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Von Klängen und Menschen

  • Holger Schulze: Sound Studies. Traditionen - Methoden - Desiderate. Eine Einführung. (Sound Studies 1) Bielefeld: transcript 2008. 316 S. Paperback. EUR (D) 28,80.
    ISBN: 978-3-89942-894-0.
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Holger Schulze hat sich etwas vorgenommen. Zusammen mit dem renommierten [transcript]-Verlag hat der Leiter des Masterstudiengangs zur akustischen Kommunikation (Universität der Künste, Berlin) eine neue Reihe ins Leben gerufen. Sound Studies heißt sie und soll zum Publikationsort für interdisziplinäres »Sprechen aus, mit und über Klang« (mission statement) gemacht werden. Wenn dies gelingt, wird die Reihe einen Raum eröffnen, für den zunehmend Bedarf besteht.

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Der 2008 vorgelegte Band Traditionen – Methoden – Desiderate macht den Anfang, der nächste, mit Funktionale Klänge betitelt und von Georg Spehr herausgegeben, ist für das Frühjahr 2009 angekündigt. Im Abstand von je sechs Monaten sollen Band drei (Gespür, Empfindung. Kleine Wahrnehmungen) und vier (Aural Architecture – Auditive Architekturen) folgen. Wie die letzten beiden Titel erahnen lassen, geht es der Reihe nicht um einen exklusiven Ansatz der Erforschung des Auditiven und/oder Sonischen, sondern um eine Konzentration auf Klangphänomene und deren Rezeption als Teil des Geflechts aller Sinneswahrnehmungen.

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Geschichte, Analyse und Praxis des Klangs

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Die inhaltliche Dreiteilung des Bandes in »Traditionen – Methoden – Desiderate« ist programmatisch zu verstehen. Sie entspricht dem Vorhaben der Reihe, quer zu etablierten akademischen Disziplinen zu operieren und darüber hinaus Fragen aufzuwerfen – und zwar »zur Kontingenz von Klanggestaltungen, ihre[r] Abhängigkeit von Bedingungen wie Räumlichkeit, Kultur und individueller Erfahrung, ihre[r] Gestaltbarkeit« (S. 11) –, die sich verschiedenen Erkenntnisinteressen verdanken. Vergangenheit, Gegenwart wie Zukunft des Umgangs mit sound sollen so repräsentiert werden und unterschiedliche Bereiche des jungen Forschungsfeldes zu ihrem Recht kommen.

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Dementsprechend will der erste Teil von Sound Studies anhand von vier Beiträgen das Projekt einer »Geschichte der Auseinandersetzung mit Klang« (S. 12) vorantreiben. Dem zweiten Abschnitt, der sieben Artikel umfasst, ist es anheim gegeben, ein Spektrum gegenwärtiger Methoden zu präsentieren, wie sich mit Klang arbeiten lässt, beziehungsweise wie Klang (technisch, historisch, anthropologisch, semiotisch, medienwissenschaftlich, soziologisch) analysiert werden kann. Die sechs Beiträge des dritten Teils schließlich sind aus Arbeiten mit Klang in der Praxis hervorgegangen. Wenn sich die impliziten Appelle, die hier von Komponisten, Klang- und Installationskünstlern, einem Radiomacher und einem sound branding-Spezialisten formuliert werden, auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, dann ist dies der Wunsch, man möge dem Potential des Klanglichen zur Entfaltung verhelfen.

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Klangkunst-Potpourri

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»Klänge aus Lautsprechern« versammelt der Musikwissenschaftler Martin Supper in seinem Betrag zum »Klang in der Geschichte der Elektroakustischen Musik«. Genau genommen benennt der wenig spezifische Titel bereits die Schwächen des Textes: Weder zeichnet sich eine (zumindest versuchte) Systematik ab, noch wird eine zusammenhängende Geschichte des elektroakustischen Klangs erzählt, noch eine übergreifende These zur Rolle des Lautsprechers formuliert. Stattdessen beschleicht einen der Verdacht, Supper reihe irgendwelche Klänge aus irgendwelchen Lautsprechern aneinander, die in der Entwicklung der elektroakustischen Musik wichtig waren. Das Phantasma des Ur-Geräuschs wird anzitiert, aber nicht weiter verfolgt, lange Zitate sollen für sich selbst sprechen, eines der vier Bilder bleibt vollständig unkommentiert, der Beitrag bricht unvermittelt ab. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass einige der hier zusammengetragenen Beispiele an und für sich interessant sind, doch die Kontingenz der Auswahl und das fehlende Argument hinterlassen den Nachgeschmack schaler statt anregender Fragezeichen. Warum ausgerechnet dieser schwache Beitrag für die Eröffnung des Bandes gewählt wurde, bleibt ebenso das Geheimnis des Herausgebers wie die Frage, wieso er hier nicht stärker redigierend eingegriffen hat.

