind. Andererseits zeigt Lampings Buch, wie typisch die »Dialektik von Engagement und Desengagement« (S. 118) gerade für die Geschichte der politischen Lyrik seit 1945 ist; vor diesem Hintergrund wäre dann im Gegenteil ein baldiges Umschlagen der gegenwärtigen Tendenz zu erwarten. Doch wie dem auch sei: Jedem, der sich für die Lyrik aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts interessiert, dürfte dieses Buch hochwillkommen sein; denn daran, dass diese Zeit eine Hochphase politischer Lyrik verschiedenster Art war und dass in ihr auch weltliterarisch Bedeutendes entstanden ist, kann kein Zweifel bestehen.

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Erkenntnisinteresse und Methode

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Zunächst ist anzumerken, dass das Buch eine Synthese aus älteren Arbeiten Lampings ist; so ist etwa eine Vorstufe des dritten Kapitels in dem von Walter Hinderer herausgegebenen und kürzlich in einer aktualisierten Neuauflage erschienenen Band Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland enthalten, 2 und das Kapitel über ›Holocaust-Lyrik‹ greift auf Lampings Gedicht-Anthologie Dein aschenes Haar Sulamith und einen Abschnitt seiner Einführung in die Moderne Lyrik zurück. 3 Doch daran ist nichts auszusetzen, da die Texte ja verstreut erschienen sind und Lamping sie jetzt nicht bloß aneinandergereiht, sondern sie jeweils bearbeitet, ihnen neue Kapitel an die Seite gestellt und sie zudem in einen größeren Kontext eingerückt hat.

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Dass Lamping sich auf das Verhältnis zwischen Lyrik und Politik seit 1945 und nicht etwa im ganzen 20. Jahrhundert konzentriert, begründet er mit der besonderen »Diversität« des Gegenstandes:

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Über ein halbes Jahrhundert hinweg hat sie [die politische Lyrik] in einem Prozess, der von einer eigenen Dialektik gekennzeichnet ist, eine Vielgestaltigkeit ausgebildet, die bis zum Widerspruch geht. Dabei sind, wie selten in der Geschichte der Gattung, die Möglichkeiten politischer Lyrik weitgehend ausgespielt worden. Wie Dichter sich zur Politik verhalten, wie und wofür sie sich engagieren können, schließlich wie sie die Ansprüche der Politik und die der Poesie ausbalancieren – das alles verrät die politische Lyrik seit 1945 (S. 19).
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Lamping behandelt die politische Lyrik seit 1945 also exemplarisch für politische Lyrik überhaupt und hat neben einem historischen somit auch ein systematisches Interesse. Natürlich stellt sich damit die Frage nach seinem Begriff von ›politischer Lyrik‹. Angesichts des so diversen wie disparaten Materials verfährt Lamping hier berechtigterweise vorsichtig: »Mehr als eine Minimaldefinition, die einen kleinsten gemeinsamen Nenner beschreibt, kann für sie nicht formuliert werden« (S. 16). Und diese Minimaldefinition lautet: »Lyrik ist politisch entweder durch ihre Thematik oder durch ihre Perspektive auf ein Thema« (S. 13). Gegenüber früheren, oft normativ überlagerten Definitionen zeichnet diese sich durch ihre Offenheit und Integrationsfähigkeit aus.

