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Am Anfang steht das Endspiel

Peter-André Alt über Goethes und Schillers
Dramen »an der Schwelle zur Moderne«

  • Peter-André Alt: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München: C. H. Beck 2008. 310 S. Gebunden. EUR (D) 26,90.
    ISBN: 978-3-406-56929-6.
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Könnte man über kanonische Texte nichts Neues mehr sagen, würde dies jegliche literaturwissenschaftliche Anstrengung nicht nur ad absurdum, sondern auch ans Ende der Disziplin führen. Nicht umsonst stellen die Neuperspektivierung gerade vermeintlich bereits erschöpfter Sachverhalte und die daraus resultierenden interpretatorischen Anfänge die Arbeitsgrundlage der Literaturwissenschaft dar. Auf dieser Basis baut nun erklärterweise auch Peter-André Alt seine Untersuchung über einige der bekanntesten dramatischen Texte von Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller auf. In Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers geht es ihm insbesondere darum, die aus der philologischen Lektüre des literarischen Einzelfalls gewonnenen Befunde noch mehr als bislang üblich in den Kontext von Gesellschafts- und Geschichtstheorie zu stellen.

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Zentraler Ansatzpunkt hierbei ist die Auseinandersetzung mit den literarischen Formen, durch die sowohl Goethe als auch Schiller »den Zusammenbruch des alten Staates und die Erosion seiner politischen Grundsätze« (S. 8) reflektierten. Dieser Blickwinkel zieht unweigerlich auch eine Analyse des spannungsvollen Geschichtsbildes nach sich, das in den ausgewählten Dramen – »in denen die erste europäische Modernitätskrise im Umfeld der Französischen Revolution thematisch wird« (S. 9) – zum Ausdruck kommt. Exemplarisch kann hier etwa Schillers Wallenstein genannt werden, dem Alt einerseits zuschreibt, als »Tragödie der verpassten Gelegenheiten« (S. 179) die Beschleunigungserfahrungen der Französischen Revolution sowie den Verfall des ancien régime widerzuspiegeln. Andererseits sei hier auch die ambivalente Funktionsbasis neuzeitlicher Herrschaftspraxis offen gelegt, in der zwar die individuelle Verantwortung eingeschränkt, aber die persönliche Haftbarkeit dennoch nicht ausgeschlossen werde.

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Wenn Alt für die Umschreibung seines Vorhabens die Endspiel-Metapher anführt, dann vor allem um klar zu machen, dass hier tatsächlich etwas auf dem Spiel steht: Und zwar die Identitätskonstruktionen des neuzeitlichen Individuums, dessen Ohnmacht »vor den zunehmend anonymisierten Kräften der Geschichte« (S. 12) literarisch offenbart werde. Die Fokussierung auf diese literarischen Offenbarungen »[a]n der Schwelle zur Moderne« (S. 11) bringe letztlich Ambivalenzen zum Vorschein, die nicht als ästhetische Konstruktionsfehler zu deuten, sondern vielmehr als Elemente einer überraschend modernen Kunstkonzeption zu werten seien.

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Tragödienkonzeptionen:
Katharsis versus Struktur des Gegensatzes

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Gemeinsam war Goethe und Schiller unter anderem, nach den Möglichkeiten der dramatischen Kunst zu fragen – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Alt verweist hier vor allem auf die stärkere Systematik in Schillers Herangehensweise an den Gegenstand. Wo Goethe eher okkasionell gearbeitet hat, wählte Schiller die Form des theoretischen Essays, über die er seit den 1790er Jahren versuchte, die Tragödie zu definieren. Als Grundlage derselben identifizierte Schiller dabei schließlich eine Paradoxie, die aus der Aufgabe der Kunst resultiere, auf kontemplative Weise das moralische Bewusstsein zu befördern: Das von der Tragödie gestiftete Vergnügen werde nämlich primär durch ein Missvergnügen – »die Zweckwidrigkeit des leidenden Menschen« (S. 40) – hervorgerufen. Der Tragödienheld demonstriere in der Leidenssituation seine moralische Autonomie, was zu ästhetisch vermitteltem Vergnügen beim Publikum führe; insbesondere am Begriff des Opfers lasse sich diese paradoxe Tragödienstruktur verdeutlichen. Zur Basis von Schillers Tragödientheorie wird demnach das Prinzip der inneren Freiheit, »die ästhetische Inszenierung des individuellen Widerstands gegen externe Zwangslagen als Signum moralischer Unabhängigkeit« (S. 41) und damit die Idee des Erhabenen.

