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Goethe - drei Annäherungen an Leben und Werk

  • Theo Buck: »Der Poet, der sich vollendet«. Goethes Lehr- und Wanderjahre. Köln, Weimar: Böhlau 2008. X, 440 S. Gebunden. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-412-20091-6.
  • Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 2007. VI, 378 S. Gebunden. EUR (D) 59,95.
    ISBN: 978-3-7400-1239-7.
  • Volker Neuhaus: Andre verschlafen ihren Rausch, meiner steht auf dem Papiere. Goethes Leben in seiner Lyrik. Köln: DuMont 2007. 367 S. Gebunden. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-8321-7985-4.
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Literaturwissenschaftliche Darstellungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Goethes Leben in seinen Werken darzustellen, haben es nicht leicht. Die Goethe-Forschung ist geprägt von zahlreichen biographischen Gesamtdarstellungen und unzähligen Einzeluntersuchungen. »Wieviel Goethe braucht der Mensch?« Die Klärung dieser Frage, die Volker Neuhaus in seiner Einleitung aufwirft, mag man den Lesern überlassen. Volker Neuhaus, Wolf von Engelhardt und Theo Buck jedenfalls haben sich intensiv mit Goethe, dessen Leben und Werken beschäftigt und möchten ihre Ansichten einem breiten Leserkreis zugänglich machen.

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1. Volker Neuhaus

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Neuhaus zeichnet in seinem Werk das Leben Johann Wolfgang von Goethes nach. Dabei widmet er sich Goethes lyrischem Schaffen von dessen siebentem bis zum zweiundachtzigsten Lebensjahr. Als Quellen dienen Goethes autobiographische Schriften und die »überschaubaren und leicht zugänglichen Ganztexte, Goethes Gedichte« (S. 11).

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Neuhaus distanziert sich im Vorwort deutlich vom Positivismus, in dem versucht wurde, Goethes Werke allein auf ihre biographische Veranlassung zurückzuführen.

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Der Autor rückt vor allem die intellektuelle und poetische Entwicklung Goethes ins Zentrum seiner Darstellung. Dabei unterwirft er seine Untersuchungen zwei Prinzipien: Chronologie und Systematik. Inhalt des Buches, so Neuhaus, soll die Chronologie des Goethe’schen Lebens sowie die Lyrik sein. Dabei sollen auch deren Systematik, inneren »Folgen« und Konsequenzen zur Sprache kommen. Die Darstellung der ersten Jahrzehnte von Goethes Leben beruht vermehrt auf dokumentarischen Zeugnissen.

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Neuhaus bildet Goethes Leben von Beginn an ab und setzt es zu seiner Lyrik in Beziehung. Er beginnt mit Goethes Herkunft und Familie, stellt das Elternhaus vor und erläutert die umfassende Erziehung der Kinder. Goethe selbst, so Neuhaus, habe von der Bedeutung der Erbanlagen gewusst und dies auch in mehreren Versen festgehalten (vgl. S. 16).

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Begonnen hat der junge Goethe mit einer ganzen Reihe barocker Gelegenheits- und Lehrgedichte. Dass die vom Kind und vom Schüler Goethe fast zufällig erhaltenen ersten dichterischen Zeugnisse mehr Bedeutung hätten als ihnen gewöhnlich beigemessen wird, betont Neuhaus und kritisiert damit zugleich das Goethe-Handbuch, das diese nicht einmal erwähnt (vgl. S. 25). Der Schilderung der vom Vater gründlich geplanten Ausbildung Goethes schließt sich ein Bericht über dessen Erfahrungen während des Studiums in Leipzig an.

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Um die entscheidende Wende, die die Leipziger Jahre für Goethe brachten, in seinem Leben und in seinem lyrischen Schaffen zu verstehen, schildert Neuhaus zunächst den Modernisierungsschub, den der damals siebzehnjährige Goethe mit dem Antritt seines Studiums in Leipzig erfuhr. Als Dichter fand er dort Anschluss an die moderne, herrschende Literatur. Sein lyrisches Schaffen schloss an Anakreontiker wie Gleim, Hagedorn oder den jungen Lessing an. Die Produktivität, die diese Begegnung in ihm freisetzte, zeigt Neuhaus an einigen Gedichten wie »An den Schlaf« (S. 37 f.) und »Hochzeitslied an meinen Freund« (S. 38 f.) auf und stellt dem Leser die ersten drei Sammlungen aus dieser Zeit vor.