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Um die Masse und Heterogenität des zu behandelnden Materials, die aus einem derart weit gefassten Begriff von politischer Lyrik resultiert, bewältigen zu können, operiert Lamping mit einer Typologie. Er unterscheidet zwischen drei Typen politischer Lyrik: der ›Poesie der großen Politik‹, der ›politischen Poesie des Unpolitischen‹ und der ›politischen Poesie als poetische Kritik der Politik‹ (S. 28 f.). Unter der ›Poesie der großen Politik‹ versteht er Gedichte, die »ihre Themen vor allem in den allgemein beachteten Ereignissen und Entwicklungen der Zeitgeschichte« (ebd.) finden; unter der ›politischen Poesie des Unpolitischen‹ Gedichte, die eine »dezidiert politische[ ] Sicht auch auf solche Strukturen, Prozesse und Personen [akzentuieren], die mit der großen Politik nicht in einer offenkundigen Verbindung stehen« (ebd.); und unter der ›politischen Poesie als poetischer Kritik der Politik‹ Gedichte, die sich von aller Politik, »deren grundsätzliche Problematik nun enthüllt wird« (S. 29), distanzieren. Dass es natürlich Überschneidungen zwischen diesen Typen gibt und dass sie sich darum auch nicht immer säuberlich voneinander trennen lassen, ist Lamping bewusst: »Denn spätestens seit den 80er Jahren bestehen diese drei Arten politischer Lyrik, mit wechselnden Anteilen, nebeneinander, mitunter sogar im Werk ein und desselben Autors« (S. 29). Wie der Durchgang durch die Geschichte der politischen Lyrik seit 1945 auf den folgenden gut hundert Seiten zeigt, sind die drei Typen als Kategorien für die Ordnung des Materials aber dennoch geeignet.

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Die Dialektik der politischen Lyrik nach 1945

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Geleitet von seiner Typologie fördert Lamping viel Interessantes und Aufschlussreiches zu Tage; so zum Beispiel die Verbindungen zwischen der politischen Lyrik Deutschlands und der anderer Länder, wie sie sich unter anderem in Übersetzungen und Hommage-Gedichten manifestieren. Lamping zeigt, wie etwa Brecht auf Ezra Pound und Wladimir Majakowski Bezug nimmt und seinerseits eine wichtige Rolle spielt für Franco Fortini, Boris Sluzki und Bob Dylan:

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Solche Vernetzung […] ist Ausdruck eines hohen Maßes an Übereinstimmung, einerlei ob sie in Formen und Stilen oder in Themen liegt. Das Modell einer in sich geschlossenen Nationalliteratur gilt auch für die politische Lyrik nicht, selbst wenn sie sich immer wieder nationalen Themen zuwendet (S. 69).
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Offenbar ist eine derart internationale Intertextualität für die politische Lyrik typischer als für andere Bereiche der Lyrik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein Phänomen, dem weiter nachzugehen möglicherweise lohnend wäre.

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Dies gilt ebenso für Lampings Beobachtung, dass sich in der deutschen Literatur seit Ende der 1990er Jahre, unter anderem in den Werken Durs Grünbeins, Ursula Krechels und Gerhard Falkners, eine »Poesie der großen Politik neuer Art« (S. 83) abzeichnet, die »auf verschiedene Weise die Beschränkungen politischer Lyrik durch größere Komplexität, die auch größeren Umfang verlangt, zu überwinden« (S. 84) versucht. Hier könnte man beispielsweise die poetologischen Prämissen solcher Versuche im Vergleich zu Großprojekten aus dem früheren 20. Jahrhundert, wie etwa Pablo Nerudas Canto General, näher untersuchen.

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Immer wieder kommen auch zum Teil massive Widersprüche zum Vorschein. So etwa im Fall W.H. Audens, der, ehemals ein überzeugter Sozialist, nach seiner Übersiedlung ins niederösterreichische Kirchstetten im Jahr 1965 dem ehemals überzeugten Nationalsozialisten Josef Weinheber – der bekanntlich Hitler in panegyrischen Gedichten gehuldigt und 1945 dann in Kirchstetten Selbstmord begangen hatte – ein einfühlsames Gedicht widmete; so im Fall Hans Magnus Enzensbergers, der in seinem Essay Poesie und Politik von 1962 in einer Art »poetologischer Donquichotterie« (S. 31) gegen die politische Lyrik zu Felde zog, obwohl er in dieser Gattung selbst Glanzstücke geliefert hatte; und so ebenso im Fall Peter Rühmkorfs, der zwar – und dies nicht zu Unrecht – von Anfang an als politischer Lyriker wahrgenommen wurde, aber dennoch in seinem Mailied für junge Genossin aus den 1970er Jahren mit emphatischer Ambivalenz dichtete: »Gestern Kommunist – morgen Kommunist, / a b e r  d o c h  n i c h t  j e t z t , / b e i m  D i c h t e n ? !« (zitiert nach S. 31). Konstellationen dieser Art gilt Lampings besonderes Interesse, und insofern ist seine zusammenfassende These einer »Dialektik der politischen Lyrik seit 1945« auch durchaus überzeugend:

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Die Widersprüche zwischen ihnen [den drei Typen politischer Lyrik] lassen sich nicht aufheben. Die drei Positionen fügen sich auch nur bedingt zu einem Evolutionsmodell, innerhalb dessen die eine jeweils Auflösung und Erledigung der anderen, ihr vorausgehenden ist. Sie stellen von einem bestimmten Zeitpunkt an vielmehr Alternativen dar, die sich durchaus gleichzeitig bieten können […]. Insofern gibt es tatsächlich keine einfache Antwort auf die einfache Frage, was politische Lyrik seit 1945 ausmacht. Nur wenn man ihre Dialektik berücksichtigt, wird man ihrer Eigenart gerecht (S. 119).
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Kritikpunkte

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Insgesamt ist die Breite des Spektrums behandelter Autoren und Texte beeindruckend. So stößt man etwa auf den Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung, der in den 1960er Jahren nicht nur »einer der mächtigsten Männer«, sondern auch »der meistverlegte, vielleicht auch meistgelesene Lyriker« der Welt war (S. 14) und der den poetologischen Richtlinien, die er für die chinesische Lyrik seiner Zeit aufgestellt hatte, selbst zu folgen keineswegs gewillt war; man begegnet Brecht und Becher, die – der eine subtiler, der andere plakativer, doch »nicht selten in geheimem Wettstreit« (S. 47) miteinander – den Aufbau der DDR mit Gedichten begleiteten; und man trifft auf die Nobelpreisträger Eugenio Montale, Joseph Brodsky, Wisława Szymborska, Harold Pinter und immer wieder auf Neruda, der eine Art Symbolfigur der politischen Lyrik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war und den Lamping darum auch an den Anfang seiner Studie gestellt hat.

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Nichtsdestotrotz aber bezieht sich ein – bei einem Buch dieses geringen Umfangs wohl unvermeidlicher – Kritikpunkt auf das der Untersuchung zugrunde liegende Textkorpus. Denn Lamping behandelt keineswegs den gesamten Bereich politischer Lyrik seit 1945. Man vermisst etwa, um nur ein Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen, die experimentelle Lyrik, zumal die österreichischer Provenienz, in der sich Experiment und Engagement nämlich gerade nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, ausschließen. Erinnert sei an die ›Wiener Gruppe‹, zumal an H.C. Artmann, der 1955 in Wien sein Manifest verfasste, einen wütenden Protest gegen die Wiederbewaffnung Österreichs, und es von anderen Schriftstellern unterschreiben ließ. Wie Gerhard Rühm später schrieb, endete »ein protestgang mit transparenten von im ganzen sieben beteiligten […] sogleich in der wachstube der polizei.« 4 Und erinnert sei an Ernst Jandl, der ja nicht nur mit lechts und rinks, schtzngrmm und einigen weiteren Gedichten wahre Gassenhauer der politischen Lyrik seit 1945 geschrieben, sondern sich auch in seinen poetologischen Schriften explizit und differenziert zu dem Thema Lyrik und Politik geäußert hat; dazu kommt sein sich unter anderem in der Gründung der Grazer Autorenversammlung manifestierendes Engagement jenseits des eigenes Werks.

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Das Fehlen dieser und manch anderer politischer Lyriker wäre nicht weiter problematisch, wenn man sich nicht fragen müsste, ob Lampings Typologie wirklich auch all diese von ihm nicht behandelten Autoren und Werke integrieren kann. Lässt sich etwa Jandls Ansatz, den Leser durch einen subversiv-aufklärerischen Umgang mit Sprache gegen politische Ideologien aller Art zu immunisieren, wirklich sinnvoll einer der drei Kategorien zuordnen?