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Dieser moralischen Perspektive stand Goethe skeptisch gegenüber. Schon seine dezidierte Abgrenzung von der Emotionsästhetik im Sinne Sulzers mag hierfür als Indiz gelten. Denn nicht eine Echtheit des Gefühls bildete das Zentrum von Goethes Bühnenstil, sondern es ging ihm auch während seiner Zeit als Weimarer Theaterdirektor von 1791 bis 1817 in erster Linie um eine hoch differenzierte Technik des Schauspielers, deren Werte wie ›Schicklichkeit‹, ›Würde‹, ›Dezenz‹ und ›Maß‹ dem Bereich höfischer Verhaltensregeln entlehnt waren. Alt weist außerdem darauf hin, dass Goethes Theaterästhetik mit dieser Ausrichtung des Bühnenstils an höfischen Verhaltensmustern auch zu sehen sei als eine Fortführung des französischen Klassizismus, als eine »sublime Ästhetik des hohen Tons« (S. 30). So komme man nach Goethe dem ästhetischen Ereignis, das die Tragödie zweifelsohne darstellt, nur über die Erfahrung der Form nahe, nicht aus einer moralischen Sichtweise heraus.

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Grundlegendes Charakteristikum des Dramas sei für Goethe die Struktur des Gegensatzes, wobei er dem kathartischen Prinzip wenig Vertrauen entgegenzubringen schien: »Die tragische Dramaturgie der Extreme, die aus radikalen Gegensätzen eine transzendente Lösung hervortreibt, steht im Verdacht des Krankhaften« (S. 39). Dieser Umstand bedinge für Goethe die Notwendigkeit, das Drama als Kunstwerk zu betrachten, wodurch dieses stets der Selbstreflexion seiner eigenen Struktur bedürfe, »aus der sein Kunstcharakter und seine Beschaffenheit als ›Spiel‹ hervorgeht« (S. 39).

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Goethe: Der Teufel als ästhetisches Prinzip

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Eines der wohl markantesten Beispiele für Goethes Forderung nach Selbstreflexion der Literatur findet sich in seiner Mephisto-Figur. Entsprechend der im 18. Jahrhundert einsetzenden Entwicklung, während der die spezifische Gestalt des Teufels vermehrt als ein Ergebnis kultureller Imagination wahrgenommen wurde und infolgedessen an Aura einbüßen musste, verweise Goethes Teufel auf die neuen Formen literarischer Inszenierung, die dem Bösen damit ermöglicht wurden. So interpretiert sich Mephisto zum Beispiel kontinuierlich selbst und mache sich auf diese Weise kenntlich als Produkt einer kulturellen Tradition. Zwar aktiviere Goethe die Leibniz’sche Auffassung der Essais de theodicée (1719) – nach der das Gute nur im Verhältnis zum Bösen existieren könne und Letzteres demnach ein vom Schöpfer gewolltes Element gewesen sei – schon im Prolog. Auch indem sich Mephisto später vorstellt als ein »Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft« (Vs. 1335 f.) offenbare sich die systemstabilisierende Funktion des Bösen. Darüber hinaus verdeutlicht Alt aber auch, dass Goethes Teufel für eine Rollenvielfalt stehe: Für den Materialisten, der den Rausch der Walpurgisnacht genießt, für den Pedanten, der unbedingt eine Unterschrift unter den Vertrag haben will, und genauso für den lässigen Weltmann, der eben mal fortgeht.

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Dem Umstand Folge leistend, dass das Böse nicht mehr mit den traditionellen Rollen verkörpert werden kann, zeige sich Mephisto also geprägt von einer paradoxen Grundstruktur der Nicht-Identität und des damit verbundenen Rollenwechsels, als veritable »Verkörperung des Widerspruchs« (S. 82). Und auch wenn Mephisto als Intrigant die Handlungen Fausts ins Rollen bringt und bis zur Katastrophe der Gretchenhandlung steigert, agiere er als Interpret – als »rhetorische Figuration« (S. 89) des Bösen – stets mit den Worten der Vernunft und bekräftige damit das in den Eingangsszenen dargestellte Machtverhältnis. Fausts Mephisto zeige sich folglich als ein moderner Teufel ohne Körper, wodurch das Böse zu einer intellektuellen Perspektive werde, »aufgehoben in […] der Rhetorik des kühlen Beobachters« (S. 77 f.). Damit handle es sich hier um eine Figur, die das Beobachtungsverfahren der Literatur selbst reflektiere und dadurch den Weg in die Moderne vorzeichne, »die den Teufel im Rahmen ihrer nicht mehr schönen Künste zum ästhetischen Prinzip« (S. 90) erhebe.

