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Verlegen, Verlesen, Verzeichnen und das Phantasma der Stimme

Thomas Manns Doktor Faustus als Grammatologie

  • Stefan Börnchen: Kryptenhall. Allegorien von Schrift, Stimme und Musik in Thomas Manns Doktor Faustus. München: Wilhelm Fink 2006. 347 S. Kartoniert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-7705-4263-5.
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Stefan Börnchens Dissertation über Thomas Manns Roman Doktor Faustus ist eine umfassende, in immer neuen Einsätzen nachfragende Reflexion über die Zentralmetaphern der poetologischen und zeichentheoretischen Tradition: über Körper, Stimme, Schrift und Musik. Führt Thomas Manns musikalische Erzählstrategie Stimmen symphonisch zusammen, um eine partiturähnliche Simultaneität von horizontal-syntagmatischen und vertikal-paradigmatischen Zeichen entstehen zu lassen, so reichert der Verfasser dieses wissenschaftlichen Textes die hoch konnotativen Zentralbegriffe der Zeichen- und Texttheorie sukzessive mit ihrer Geschichte von Plato bis Derrida und Lacan an. Börnchen legt auf diese Weise ein Netzwerk von Transformationen frei, von »Verlesungen« und semantischen Verschiebungen, die allem voran die mediale Differenz zwischen Schrift und Stimme zu dissimulieren versuchen. Die Studie entwickelt entsprechend keine »lineare« Lesart des Romans Doktor Faustus, sondern verharrt insistierend bei einzelnen Textpassagen, ja einzelnen Wörtern. Sie extrapoliert scheinbar minore Details (als wissenschaftliches Pendant zur selbstbekundeten »Dingdichte« und Detailversessenheit des mannschen Schreibens), wirft einen mikroskopischen Blick auf Worte (im Sinne einer doppelten, also doppelt so scharfen Optik) und fokussiert ihre paradigmatisch-rhizomartigen Vernetzungen mit der »Tradition«, die als (diskontinuierliche) Kette von Metaphern aufgefasst wird.

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Grundprämisse der Arbeit ist, dass alles Sprechen (auch das theoretische) metaphorisch angelegt ist, genauer: dass auch Theorien Metaphern entfalten und darüber hinaus praktizieren, worüber sie räsionieren, das heißt sie verlesen sich und verschieben Worte (wie es beispielsweise die hier maßgebliche Rhetorikstudie von Wolfram Groddeck auf reflektierte Weise umsetzt). Ein metaphorologischer Ansatz ist in dieser Dissertation deshalb geradezu unerlässlich, weil sie sich mit Musik bei Thomas Mann (als Analogon des Tons, des Hauchs, des Phonetischen) beschäftigt – Musik sei sprachähnlich, wie in prominenter Weise Theodor W. Adorno ausgeführt hat. Allerdings schreibt Börnchen nicht schlicht die unübersehbare Sekundärliteratur (die er sorgfältig referiert) zu diesem einschlägigen Sujet fort, sondern integriert das Musik-Thema in sein umfassendes Räsonnement über eine poetologische Konstellation, wie sie neben den Sujets Körper und Stimme Allegorie und Komik entstehen lassen. Alle diese Figuren artikulieren nach Börnchen Widersprüche bzw. unvermittelbare Oppositionen, die die Phantasie kontinuierlich-organischer Übergänge in Frage stellen. Die Metapher wird entsprechend nicht in einem statischen Sinne als Ähnlichkeitsbeziehung verstanden, sondern als der Ort im Text, der dem Leser ein abgründiges intertextuelles Spiel mit Bedeutungsnetzen ermöglicht. Der Arbeit liegt mithin ein weiter Intertextualitätsbegriff zu Grunde, der jegliche paradigmatische Substitution, zu der der Text einen Leser einlädt, umfasst.