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Eine Bewegung, die bleibende Spuren in Goethes Leben hinterließ, war der Pietismus. Neuhaus beschreibt ausführlich die Spuren und die Auswirkungen auf Goethes Leben und Schaffen, die diese religiöse Reformbewegung in Goethes zweiter Frankfurter Zeit, aber auch über den Straßburger Freund Heinrich Jung, genannt Stilling, hinterließ (vgl. S. 54 ff.). Zwar verdankte Goethe den pietistischen Kreisen den Durchbruch durch seine Krise, die zur Abreise aus Leipzig geführt hatte, dennoch findet Neuhaus hierin Erklärung für Goethes späteres »bisweilen ostentativ zur Schau getragenes dezidiertes Heidentum im Umfeld der Italienischen Reise aus dem im Vatikanstaat in jeder Hinsicht herrschenden Katholizismus« (S. 62 f.). Er betont aber auch die positiven Folgen, »Ehrfurcht vor und Liebe zur Bibel und souveräne theologische Kenntnisse« (S. 69), die Goethe als Begleiter in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Christentum bleiben.

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Nicht nur religiösen Quellen, sondern auch naturwissenschaftlichen Studien, vor allem den Impulsen aus der intensiven Auseinandersetzung mit Physik und Chemie, geht Neuhaus nach und verfolgt ihre Auswirkungen auf Goethes Weltbild in der Lyrik. Und schließlich kommen neben der intellektuellen und poetischen Entwicklung Goethes natürlich auch dessen Liebesverstrickungen nicht zu kurz. Von der Liebe des damals Einundzwanzigjährigen zu Friederike Brion ist die Rede, aber auch alle anderen Frauen, die in Goethes Leben eine große Rolle spielten, werden genannt: Lili Schönemann, Charlotte von Stein, Marianne von Willemer, »Faustina«, Christiane Vulpius und Ulrike von Levetzow. In die chronologischen Darstellungen der Lebensgeschichte und die Schilderung der für Goethes literarisches Wirken wichtigen Beziehungen lässt Neuhaus Kapitel einfließen, in denen er Goethes »Liebestheologie« (vgl. S. 110 ff.) oder dessen Prinzip der Liebe reflektiert. Im Kapitel »Goethe und die Ehe« (S. 185 ff.) stellt Neuhaus Goethes unbedingte Hochschätzung der Ehe seiner »wohl zu diagnostizierenden massiven Bindungsangst und seiner lebenslang praktizierten diachronen Polygamie« gegenüber. Positiv zu vermerken ist, dass Neuhaus Goethes Leben ohne moralische Bewertung schildert und seiner im Vorwort artikulierten Prämisse, darauf zu verzichten, »das Buch mit Anmerkungen anzureichern« (S. 14), treu bleibt.

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Fazit

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Volker Neuhaus’ Versuch einer Darstellung von Goethes Leben in seiner Lyrik ist, gemessen an seinen Absichten, als sehr gelungen zu bewerten. Siebzig Jahre lyrischen Schaffens von barocken Lehr- und Gelegenheitsgedichten über den Anschluss an die Anakreontiker bis zu Goethes letzten Jahren sind in diesem Buch zusammengefasst. Neben zahlreichen Interpretationen und ausführlichen Erläuterungen unterschiedlicher Gedichtformen findet der Leser Einblicke in die wichtigsten biographischen Stationen Goethes. Das Verhältnis zu seinen Zeitgenossen wie Klopstock, Hölty, Claudius, Hölderlin, Brentano, Tieck, Eichendorff und Heine wird anschaulich beschrieben. Die beachtenswert lange lyrische Schaffensperiode des Dichters, die die Epochen der Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Klassik bis hin zur Spätromantik produktiv gestaltete, ist sehr lesenswert und informativ wiedergegeben.