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Natürlich kann in einer derart verknappten Darstellung Vieles auch nur angerissen werden. Etwa der Bereich internationaler Song-Lyrik, dessen ausführliche Behandlung man aufgrund des aus einem Song Bob Dylans entlehnten Titels der Untersuchung Wir leben in einer politischen Welt erwartet hätte. Dylan, der mit Chimes of Freedom und vielen anderen Songs der amerikanischen Protestbewegung – und nicht nur dieser – gleichsam den Soundtrack komponierte, sich einer weitergehenden Indienstnahme seiner Person und seines Werks dann aber konsequent entzog, wäre ein lohnender Gegenstand für ein ganzes Kapitel oder zumindest einen Exkurs gewesen. Er scheint die ganze Widersprüchlichkeit politischer Lyrik in geradezu idealtypischer Weise zu verkörpern und hatte darüber hinaus eine größere internationale Resonanz selbst als der zeitweilig ja vergleichsweise populäre Neruda. Mit den wenigen Dylan gewidmeten Passagen kann man sich darum nur schwer zufrieden geben. Ähnliches denkt man sich bei den kurzen Absätzen zu dem vom Pinochet-Regime ermordeten chilenischen Liedermacher Victor Jara und zu Wolf Biermann, dessen Ausbürgerung aus der DDR immerhin als der Anfang von deren Ende bezeichnet wurde.

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Zwangsläufig kommen auch die Analysen und Interpretationen der Gedichte zu kurz. Zwar liegt es auf der Hand, dass man in einem schmalen Band zu einem derart komplexen Thema eine ausgiebige Beschäftigung mit einzelnen Texten nicht erwarten kann. Doch Lyrik, und zumal literarisch anspruchsvolle Lyrik zeichnet sich nun einmal durch ihre Vieldeutigkeit und auch ihre Widerständigkeit gegen Einordnungsversuche aller Art aus, und darum hätte man sich an einigen Stellen eine intensivere Auseinandersetzung mit den Gedichten gewünscht.

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Resümee

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Trotz dieser Einwände aber hat Lamping mit seinem Buch eine anregende Studie vorgelegt und bedenkenswerte Vorschläge gemacht, wie man sich der Überfülle des schwierigen Materials klassifikatorisch und interpretatorisch nähern könnte. Zukünftige Arbeiten könnten an vielen Punkten anknüpfen. So könnte etwa Lampings Typologie differenziert und der Gegenstandsbereich synchron auf andere Literaturen oder diachron in die Vergangenheit ausgeweitet werden. Und auch nach vorne könnte man die Untersuchung ausdehnen. Lamping lässt seine Studie mit den Anschlägen vom 11. September und dem zweiten Irakkrieg enden, die international eine gewaltige Menge von Gedichten hervorgerufen haben. Dass die politische Lyrik in der Zeit seitdem aber weiter eine große Rolle gespielt hat und wohl auch weiterhin spielen wird, dafür gibt es bereits jetzt viele Belege. Zum Beispiel könnte man an die große Bedeutung der Lyrik für den islamistischen Terror denken; Osama Bin Laden setzt in seinen Botschaften ja häufig Gedichte zu propagandistischen Zwecken ein. Doch um diese Form politischer Lyrik angemessen analysieren zu können, wird man ein anderes Instrumentarium benötigen.

 
 

Anmerkungen

Daniel Kehlmann: »Der gute Mensch von Augsburg«. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 167 (19./20. Juli 2008), S. 17.   zurück
Walter Hinderer (Hg.): Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Würzburg 2007, S. 327–362.   zurück
Dieter Lamping (Hg.): Dein aschenes Haar Sulamith. Dichtung über den Holocaust. München 1992, S. 271–292. D.L.: Moderne Lyrik. Eine Einführung. Göttingen 1991, S. 108–111.   zurück
Gerhard Rühm (Hg.): Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Reinbek bei Hamburg 1967, S. 20.   zurück