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Dekonstruktion und Tradition, Lektüre und Interpretation

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Ohne Zweifel ist Börnchens Dissertation dekonstruktivistisch angelegt, aber im Sinne einer Dekonstruktion, die (um mit Hegel zu sprechen) in die Interpretation, die Hermeneutik aufgehoben ist und deren Potenzial als klassische Kritik (durchaus im Sinn des kantschen Aufklärungsdiktums) freigelegt wird. Die elaborierte Argumentation der Arbeit trägt dem vielbeschworenen, oft moralisch gerechtfertigten Tod der Dekonstruktion Rechnung, schafft sie ab, um sie zu retten, so könnte man sagen. Denn Börnchen versucht eine umfassende Synthese, die in hoch belesener Weise zeichentheoretische sowie poetologische Äußerungen von Plato, Schlegel, Schleiermacher, Hegel etc. mit denen von Derrida zusammenführt, um die Überschneidungen zu profilieren. Im Kapitel »Methodologische Grundlagen«, das auf eine erste paradigmatische Lektüre (oder auch Interpretation) folgt – gelesen wird die Sterbeszene Thomas Manns, wie sie Erika Mann beschreibt – behandelt Börnchen die Metapherntheorien von Blumenberg, Curtius und Derrida und weist in seinen ebenso präzisen wie raffinierten ›Lesungen‹ nach (ein hier diskutierter Begriff Freuds), dass die Theoreme an entscheidenden Stellen ihrer Definitionsversuche selbst mit Metaphern arbeiten – Blumenberg spricht beispielsweise von der »Verlegenheit«, für die die Metapher einspringe; »Verlegenheit« aber ist eine Übersetzung der Metapher, die eben auch »verlegen« meint. Konsequenterweise verzichtet Blumenberg auf eine Definition und spricht von »absoluten Metaphern«, die sich nicht in ein Eigentliches, Gemeintes übersetzen lassen.

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Die Vorstellung eines Inventars an geläufigen Tropen, wie sie Ernst Robert Curtius in seiner berühmten Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter entfaltet, lässt sich allerdings nicht halten, denn eine rhetorische Figur ist nicht schlicht zu extrapolieren, sondern immer ein (Kon-)Texteffekt. Darüber hinaus vollzieht die Arbeit Börnchens eine poststrukturalistische Volte, die ebenfalls gegen die Idee eines statischen Arsenals an Tropen gerichtet ist und voraussetzt, dass der aktuelle Text seine eigene Tradition konstituiere, dass erst von dieser »Sehhilfe« aus eine je spezifische Vergangenheit entstehe – insofern beschreibt die Untersuchung diejenige poetologische und zeichentheoretische Tradition, die von Thomas Manns Doktor Faustus aus betrachtet in Erscheinung tritt, und zwar mithilfe eines recht unkalkulierbaren Faktors: des Leserwissens, das in diesen Überlegungen eine zentrale Rolle spielt.

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Im Anschluss an die Intertextualitätstheorie, aber auch an die Romantik mit ihrer Entdeckung des Lesers, betont die Arbeit, dass der Leser notgedrungen eine Auswahl vornehme, sich für bestimmte Details entscheide und nur gewisse Spuren verfolge, ja diese erst herstelle. Börnchen entwickelt in seiner Zusammenschau von Sigmund Freud, Roland Barthes und Slavoj Žižek das ansprechende Bild eines Lesers als »Aficinado« und Paranoiker, der sich der Lust an seinem immer auch willkürlichen Lesen hingebe und in seinen Lektüren oder auch Interpretationen – die theoretisch differenzierten Begriffe fallen hier zusammen – die Fiktion weitertreibe. Was dieses lustvolle und forcierte Lektürespiel – der Verfasser tritt ausdrücklich für ein forciertes Lesen ein – bei Thomas Mann erschwert, sind die Selbstdeutungen der Texte, die den Leser oftmals in die Falle (einer hermeneutischen Befriedigung) locken. Doch Selbstdeutungen vervielfältigen, methodologisch betrachtet, die Leerstellen und fordern lediglich zu einem genaueren Blick heraus.