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2. Theo Buck

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Theo Buck stellt seine Untersuchungen unter die Maxime, Goethes »künstlerische Entwicklung in den ›Lehr- und Wanderjahren‹, also von den Anfängen bis zur Rückkehr von der italienischen Reise, so zu verfolgen, dass aus den jeweiligen Lebensumständen heraus sein Weg zur Kunst am Beispiel exemplarischer Texte nachvollzogen werden kann« (S. IX). Deutlich grenzt er sein Vorhaben sowohl von den biographischen Darstellungen ab, die zwar die Lebensspur Goethes erschöpfend nachzeichnen, dabei jedoch dessen ästhetische Entwicklung nur skizzenhaft erfassen, als auch von Einzeluntersuchungen, die umfassend Werke interpretieren, dabei aber die Verbindung zum Leben des Dichters nicht hinreichend berücksichtigen. Bucks Anliegen ist es, »Goethes spezifische Gestaltung von Werk und Leben konkret miteinander zu verbinden« (S. IX).

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Goethes künstlerische Entwicklung
von den Anfängen bis 1775

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Im ersten Teil seiner Ausführungen lenkt Buck die Blicke des Lesers auf Goethes künstlerische Entwicklung bis zum Jahr 1775. Ausgehend von den Vorgaben und Neigungen, die Goethe in seinem Elternhaus erfahren hat, sowie von der Provinzialität und dem Kosmopolitismus, die in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main keineswegs im Gegensatz standen und Goethes Kindheit und Jugend prägten, entwirft Buck ein Bild Goethes, das bereits in den Jugendjahren von dessen deutlichem Bedürfnis nach unbedingter Wahrung der inneren Freiheit zeugt.

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Schon in den höchst produktiven, aber äußerst unruhigen Frankfurter Jahren zwischen dem Studium in Straßburg und dem Weggang nach Weimar prägte Goethe 1772 für die sein Leben und Tun nach außen abschirmende Grundbewegung den vielschichtigen Begriff des »Fremdlings-Reisetritts« (S. 3). Buck erkennt in diesem typischen Sturm und Drang-Wort das unbeirrbare Fortschreiten des Wanderers auf seinem Lebensweg und auch die Vorwegnahme des lebenslangen Bedürfnisses, sich drohender Bindung notfalls schroff zu entziehen. Goethes Flucht aus dem Elternhaus und seine Leipziger Studienzeit, die er wohl als langersehnte Befreiung von väterlicher Lenkung empfunden haben mag, seien ebenso wie seine Flucht von »Käthchen« Schönkopf das Zeugnis jäher Verabschiedungen im Rahmen der Lebensgestaltung Goethes (S. 7).

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Im Kapitel »Durchbruch zur Dichtung in Straßburg« stellt Buck Goethes Aufbruch nach Straßburg dem Leser als »Sonnenaufgang Goethes als Künstler« vor (S. 10). Die Begegnung und die regelmäßigen Gespräche mit Johann Gottfried Herder, die in Goethe starke Wirkungen auslösten, aber auch Liebesfreud und Liebesleid werden in ihren Folgen für die Dichtung am Textbeispiel »Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde« dargelegt.

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Die in Straßburg aufgenommene Fülle an kreativen Anregungen wirkte nach. Buck nennt beispielhaft die unmittelbare Erfassung einfacher Gefühle und seelischer Schwingungen, Sprachgebung im Gestus des Volkslieds, bildlich-plastisches Sprachdenken, mit denen Goethe eine literarhistorische Zäsur setzte (vgl. S. 17). Eingehend beschreibt er die für die poetische Entwicklung prägenden Geschehnisse in den wenigen Monaten zwischen der Rückkehr Goethes aus Straßburg und der Abreise nach Wetzlar, schildert detailliert die Neuorientierung nach dem Muster der griechischen Literatur, allen voran Pindar, und analysiert die praktische Umsetzung in »Wandrers Sturmlied«.

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Die Grundlage für den endgültigen literarischen Durchbruch sieht Buck jedoch im Götz von Berlichingen. Über Goethes Intermezzo als Stückeschreiber erfährt der Leser im fünften Kapitel. Zwei Projekte rückt Buck hier im Hinblick auf Goethes weitere Entwicklung in den Mittelpunkt seiner analytischen Auseinandersetzung: das Faust-Projekt und das geplante Prometheus-Drama. Immer wieder lässt er in die Darstellungen des künstlerischen Schaffensprozesses und die Analysen der dramatischen Versuche Goethes den Autor selbst zu Wort kommen und zitiert aus Briefen und Werken.