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Einen ganz anderen Eindruck macht der solide Betrag des Radiomachers Andreas Hagelüken, der sich als Plädoyer für den Erhalt der »Fähigkeit des Zuhörens« (S. 54) lesen lässt. »Eine originäre Kunst für das Radio« gibt einen typologischen Überblick über Geschichte und Gattungen dieser ars acustica, klärt Begriffe, nennt Beispiele und erläutert, für was und wieso sie paradigmatisch sind. Die Leserin wird informiert, worum es der Audiokunst im Medium Radio ging, was sie geleistet und was sie augenblicklich anzubieten hat.

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Anspruchsvoll im besten Sinne ist der Beitrag von Elena Ungeheuer. Anhand der Frage »Ist Klang das Medium von Musik?« reflektiert sie über »Formungsbedingungen der Musik« (S. 60) im Besonderen und über Grundlagen der »medienkritischen Analyse kreativer Vorgänge« (S. 63) im Allgemeinen. Konkreter gefasst interessiert sich die systematische Musikwissenschaftlerin dafür, wie jene Übersetzungsprozesse funktionieren, die vom Klang zur Werkstruktur, von der Werkstruktur zur Partitur und von der Partitur zur klingenden Musik führen. Post-strukturalistisch grundierter Widerspruch im Detail mag sich regen, wenn gesprochene Sprache als »natürlich-sprachliche[], unmittelbare[] Äußerung« bezeichnet wird. Es wird nie ganz klar, ob die Autorin ungebrochen an jene »unmittelbare Sinnlichkeit der Klangerscheinung« glaubt, die sie als »das primäre Interesse serieller Komponisten« beschreibt. Doch auch wer geneigt ist, mit Sätzen wie »[d]ie angestrebte Reinheit [des Klangs], in unseren Augen eine Facette ästhetischer Unmittelbarkeit, beweist sich in der Authentizität des hörbar Neuen« uneins zu sein, profitiert von dem Spektrum (generative, phänomenale, mediale, semiotische, performative, magische Unmittelbarkeit), das im zweiten Teil des Beitrags aufgefächert wird.

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Golo Föllmers Beitrag »Meshing Sound Arts« liefert auf knappem Raum eine Übersicht über die Welt der Netzmusik und online sound-Archive. Ähnlich wie zuvor Hagelücken geht es Föllmer, dem Medienwissenschaftler mit Audioschwerpunkt, nicht um die Präsentation einer These, sondern um einen ersten Einstieg in ein Subgenre, für das Klang mehr als ein Objekt und Vernetzung nicht nur technisches sine qua non, sondern auch ästhetisches Verfahren ist.

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Zur Episteme von Notenschrift und Semiotik von Sounds

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Einer zog aus, um der Musikwissenschaft anhand von Pop zu erklären, was die Medienwissenschaft ihr anzubieten hat. Ausgehend von der Auflösung des Dualismus von (musikalischem) Text vs. (musikalischem) Kontext in ein Verhältnis medialer Vermittlung zeigt Jens Gerrit Papenburg, in »Stop/Start Making Sense«, wie Popmusik das Notationssystem an seine Grenzen führt und welche Taubheiten seine Episteme (»das […] was über Musik gewusst werden kann« S. 97) vorgibt. Über den Begriff sound konnte man im Beitrag von Elena Ungeheuer erfahren, dass er sowohl den technischen »Schall« als auch den psychoakustisch konnotierten »Klang« meinen kann (S. 59). Papenburg liefert weitere Definitionen aus den Federn der Medienwissenschaftler Wolfgang Scherer (»das, was der Notenschrift entgeht« S. 97), Friedrich Kittler (»das Unaufschreibbare der Musik und unmittelbar ihre Technik« S. 98) und Stefan Heidenreich (»Rauschen«, »das was in dem älteren Medium nicht darstellbar ist und […] von dem nachfolgenden Medium eventuell dargestellt und dort stilprägend werden kann« S. 98). Auf diesen Begriffen von sound baut Papenburg sein Argument für eine medientechnisch fundierte Musikanalyse auf, bevor er anhand einer kritischen Re-Lektüre abschließend demonstriert, wie sie im Einzelfall aussehen kann und welche Fragen sie stellen muss.