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Körper, Stimme, Grab und (Auto-)Biographie

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Diejenige Konstellation, die Börnchen mit Blick auf Thomas Mann und seine Zeichentheorie des Sterbens mit großer Insistenz verfolgt, ist das intrikate Zusammenspiel von Stimme, Geist, Musik und Schrift (als Tod) als Grundkonstituenten des Schreibens, wie sie bereits Plato verhandelt. Erscheint der Körper in dessen philosophischen Überlegungen als Kerker bzw. Grab der Seele und damit auch als ihr Ausdruck – ein scheinetymologischer Transfer Schleiermachers erklärt den Körper demgemäß zum Griffel, zum Schreibinstrument der Seele –, so kann der (sterbende) Körper (als Korpus) dieser konsolatorischen Vision nach zum Medium der Bewahrung von Stimme, Atem und Leben werden. Der sterbende Körper gleicht damit einem Buchstaben, der die Stimme und den Geist im Sinne des Hegelschen »conservare« aufhebt, ist also geradezu die Bedingung des Signifikationsprozesses – insofern erweist sich die (Auto-)Biographie, das schriftliche Vermächtnis eines Toten, als das genuine Genre dieser poetologischen Grundfiguration – Thomas Mann hat in Selbstzeugnissen mit Nachdruck von dem grundlegenden autobiographischen Potenzial seiner Texte gesprochen (dezidiert im Zusammenhang mit dem »Schlüsselroman« Buddenbrooks). Die traditionsreiche Zeichentheorie, die das Grab des Körpers als Ort der Stimme imaginiert, ist allerdings, so weist Börnchen schlüssig nach, das Ergebnis von metaphorischen (Fehl-)Lektüren, von Verschiebungen, Scheinetymologien und der Verführung durch Assonanzen (Grab / Graph). Die rhetorische Figur dieser Zeichenkonstellation ist die Prosopopoia, die Fiktion eines Sprechens aus dem Grab, die Börnchen, anders als Bettine Menke, als Allegorie bezeichnet, nicht als ihr Gegenteil. Denn bereits die klassische Rhetorik habe diese Figur als Personifikation eines Sprechens bestimmt, das sich durchaus als Täuschung enthüllen kann.

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Worauf sich die Lektüren Börnchens konzentrieren, sind die
(dis-)kontinuierlichen Übergänge zwischen Schrift und Stimme, die bereits die Eröffnungsformel des mannschen Romans: »Mit aller Be-stimm-theit« prägen und um die Zeichentheorien gemeinhin kreisen. Die einschlägigen Konzepte von Hegel, Saussure und Lacan – Börnchen liest das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud – sowie die Lyriktheorie, die hier am Beispiel von Wolfgang Kaysers »Kleiner Versschule« untersucht wird, entwickeln mit großer Persistenz die Phantasie, dass der tote Buchstabe durch die lebendige Sprache zu überwinden, dass die Stimme aus der Schrift zu befreien sei, und konstruieren entelechetische Modelle, die bereits der Schrift einen Keim zur Verlautung »zusprechen«, um den problematischen Übergang zwischen den Medien zu dissimulieren. Diese Sehnsucht nach »Verlautung« und organischen Kontinuitäten demonstriert Börnchen an so unterschiedlichen Texten wie Eichendorffs Wünschelrute, dem Grimmschen Märchen Schneewittchen und Schillers Nänie, wobei er auch die Angst der Texte im Angesicht der Möglichkeit profiliert, dass die antizipierte Verwandlung des Epitaphs zum Lied, zur Elegie nicht stattfindet. Dieser Aspekt eines »Versagens« scheint für die immanenten Poetologien ebenso relevant wie die Phantasie gelingender Übergänge, die die Texte performativ herstellen. Gerade auch in Thomas Manns Werken lässt sich die grundlegende Angst vor der potentiellen Hermetik der Zeichen, dem Ungelesenbleiben und der reinen Schriftlichkeit des Textes aufspüren.

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Auch Thomas Manns Doktor Faustus arbeitet allerdings an der Evokation der Stimme aus der Schrift, wenn Zeitbloom in seinem Eröffnungssatz einen Atem beschwört, der die »Festung« des Buchstabens zu verlassen hofft, oder den »überlesenen« Zeilen einen beschwerten und unruhigen »Atemzug« attestiert, der für einen bestimmten Gemütszustand »bezeichnend« sei und auf diese Weise buchstäblich in die Schriftlichkeit zurückführt. Will der Text Stimme werden, so lässt sich selbst die Diskussion über das »lautere und unlautere Genie« als metaphorologische Reflexion der Zeichenaporie lesen.