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Goethes künstlerische Entwicklung
im ersten Weimarer Jahrzehnt 1775–1786

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Im zweiten Teil widmet Buck sich den fast elf Jahren zwischen dem Eintreffen Goethes in Weimar und dessen heimlicher Abreise nach Italien. Den Goetheforschern zum Trotz, die Goethe in diesem Zeitraum als zum hohen Staatsbeamten aufgestiegenen und die Dichterarbeit vernachlässigenden Höfling sehen und sein Wirken in künstlerischer Hinsicht als geringfügig einstufen, betont Buck, dass Goethe auch im ersten Weimarer Jahrzehnt als Künstler tätig war. Ausgehend von der Frage »Lebenskrise oder Neuorientierung?« skizziert er die an Goethe gestellten vielfältigen Anforderungen der Verwaltungsrealität, denen er nachkam, ohne »darüber zu vergessen, sich einen inneren Freiraum als notwendiges Gegengewicht zu bewahren« (S. 86). Bucks Beobachtungen, wie dies dem Künstler gelang und welchen Schwierigkeiten er dabei begegnete, geben detaillierten Aufschluss über Goethes künstlerische Entwicklung zwischen 1775 und 1786.

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Den Verbleib Goethes in Weimar begründet Buck mit der Begegnung mit Charlotte von Stein. Ausgehend von der »für beide erhebenden seelisch-geistigen Wechselbeziehung« (S. 90) analysiert Buck das Briefgedicht »Warum gabst du uns die Tiefen Blicke« vom April 1776, charakterisiert aber auch Goethes soziales Verhalten und seine produktiven Entwicklungen unter dem Einfluss Charlottes.

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Als Hofbeamter und Zaungast der »Weltpolitik« erweist sich Goethe als vielseitig einsetzbarer und tatkräftiger Beamter im Dienste Carl Augusts. Buck schildert zunächst die Beamtentätigkeit des Dichters, um dann ausgehend von der folgenden Entfremdung vom Hofleben erneut Goethes Reisen darzustellen, die dieser »als produktive Antriebskraft wie auch als wirksame Gelegenheit, seelische Krisen durch radikale Distanznahme zu bewältigen«, angesehen habe (S. 105).

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Welche besonderen Bedeutungen einigen der Reisen zukommt, die wichtige Denkpausen eröffneten, Selbstbewahrung ermöglichten und als »Fremdlings-Reisetritt« einen Grundbestandteil der Lebensgestaltung Goethes bildeten, stellt Buck beispielhaft an der Reise nach Leipzig 1776, der Harzreise 1777, der Berlinreise 1778, der Schweizreise 1779 bis 1780, der Reise durch den Thüringer Wald 1780 und den Sommerreisen nach Karlsbad 1785 und 1786 vor. Dem Leser bringt er damit einhergehende Entwicklungen Goethes und seine auf der Reise gewonnenen Eindrücke in den Interpretation von »Harzreise im Winter«, »Gesang der Geister über den Wassern« oder »Wandrers Nachtlied« sehr fundiert und überzeugend näher. Die Bilanz der einzelnen Reisen und die einfühlsame Darstellung von Goethes veränderter Blickweise auf das Weltgeschehen finden zunächst integriert in die Gedichtanalysen Raum.

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Buck schließt diesen Teil seiner Ausführungen mit einem umfassenden Überblick über die literarischen Arbeiten im ersten Weimarer Jahrzehnt. An Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Egmont und der in Weimar entstandenen prosaischen Erstfassung der Iphigenie stellt Buck dem Leser Goethe als »Simultankünstler aus kreativer Rastlosigkeit« vor, der nie die in Arbeit befindlichen Texte aus den Augen verloren habe, und konstatiert: »Schon vor der Abreise [aus Weimar] war [Goethe] zum Künstler gereift, der die Schwelle zur klassischen Dichtung betreten hatte«. (S. 167)

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Goethe in Italien –
Selbstfindung des Künstlers