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Um die zeichentheoretische Erfassung von sound ist es Diedrich Diederichsen zu tun. Die »Drei Typen von Klangzeichen«, die er voneinander abgrenzt, sind das punktuell operierende ›Sound-Logo‹, das über einen längeren Zeitraum operierende ›Sound Design‹ (als Beispiel werden ›Wall of Sound‹ und andere ›Soundfarben‹ herangezogen) und der ›Soundeffekt‹. Während die ersten beiden sehr konkret erfasst werden, gleitet der Versuch, den dritten zu umreißen, leicht ins Raunen ab. Die Referenzen auf Peirce (Index, Ikon, Symbol), Adorno (Fetischcharater des Hörens) und Althusser (ideologische Anrufung) bleiben zwar schwebend, aber das stört nicht unbedingt. Dass nicht optimal klar wird, wie genau sich Diederichsens drei Typen zu den zwei Zeichen (kurz und lang) und den zwei Modi der Pop-Musik (musikimmanent und außermusikalisch) verhalten, von denen sein Artikel ausgeht, ist schade. Irritierend ist, dass man immer wieder über unvollständige (S. 114, 115, 121) Sätze stolpert. Doch dafür ist weniger der Autor als das Lektorat verantwortlich zu machen.

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Akademisches Sound Design

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Interdisziplinäre Bände produzieren für gewöhnlich stellenweise Verständnisschwierigkeiten. Das ist normal. Aber Wolfgang Ernst macht es einem wirklich nicht leicht. Schon beim Lesen des einleitenden Sechs-Zeilers zu seinem Beitrag »Im Reich von Δt: Medienprozesse als Spielfeld sonischer Zeit« will einen die Ahnung beschleichen, dass hier zuviel auf zu wenig Raum verhandelt werden wird, um für eine breite Leserschaft produktiv zu sein. Melodie, so heißt es bei Ernst, sei das Paradigma für das Aufeinandertreffen von Medienwelt und Klangwissen, was anhand von epischen Gesängen und digitaler Signalverarbeitung, unter Zuhilfenahme der Hilfswissenschaften Informatik und Neurobiologie, argumentiert werden soll. Ach ja, und um Fouriers Frequenzanalysen und Wavelets soll es auch gehen. Nach diesem Vorspann ist man auf Einiges gefasst, aber es kommt härter. Doch gleich vorneweg: Wer vor der Lektüre dieses Artikels nicht weiß, was Wavelets genau sind, braucht nicht zu glauben, danach schlauer zu sein. Das ist vielleicht auch in Ordnung. Immerhin lässt sich so etwas nachschlagen. Doch der Aufwand, der einem von Ernst insgesamt aufgebürdet wird, führt bald zur Frage, ob dieser Artikel wirklich die Mühe lohnt.

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Auf den ersten drei Seiten fallen, immer en passant, die Namen Lessing, Derrida, Kant, Euler, Heidegger, Platon, Hegel, Goethe, Schiller, D’Alembert, Wiener, Lacan, Bergson, Zenon, Leibnitz, Aristoteles und McLuhan. Gut, das sind jetzt keine Unbekannten und die Herren lohnen bestimmt die
(Re-)Lektüre. Das Problem ist nur, dass an den Stellen, an denen die Leserin – zufällig – über eine gewisse Vertrautheit mit dem je anzitierten Denker verfügt, sich der Verdacht regt, dass sich auch gut ohne diese Referenz ein Punkt hätte machen lassen. Noch dazu tarnt der Punkt sich recht geschickt. Unübersehbar bleibt das wuchernde Gestrüpp großer Namen. Das muss man ebenso mögen wie das apodiktische Nebeneinander der Sätze. Oder man investiert Kraft, um beides ignorieren zu können. Oder man findet sich damit ab, dass man als Adressatin wohl gar nicht gemeint ist, weil der Herausgeber ja offenbar nicht der Meinung war, dieser Artikel sei sperrig bis unlesbar.