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Komik im Pathos

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Börnchen entwickelt ein Parallelsystem zwischen Humor (wie ihn Thomas Mann definiert) und Allegorie, denn beide Ausdrucksformen stellen Widersprüche eher aus als sie zu harmonisieren und sind, wenn man so möchte, die rhetorischen Figuren der Dekonstruktion schlechthin, weil sie Unvereinbares komponieren und den Widerspruch arrangieren. Thomas Mann selbst hat in seinen späteren Äußerungen wiederholt auf die Komik von Doktor Faustus hingewiesen, die allerdings die historische Situation zunächst aus dem Blick gerückt hatte. Gleichwohl eröffnet der Roman mit einem Komödienzitat, mit einem Hinweis auf Dantes Göttliche Komödie. Die verborgenen Ableitungen des Erzählernamens bestätigen diesen Genre-Zusammenhang ebenfalls, denn Serenus hieß zunächst Urban, wobei Cicero die Ironie »als eine Form des feinsinnigen und weltmännischen Witzes [definiert] – der lateinische Ausdruck ist Urbana dissimulatio« (S. 92). Doktor Faustus lässt sich zudem auf Sternes Roman Tristram Shandy beziehen, auf einen viel gelesenen Lieblingstext Thomas Manns also, der ebenfalls eine überaus intrikate Zeichentheorie (des Sterbens) entfaltet. Auch bei Sterne lässt sich der Versuch ausmachen, das Grab der Schrift in die Elegie, in die Stimme zu überführen, zumal wenn er das laute Lesen des Textes imaginiert, ähnlich wie im Doktor Faustus die immanenten Sprecher und Stotterer den ersehnten Akt des (lauten) Lesens antizipieren, den die Gedankenstriche im Text (als Atempausen) vorbereiten. Besonders evident ist (im Sinne einer manifesten Quelle) der Bezug des Doktor Faustus zu Sterne in dem hoch intertextuell angelegten Kapitel über die Schmetterlinge, die die dämonisierte Begegnung mit der Verführerin präludieren und, ähnlich wie die Muscheln, als Verbuchstäblichungen von zeichentheoretischen Aporien gelesen werden können.

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Transparenz, Nacktheit, Gender und Zeichen

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Am Beispiel der Muscheln als enigmatischen Chiffren ohne (hermeneutischen) Schlüssel und des Glasflüglers (als Pendant der Hetäre) entwickelt Börnchen in stupenden Ausführungen die zeichentheoretischen Aporien von Opazität und Transparenz (letztere auch im Sinne von Realpräsenz, wie sie der hier weitläufig diskutierte theologische Diskurs verhandelt). Ist das Zeichen nämlich völlig durchsichtig, so verschwinden mit ihm das Signifikat sowie die Differenz zwischen Durchsichtigkeit und Opakheit. Auch die Metaphern Durchsichtigkeit, Transparenz, ja Nacktheit sind feste Bestandteile der rhetorischen Tradition und lassen sich aus einer Gender-Perspektive lesen, zumal der Roman seine misogynen Weiblichkeitsbilder dezidiert an diese Phantasien anschließt – die Studie zeigt in überzeugender Weise, dass der mannsche Text Frauen allem voran als Milchkühe imaginiert. Börnchen liest, um die Gender-Aspekte der klassischen Rhetorik kenntlich zu machen, Gorgias’ berühmten Text Lobpreis der Helena, den neben Heidegger auch Wolfram Groddeck einer eindringlichen Lektüre unterzieht, und verweist auf die Implikationen der beliebten Enthüllungs- und Kleidermetaphern, die die Entdeckung der Wahrheit mit Aggression, Penetration und Raub verbinden (S. 263). Diesen Zusammenhang von Diaphanie und Weiblichkeit bzw. Nacktheit (als Text-Allegorie) verfolgt die Arbeit bis zu Derrida und den intellektuellen Striptease-Diskursen von Roland Barthes und Jean Baudrillard.