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Der dritte und umfangreichste Teil des Buches widmet sich der Formwerdung des Künstlers während der Reise nach Italien. Goethe, der von früher Kindheit an mit Sprache, Geschichte, Literatur, Musik und bildender Kunst Italiens in Berührung gekommen war, habe in Italien, so Buck, wohl so etwas wie den »Zielpunkt seines Bildungsplanes« gesehen. (S. 168). Buck gibt Aufschluss über Goethes Reiseerwartungen und führt dem Leser die vielfältigen Eindrücke der Reise von Karlsbad nach Rom, die ihn unter anderem über Verona, Vicenza, Padua und Ferrara führte, vor Augen, die in dem fünfteiligen rekapitulierenden Brieftagebuch an Charlotte von Stein festgehalten sind. Im Zentrum der literarischen Bemühungen in den Wochen zwischen der Flucht aus Karlsbad bis zum Eintreffen in Rom stand jedoch in erster Linie die Überarbeitung der Iphigenie. Welch immense Aufgabe mit der Umarbeitung des Dramentextes in Verse verbunden war, zeigt Buck am konkreten Vergleich des Eingangsmonologs der beiden Fassungen.

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Welche Früchte Goethes erster Aufenthalt in Rom als »Künstler unter Künstlern« trug, stellt Buck detailliert anhand der Beziehungen zu Tischbein und Angelika Kauffmann dar. Zwar habe Goethe in Rom von vornherein als überlegene Autorität gegolten, sein kollegial-unprätentiöses Verhalten hätten ihm die bildenden Künstler jedoch in verehrend-freundschaftlicher Verbundenheit gedankt. Buck betont, dass die ästhetische Umorientierung sich während des ersten Weimarer Jahrzehnts bereits angebahnt hatte, in Rom sich jedoch die verschiedenen Ansätze nun zur programmatischen Überzeugung festigten (vgl. S. 200). Die Schilderung des ersten Rom-Aufenthalts beendet Buck mit einer »poetischen Bilanz der ersten Wochen in Rom« und geht hierbei vor allem auf die Fertigstellung der Iphigenie ein (S. 215 f.).

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Zwischen die Schilderungen der beiden Rom-Aufenthalte stellt Buck ein Kapitel, das er der Reise durch Süditalien widmet. Reiseerfahrungen, aber auch Goethes Beziehungen und Kontakte zu den Weimarer Freunden werden hier beleuchtet. Buck hält Goethes Maxime, der dieser ab jenem Zeitpunkt folgte, fest: »Kunst im Leben und Leben in der und für die Kunst. Ab jetzt fühlte er sich als ein voll im Leben stehender, sinnlich gestärkter Dichter.« (S. 227) Anhand der Naturstimmungen, die Goethe in Sizilien aufnahm und die Goethe zugleich auch Distanz zu lebendiger Realität erreichen lassen, erkennt Buck »eine wahrhaft kopernikanische Wende in seinem Schreiben« (S. 239). Die Sizilienreise gilt Buck als entscheidender Schritt für die »stilisierende Einfachheit, typisierende Klarheit und eine die Realität aufreißende symbolische Idealität« in der Kunst Goethes (S. 241).

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Anhand ausgewählter Gedichte und Reiseberichte erläutert Buck die ganze Breite der ästhetisch eingefangenen und festgehaltenen Gefühlsskala, die Goethe auf seiner Reise durchlebte. Besondere Aufmerksamkeit erfahren »Cupido, loser eigensinniger Knabe« und auch die Begegnung mit »Faustine«, die in den »Römischen Elegien« Nachklang fand.

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Die Schilderung des zweiten Rom-Aufenthalts setzt einen Schwerpunkt in der Analyse von Goethes literarischem Schaffen. Hauptziel der literarischen Arbeit während der ganzen italienischen Reise war die möglichst weitgehende Beförderung der bei Göschen erscheinenden Werkausgabe. Zwar blieben einige während der Reise begonnenen oder angedachten Projekte wie Iphigenie auf Delphos oder Der Groß-Cophta liegen. Dennoch widerspricht Buck den Behauptungen, Goethe habe in Italien über der intensiven Natur- und Kunstbetrachtung die eigenen literarischen Aktivitäten vernachlässigt, sehr energisch. Ausführlich schildert er die Fertigstellung von Egmont und die Weiterarbeit am Faust und betont Goethes »kreative Wiedergeburt als Dichter« in Rom (S. 296).