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Ist man über diese Klippen hinweg, hat der Beitrag etwas anzubieten: »Die eigentliche Botschaft der elektronischen Medien an die Musik ist also nicht so sehr der synthetische Ton, sondern die musikalische Zeit(phasen)manipulation, ein Eingriff ins Musikalische nicht auf dem Feld des Tons, sondern der Temporalität.« (S. 136) Eine Beobachtung, aus der Ernst eine überzeugende These destilliert:

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»Der akustische Kanal ist medientheoretisch privilegiert, aber nicht, um wieder auf Musik hinauszulaufen, sondern um auf zeitkritische Prozesse und die Analyse mikrotemporaler Ereignishaftigkeit in ganz diversen Feldern hinzuweisen […].« (S. 136)
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Trotz solcher Nuggets bleibt das, was man mit Diederichsen wohl als ›akademisches Sound Design‹ dieses Beitrags bezeichnen könnte, ein Ärgernis.

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Während der Artikel von Ernst eine maximale Distanz zu seiner Leserschaft aufbaut, versucht der von Hubert Schulz, unmittelbar im Anschluss, sie mit seiner wiederkehrenden direkten LeserInnenansprache und dem Verweis auf die gemeinsame körperliche Materialität gen Null gehen zu lassen. Hätte die Rezensentin ihre Gemeinheit besser im Griff, behielte sie ihren unbelegbaren Verdacht für sich, dass der Herausgeber Schulz Ernsts spröden Stil unbeanstandet gelassen hat, um ihn besser als Kontrast zum eigenen Programm nutzen zu können. Performativ durchaus clever. Auch wenn dieses Detail bestimmt nicht bewusst als Kommentar eingesetzt ist, liest sich Schulz’ Beschreibung des Distanzparadigmas der europäischen Kulturen (und Wissenschaften) wie eine Abgrenzung vom akademischen Sound Design à la Ernst:

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Klänge durchspannen die Materie, die wir sind, Sie und ich; von unserem Areal spricht Nancy. Wie fern und schwer begreiflich zu denken uns diese bewegliche Spannung scheint, daran zeigt sich beispielhaft das Distanzparadigma […]: die Annahme, durch größeren Abstand, Nicht-Involviertheit und Nicht-Einstimmung ließe sich eine größere und bedeutsamere Erkenntnis gewinnen als durch Eintauchen, Teilhabe und Einschwingen in Bewegungsformen eines zu untersuchenden Gegenstandes.
(S. 151)
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Um das Eintauchen in verschiedene kulturelle Klangzusammenhänge geht es Schulz dann auch in dem Beitrag „Bewegung Berührung Übertragung«. In neun Abschnitten (zu Raum, Körper, Situation, Kultur, Technik, Erfahrung, Erzählung, Geschichte und Zeit) werden hier Fragen angerissen, »die sich stellen, wenn Menschen mit gegebenen Klängen umzugehen – und in Klängen zu handeln haben« (S. 144). Dieses weitgesteckte Konzept hat eine gewisse Distanz zum einzelnen Gegenstand zur Folge, denn Schulz ist es nicht um detaillierte Analysen von Objekten zu tun, sondern darum, LeserInnen den Einstieg in eine historisch reflektierte Anthropologie des Klangs zu ermöglichen. Daran, dass es eine ausgesprochen ›weiße‹ Anthropologie ist, für die auch die anderen großen Differenz-Kategorien (Geschlecht, Klasse, Sexualität, Alter) offenbar keine Rolle spielen, darf man sich durchaus stören. Dass diese Taubheiten für kulturelle Faktoren und deren Einflüsse auf Hörvermögen, Klangerleben, nicht einmal als fehlend reflektiert oder zumindest markiert werden, ist ein ausgewachsenes Manko.