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Anstrengungen des Lesens

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Börnchens Analyse ist eine erudierte, in hohem Maße präzise und originelle Reflexion über eine grundlegende Aporie der abendländischen Zeichentheorie und Poetologie. Die Untersuchung weist nach, dass sich der Roman Thomas Manns sehr genau in dieser rhetorischen Tradition positioniert und ebenfalls an dem gleitenden Übergang von Buchstabe in Stimme arbeitet, die diejenige eines lauten Lesens sein soll. Fraglich bleibt damit allerdings, ob der Text nicht auch auf das Wissen reagiert, dass er sich in einer stummen Lesekultur bewegt und die immanent phantasierten Lippengeräusche ins Leere laufen bzw. unzeitgemäß sind, zumal Atmen und hörbare Mundbewegungen bei Thomas Mann vielfach mit Degout verbunden sind und an ethnisch markierte Figuren delegiert werden, wie Yahya Elsaghe eindrücklich gezeigt hat.

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Innerhalb der Thomas-Mann-Forschung stellt diese Arbeit insofern ein Novum dar, als jeglicher realistische Effekt auf die Interaktionen von Zeichen hin transparent gemacht wird. Zwar liest auch Börnchen allem voran intertextuell, verfolgt also die überaus komplexen »Aneignungsgeschäfte«, die Mann bekanntlich als »höheres Abschreiben« bezeichnet und mit großer Akribie betrieben hat, jedoch in hoch abstrakter Weise, die auf die poetologische Textur des Romans und seine Zeichentheorie fokussiert ist. Und die Untersuchung positioniert den Roman in einem Mosaik aus Texten, das brisanterweise auch die Differenz zwischen Literatur und Theorie nivelliert, weil sich beide Genres in ihrer metaphorologischen Ausdrucksqualität gleichen. Auch deshalb lässt sich Börnchens Studie als überaus kundige, gut lesbare und kritische Auseinandersetzung mit Derrida, Lacan, Heidegger etc. lesen, mit Texten, denen hier keine methodologische Funktion zukommt, sondern die Gegenstand einer eindringlichen Metaphernanalyse sind. Damit nimmt Börnchen, und das ist das eigentlich Kühne, die kulturwissenschaftliche Rede von der Fiktionalität der Theorie ernst und setzt sie konsequent um, indem er aus Thomas Manns Roman eine Grammatologie entwickelt.

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Eventuell hätte man die Kehrseite der insistent behaupteten Übergänge zwischen Buchstabe und Laut stärker fokussieren und damit den historischen Ort des mannschen Schreibens konturieren können, denn auch seine Texte verhandeln die Krise der Repräsentation nach 1900, also den Geltungsverlust des Literarischen und Künstlerischen, der auch um den Leser bangen lässt. Bereits der zweite Roman Thomas Manns, Königliche Hoheit, artikuliert (auf verschobene Weise) die Angst, nicht gelesen zu werden, und begegnet dieser durch das Phantasma einer volkstümelnden Sprache des Herzens, die gegen die Kälte der Ratio und der (ironischen) Schrift abgesetzt wird, an der der Roman selbst jedoch aufgrund seiner Ironie nicht zu partizipieren vermag. Die enigmatische, testamentarische Schrift (ohne Hauch) wird noch dazu einer Fremden, einer Frau zugeordnet, so dass sich die pessimistischen Schriftreflexionen mit Gender-, aber auch Ethnizitätsphantasien verbinden. Zeichentheorie kann also durchaus minoritätspolitische Aspekte integrieren und profiliert so die historische Signatur der jeweiligen Texte und Metaphern.

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Gleichwohl hat Stefan Börnchen eine überaus beeindruckende, methodologisch hoch reflektierte und theoretisch versierte Studie vorgelegt, die ihren Anspruch, nämlich genau und forciert zu lesen, restlos einlöst und in zum Teil stupenden Volten Bezüge zur Tradition, das heißt zu ihren metaphorischen Verschreibungen sinnfällig macht. Von Thomas Mann her gelesen, erscheinen die Literatur sowie Teile der abendländischen Philosophie als groß angelegter Versuch, die irritierenden Diskontinuitäten zwischen Leben und Tod, Schrift und Hauch / Stimme zu verschleiern und diese Bestrebungen konsequent zu vereiteln.