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Im letzten Kapitel begleitet Buck Goethe auf dessen Rückkehr nach Weimar. »Belebt und inspiriert von der kreativen Idee des Südens«, gefestigt in »innerer Ruhe und Selbstsicherheit« – dieses Bild zeichnet Buck von dem reiseerfahrenen Goethe und zeigt auf, inwiefern die neu erlangte Lebensphilosophie und Kunstauffassung sich in lyrischen Reaktionen auf seine Rückkehr und vor allem auf Christianes Erscheinen in seinem Leben widerspiegeln.

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Goethes Leben seit der Rückkehr von Italien, so resümiert Buck, unterscheide sich wesentlich von demjenigen vor seiner Flucht. Trotz der äußeren Widrigkeiten, die der Zurückgekehrte vor allem in der ersten Zeit erfahren musste, gestaltete sich sein Leben durchaus zufrieden stellend. Politisch gesehen habe ihn die Italienreise zu einer »übernationalen und überhistorischen Perspektive« (S. 346) geführt. In der in Italien geleisteten Lebensarbeit, der dort erzielten poetischen Erfahrung und der allmählichen Entwicklung neuer dichterischer Kräfte sieht Buck den Grundstock für die weitere Arbeit Goethes.

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Fazit

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Theo Buck begleitet in seinen Darstellungen Goethe auf dem Weg von seinen dichterischen Anfängen bis zur Rückkehr von der italienischen Reise. Die Konstante im Lebensprozess Goethes sieht Buck in dessen Bedürfnis nach unbedingter Wahrung der inneren Freiheit. Diesem Ansatz liegen die biographischen Schilderungen und die zahlreichen Analysen der in Goethes so genannten »Lehr- und Wanderjahren« entstandenen Werke zugrunde. Fundiert und überaus anschaulich und einfühlsam zugleich analysiert Buck Goethes dichterische und künstlerische Entwicklung auf den verschiedenen Etappen dieser Lebensspanne und setzt sein Anliegen, dem Leser vertieften Einblick in den Prozess des dynamisch-kreativen Künstlertums Goethes zu verschaffen, hervorragend um.

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3. Wolf von Engelhardt

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Wolf von Engelhardt, Mineraloge und Herausgeber naturwissenschaftlicher Schriften Goethes, möchte diesen in seinen Zeitverhältnissen darstellen, »wie er sich eine Welt- und Menschenansicht gebildet [hat]« (S. VI). Sein Anliegen ist es, dass Werke, die Goethe uns als Künstler, Dichter, Schriftsteller und Naturforscher hinterlassen und in denen er offen und verborgen Ansichten über die Welt und über den Menschen in der Welt zum Ausdruck gebracht hat, mit den Lebensverhältnissen verbunden und in den Rahmen seiner Biographie gestellt werden. Basis hierfür bilden Szenen des acht Jahrzehnte währenden tätigen Lebens. Einen Lebensabschnitt nach dem anderen beleuchtet von Engelhardt und rückt dabei Goethes Streben nach umfassender Sicht und Erkenntnis in den Vordergrund.

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Goethes jugendliches Streben
nach umfassender Sicht und Erkenntnis

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Den Beginn der chronologisch angelegten Untersuchung macht unter der Überschrift »Frühe Ahnung« die detaillierte Auseinandersetzung mit Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit. Die folgenden Kapitel beruhen weitgehend auf direkten und indirekten Zitaten dieser Quelle. Von Engelhardt zeichnet die wichtigsten Entwicklungen und Wendepunkte in Goethes Leben nach, wobei er durchaus berücksichtigt, dass Dichtung und Wahrheit die Geschichte von Kindheit und Jugend so darstellt, wie diese dem 62jährigen Chronisten noch präsent waren und er vergangenes Erleben und Geschehen durch das Studium schriftlicher und mündlicher Quellen rekonstruieren konnte. Zu beachten sei dabei auch, dass die autobiographischen Zeugnisse die ersten 26 Lebensjahre in die Zusammenhänge der eigenen Biographie und des Zeitgeschehens bewusst eingeordnet wurden (vgl. S. 1).