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Sounds Galore

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Wer sich eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Begriffsentwicklung von sound zwischen den 1930ern und den 1980ern wünscht, ist bei Roger Behrens an der richtigen Adresse. Sein Beitrag »Kann man die Ware hören? Zur Kritischen Theorie des Sounds« liefert, vor allem im Mittelteil (S. 172–177), viel Brauchbares über Konzepte, Facetten und kulturelle Anlagerungen von sound. Ganz unproblematisch ist dieser Beitrag allerdings nicht. Das Quellenverzeichnis führt keinen Titel der jüngeren sound studies auf, der aktuellste überhaupt ist von 2003. In einem so jungen Forschungsfeld bleibt das nicht ohne Konsequenzen. Die von Behrens in Bezugnahme auf Martin Jay formulierte These »die gesamte Entfaltung der Moderne [stehe] unter dem Vorzeichen des Visuellen und der Vorherrschaft des Optischen« ist leicht angestaubt. Man mag noch geneigt sein, sie als state of the art bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts anzuerkennen. Angesichts der Gegenbeispiele, die seitdem angeführt wurden, (Kahn 1 , Thompson 2 und Sterne 3 sind hier drei Klassiker) ist sie eigentlich nicht mehr zu halten. Man mag auch noch bedingt zustimmen, dass sound keine »bloß akustische oder ausschließlich das Akustische betreffende Kategorie, sondern strukturell vom Visuellen oder Optischen bestimmt« sei, auch wenn ›beeinflußt‹ bestimmt ein geschickter gewähltes Wort gewesen wäre. Aber Behrens anschließende Zuspitzung leuchtet nicht mehr ein. Wenn er behauptet »›sound‹ ist Bild; ein ins Akustische erweitertes visuelles Bild« (S. 169), dann stört nicht nur die Tautologie, die später in der Rede vom »akustische[n] Bild« (S.175) ausgeräumt wird, sondern vor allem, dass diese Übersetzung so unproduktiv ist, dass sie falsch wird.

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Georg Spehrs Beitrag über »Funktionale Klänge« verzahnt sich großartig mit dem von Thomas Hermann über Sonifikation und dem von Carl-Frank Westermann über sound branding. Nachdem Industrielle Revolution, Entdeckung des Elektromagnetismus und Digitalisierung als die drei entscheidenden historischen Meilensteine in Bezug auf die Entwicklung funktionaler Klänge benannt worden sind, schlägt Spehr vier ›Spuren‹, sowie eine Seitenspur und ein Zwischen-den-Spuren als Orientierungsraster vor. Als ›Spuren‹ führt er an: Klangliche Repräsentation von Bekanntem (etwa Klingelton des eigenen Handys), affektive Beschreibungen und Erzählfunktionen (z.B. laugh track in sit-coms), Raum und Umgebung (Lärmteppich, Klangatmosphäre) und die klangliche Repräsentation von Unbekanntem (z.B. die aurale Diagnose per Stethoskop). Spehrs ›Seitenspur‹ beherbergt Klangwerkzeuge wie das S.O.N.A.R. und in ›Zwischen den Spuren‹ werden Sonifikation und Mischformen der ›Spuren‹ verhandelt. Abschließend arbeitet Spehr einen (stellenweise redundanten) Katalog von Leitfragen ab, der Komplexität und Anwendung funktionaler Klänge handlich portioniert.

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Sonifikation

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Datensätze kann man hören. Zumindest, wenn sie Thomas Hermann einem Verfahren der Sonifikation unterzogen hat. Welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen, welche Techniken dieses Verfahren umfasst (Audifikation, Parameter-mapping, modell-basierte Sonifikation) und warum man den Hörsinn überhaupt zum Erfassen komplexer Daten nutzen wollen sollte, erklärt der Physiker und Informatiker in »Daten hören«. Wenn man bei seinem Beispiel der »Wettervorhörsage« kommt, einer sonifizierten Form die »in zwölf Sekunden verstehbar und eindrücklicher als die längere sprachliche Fassung« (S. 214) sein soll, bedauert man zum ersten Mal richtig, dass dem Band Sound Studies keine CD beigelegt ist. Zum Glück hilft das Internet aus. Auf der Website des WDR 2 findet sich unter anderen ein knapp dreiminütiger Hörbeitrag von Frank Lechtenberg (vom 13.12.2005) mit Proben davon, wie ein epileptischer Anfall oder ein Verkehrsbericht oder eben die Wettervorhörsage klingt, wenn Thomas Hermann ihre Daten sonifiziert hat 4 .