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Von Engelhardt weist auf Goethes Blick auf die Natur und dessen zerlegenden Umgang mit Naturkörpern und Naturphänomenen hin, die bereits die späteren anatomischen Studien des Naturforschers erahnen ließen. Er skizziert Goethes Studienzeit in Leipzig nebst den Unannehmlichkeiten, denen dieser in der Fremde ausgesetzt war, und hält fest, dass Goethe rückblickend keine wesentliche Vermehrung oder Vertiefung seiner Bildung erfahren zu haben scheine (vgl. S. 15). Von der besonderen Verwandlung in der Gesinnung des jungen Goethe unter dem Einfluss Langers hinsichtlich der »religiösen Gesinnungen« und »Angelegenheiten des Herzens« und der daraus resultierenden Bekehrung im Sinne der Pietisten zeugten Briefe aus dieser Zeit (S. 25). Von Engelhardt untersucht in diesem Zusammenhang die Wandlung von Goethes Weltansicht während der Zeit, die er als Kranker und Genesender in Frankfurt verbrachte. Dem Bericht über die Straßburger Zeit folgt eine gründliche Analyse des Gedichts »Wandrers Sturmlied«, in dem Goethe die Nachahmung Pindars als erlebtes Scheitern darstellt (vgl. S. 67 ff.), sowie eine Darstellung von Goethes Auseinandersetzung mit dem Prometheus-Mythos (vgl. S. 75 ff.).

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Goethes Naturforschung –
Wege zu eigener Weltansicht

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Im vierzehnten Kapitel zieht von Engelhardt eine erste Bilanz aus den bisher dargestellten Lebensabschnitten Goethes: Die ersten Kapitel, die chronologisch Goethes literarisches Schaffen, aber vor allem seinen Lebensweg von Weimar nach Italien und wieder zurück nach Weimar nachzeichnen, stellen immer wieder Ideen in den Vordergrund, die Goethe in der ersten Hälfte seines Lebens in dem Bestreben bewegten, »die Welt, besonders die Welt als Natur, zu begreifen« (S. 187).

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In früher Jugend, so hält von Engelhardt fest, vermittelten Alchemie und Traditionen der Philosophia perennis ein in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit verwurzeltes Weltbild, dessen sich der junge Goethe durch eigene Experimente zu versichern suchte. Später habe Goethe sich modernes Wissen über den Bau der menschlichen und tierischen Körper erworben und sich in Jena und Weimar mit dem Reich der Pflanzen vertraut gemacht. Parallel zur wissenschaftlich befestigten Erfahrung von Natur und natürlichen Prozessen habe Goethe stets versucht, die ästhetisch erlebte Eigenständigkeit der Naturwelt als Künstler zum Ausdruck zu bringen (vgl. S. 186).

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Zwar habe Goethe anfangs versucht, Naturforschung im Einvernehmen mit den Naturforschern der Zeit zu betreiben, wagte es dann aber, gestärkt durch die Begegnung mit der Philosophie Kants und der Rezeption von dessen Ideen, mit Publikationen vor die Öffentlichkeit zu treten, die methodisch nicht konform mit der damals betriebenen Wissenschaft waren. Von Engelhardt nimmt hier ausführlich die Rezeption der Kantischen Ideen und Theorien durch Goethe sowie die Überschreitung der von Kant gesetzten Grenzen in den Blickpunkt seiner Untersuchung. Bereits das als Exkurs angelegte 12. Kapitel (S. 164–166) weist die revolutionäre Wandlung auf, die Goethes Naturverständnis und die Prinzipien seiner Naturforschung durch die Begegnung mit der Kantischen Philosophie erfuhren.

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Auf die Bedeutung von Fichtes Wissenschaftslehre für Goethes Natur- und Weltverständnis, die bisher nicht erkannt worden war, weist von Engelhardt ausdrücklich hin. Fichtes Idealismus und die Lektüre seiner Programmschrift, so der Autor, hätten eine Erneuerung des Verständnisses von Natur und Naturforschung bewirkt (vgl. S. 203).

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Schellings Naturphilosophie und allgemein dessen philosophischer Ansatz, so unterstreicht von Engelhardt, verlangen ein näheres Eingehen, um die Rezeption von Schellings Ideen durch Goethe und sein Fortschreiten in das neue Jahrhundert zu verstehen. Der eingehenden Darlegung von Schellings Naturphilosophie folgt eine gründliche Analyse der Goethe’schen Rezeption, die belegt, dass er sich in der Absicht, die Natur im Sinne der »theoretischen Vorstellungsart« Schellings zu verstehen, den romantischen Naturforschern durchaus verbunden fühlte, aber dennoch einen eigenen Weg verfolgte (S. 233).

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Auf die »Farbenlehre« geht von Engelhardt besonders ein und stellt dieses Werk, das wie kein anderes unterschiedliche Beurteilungen erfahren hat, detailliert in Inhalt und Aufbau vor (S. 247–261). In Kapitel 19 springen von Engelhardts Ausführungen von den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes erneut zum literarischen Werk und er widmet die folgenden Kapitel der analytischen Darstellung ausgewählter Szenen des Faust, bei denen er dem Leser vor allem die Fortführung der Ideen Fichtes durch Schellings Naturphilosophie und Goethes eigenes Verständnis der Natur verdeutlicht. Bei der Interpretation der Wahlverwandtschaften weist von Engelhardt darauf hin, dass deren Handlung fast ausschließlich in der freien Natur spiele und die »Natur selbst in schöner Genauigkeit in Erscheinung trete« (S. 282).

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Nach einem kurzen Zwischenbericht über Dichtung und Wahrheit und die Wanderjahre kehrt der Autor erneut in die Chronologie des Schaffens und Lebens Goethes zurück und widmet sich ausführlich der Analyse des Festspiels Pandora. Die hier vermittelte Botschaft, so erfährt der Leser, betreffe eine Antinomie, deren elementarer Rang durch die beiden mythischen Gestalten der vorolympischen Urzeit, Epimetheus und Prometheus, bekundet werde (S. 305).

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Die letzten Jahre Goethes waren geprägt durch Vollendung der großen Werke Wanderjahre, Dichtung und Wahrheit und der Faust-Tragödie. Dennoch entstanden in dieser Zeit auch Texte und Gedichte, in denen sich nicht nur die bisher erworbene Erkenntnis, sondern auch das nicht nachlassende Bemühen um umfassende Weltansicht zeigt. Von Engelhardt zeigt besonderes Interesse an den Heften Zur Naturwissenschaft, an den Gedichten Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten und den Heften Zur Morphologie, da Goethe nun nicht mehr auf seinen Ansichten bestehe, sondern diese dadurch profiliere, dass er auch andere Wege, die Welt zu begreifen und sich in ihr zurecht zu finden, in Betracht ziehe (S. 319).

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Fazit

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Goethes Weltansichten protokolliert, wie Goethes Blick auf die Natur sich nach und nach in den einzelnen Lebensabschnitten entwickelt hat. Ausgehend von der Autobiographie Dichtung und Wahrheit zeichnet Wolf von Engelhardt in dem ersten Teil seines Buches die biographische Entwicklung Goethes nach. Goethes Ansichten der Welt und des Menschen in der Welt, ihre Entstehung, Wandlung, Entwicklung und Festigung, wie sie in den poetischen Werken zum Ausdruck kommen, stehen im Vordergrund der Analysen. Der zweite Teil dagegen zeugt von intensiver Auseinandersetzung des Autors selbst mit den Lehren und Theorien Spinozas, Kants, Fichtes und Schellings und deren kritische Rezeption durch Goethe.

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Resümee

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Dreimal Goethe – und dennoch verschieden. Drei Autoren und renommierte Literaturwissenschaftler bzw. Goethe-Kenner nähern sich Goethe unter verschiedenen Gesichtspunkten. Alles in allem bilden die drei Goethe-Bücher zwar eigenständige Analysen, aber sie ergänzen sich dennoch gerade in ihren unterschiedlichen Ansätzen. Neue Erkenntnisse in strengem Sinn kann der fundierte Goethe-Kenner vielleicht nicht gewinnen, aber neue Sichtweisen auf Goethes Leben und seine Werke eröffnen sich für den Laien wie für den Goethe-Kenner in jedem Fall.