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Klang in der (künstlerischen) Praxis

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Während Sam Auingers »die zukunft des klangs in der gesellschaft?« assoziativ Anekdotisches (aus dem Sinai-Gebirge und Seoul) zum Thema Hören als Raumsinn liefert, suchen Alex Arteaga und Thomas Kusitzky in »Klangumwelten« zu überzeugen, dass die architektonische Planung in Zukunft auditive Parameter einbeziehen sollte. Was die unkommentierten und an den Fließtext nicht angeschlossenen Fotografien in diesem zweitgenannten Beitrag verloren haben, erschließt sich auch dann nicht, wenn man erfährt, dass alle Bilder demselben Projekt der »Fotographischen Langzeitbeobachtung« jenes Schweizer Ortes entstammen, aus dem auch in Bezug auf auditive Architektur zitiert wurde. Die Fotos in Daniel Otts »Anmerkungen zum Experimentellen in der Musik«, die er unter den Titel »Am Umschlagplatz Klang« gesetzt hat, hingegen unterstützen seine Beschreibung eines sound event mit Klang-Stationen, das der Komponist in Zusammenarbeit mit MusikerInnen des Orchesters basel sinfonietta am Industriehafen Basel-Kleinhüningen 2005/06 umgesetzt hat. Als Praktiker aus der Marketing-Nische des sound branding erläutert Carl-Frank Westermann zum einen, warum akustische Markenkommunikation noch weit hinter dem Geschäft mit visuellen Logos hinterherhinkt, warum er aber zum anderen ein »Plädoyer für multisensorische Markenmodelle« abgibt.

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Zum Abschluss des Bandes setzt Florian Dombois das künstlerische Konzept hinter seinem Projekt »Resonanzböden 1–8«, mit dem er die Ausstellungsräume der Kunsthalle Bern zum Klingen brachte, auseinander. Mit seiner Idee, dass »Geräusche und Klänge – außerhalb der Musik und kompositorischer Verfahren – nicht nur als Untersuchungsobjekt der herkömmlichen wissenschaftlichen Forschung, sondern als eigenständiges Medium der Forschung selbst« (S. 298) zu verstehen sind, gelangt er zur selben Erkenntnis, die Mieke Bal 5 für die visuellen Künste mit dem Diktum »Art Thinks« formuliert hat. Dombois nimmt die Herausforderung des Titels »Desiderate«, mit der der letzte Teil von Sound Studies überschrieben ist, ernst und lässt seinen Wünschen freien Lauf: Dass man »nicht nur über Klänge, sondern auch durch Klänge formulieren können will« (S. 298); dass die Sonifikation sowohl Weiterentwicklung als auch Profilierung erfahren; und dass akustisches Training und die Entwicklung eines »sprachlichen Begriffskanon[s] zur Beschreibung von Klängen« die Herausbildung eines »epistemologischen Hörens« (S. 299) befördern mögen. Schwierig, sich einen besser geeigneten Abschluss für einen Band vorzustellen, der alte Fragen zum Hören und Tönen aus den Fängen des Visualitätsprimats befreien möchte, um sie neu stellen zu können und der neue Fragen über Klänge und Menschen zu entwickeln trachtet, deren Bedingungen gerade erst geschaffen werden.

 
 

Anmerkungen

Douglas Kahn: Noise Water Meat. A History of Sound in the Arts. Cambridge/Mass.: MIT Press 1999.   zurück
Emily Thompson: The Soundscape of Modernity: Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America 1900–1933. Cambridge/Mass.: MIT Press 2002.   zurück
Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction. Durham, London: Duke University Press 2003.   zurück
Mieke Bal: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History. Chicago, London: The University of Chicago Press 2001.   zurück