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Schiller: Androgynie und geopferte Königinnen

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Dieser Weg in die Moderne findet sich nach Alt auch bei Schiller verschiedentlich vorgezeichnet, unter anderem über das in der Jungfrau von Orléans vorgeführte Subjekt im Zustand elementarer Spaltungserfahrung. Hatte schon Goethes Iphigenie auf Tauris eine »Neubestimmung der weiblichen Rollenidentität« (S. 93) inszeniert – in deren Folge Iphigenie als Subjekt in einem letztlich auf der Basis von Sprache zu regelnden Konflikt nur über ihre Aufgabe als Vermittlerin existent sei –, so funktioniere auch Schillers Johanna als Medium eines Auftrags. Während es in Goethes Iphigenie die schöne Seele sei – weder Mann noch Frau –, die sich in der Sprachbewegung des Dramas präsentiere, gehe es bei Schiller um die virgo militans, die nur dort ihre Mission erfüllen kann, wo sie ihrerseits weder Frau noch Mann ist; womit ihre Androgynie aus einem generellen Abstand gegenüber Identität und Sexus resultiert. Es ist Kleists Penthesilea, mit der die Schiller’sche Johanna die Erfahrung einer Unversöhnlichkeit von Gefühl und Rolle teilt. Anders jedoch als ihre literarische Leidensgenossin wird Johanna in der ästhetisch überhöhten Lösung des Schlussakts zu ihrer Mission zurückkehren, wobei ihr die ungelöste Spaltung zwischen Rolle und Identität aber erhalten bleibt, denn als Liebende muss sie auf ihren Lionel verzichten: »Jenseits der literarischen Verklärung, die der Schluss bereithält, liegt […] eine Psychologie der Entzweiung« (S. 106).

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Ebenso ambivalent stellen sich die Ausgänge im Don Carlos und der Maria Stuart dar. Elisabeth von Valois, deren Ehe mit Philipp II. einem machtstrategischen Kalkül und europäischer Heiratsdiplomatie entspringt, erscheint einerseits klar als Werkzeug politischer Winkelzüge. Andererseits verbinde Schiller auch ihr Pflichtdenken mit der Ebene des Politischen: »[I]ndem sie einen Mann ehelicht, den sie nicht liebt, opfert sie sich heimlich für eine revolutionäre Idee, indem sie dem Mann, den sie begehrt, entsagt« (S. 138). Wenn sie auch Sympathisantin der niederländischen Rebellen ist, bleibt ihre politische Mission so verknüpft mit dem Begriff der Aufopferung. Folglich zeige Schiller mit diesem Stück vor allem die Kosten, »die für die Konsequenz des sittlich schönen Handelns zu entrichten« (S. 140) seien – denn die Unterordnung des Einzelnen unter ein allgemeines Prinzip könne keine Autonomie erzeugen. Gleiches erfahre auch Maria Stuart, deren Würde im Angesicht ihrer Hinrichtung – ebenso wie die Würde Elisabeths in der Unterwerfung unter ein Gesetz des Zwangs – sich als Akt der Selbstpreisgabe darstellt. In diesem bekunde sich auf der einen Seite die Auslöschung der Individualität, auf der anderen Seite aber auch »der paradoxe Vorschein einer höheren Idee der Freiheit« (S. 155). Wer von menschlicher Autonomie träume, könne den hierbei anklingenden Selbstbetrug wohl erkennen, aber niemals überwinden. Das eingangs thematisierte moralische Konzept der inneren Freiheit stelle sich damit auch bei Schiller letzten Endes als ein negativ besetztes dar, wobei Schiller eben gerade »[i]n der dialektischen Bindung an diesen Selbstbetrug […] seinerseits ein Vorläufer […] der ästhetischen Moderne« (S. 155) sei.

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Zu leistende (Spiel-)Einsätze

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Auf den ersten Blick gibt sich Peter-André Alts Studie mehr als Sammlung von Einzelanalysen denn als übergreifend-systematische Gesamtuntersuchung, auch wenn die meisten der zehn Kapitel eigens für das vorliegende Buch verfasst wurden. Diese Form der nebeneinander stehenden in sich geschlossenen Analysen bringt den Vorteil mit sich, das breit angelegte Textmaterial aus den unterschiedlichsten Perspektiven und unter den verschiedensten Aspekten behandeln zu können. Selbstredend lässt es sich dabei nicht vermeiden, dass der beträchtliche Umfang des Textkorpus – zusätzlich zu den bereits genannten Dramen auch Clavigo, Götz von Berlichingen, Die Räuber, Kabale und Liebe, Torquato Tasso, Die natürliche Tochter, Egmont und Die Braut von Messina – stellenweise zu Lasten der Analysetiefe gehen muss. Ungeachtet dieser Problematik setzt Alt den aus seiner Studie zu ziehenden Gewinn jedoch nie wirklich aufs Spiel, denn die voraussetzungsreichen Lektüren sind anregend, nachvollziehbar und plausibel.

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So zeigen sich die behandelten Dramen als »Endspiele« in mindestens zweifacher Hinsicht. Erstens, indem sie verdeutlichen, dass im Kontext gesellschaftlicher und historischer Transformationsprozesse die »Schwelle zur Moderne« nicht ohne weiteres überschritten werden kann, sondern vielmehr nach konkreten (Spiel-)Einsätzen des Individuums verlangt; und zweitens, indem sie damit klar machen, dass vor dem modernen Anfang jenseits dieser Schwelle eben genau ein Ende liegt, das sich unter anderem in der Brüchigkeit der Identitätskonstruktionen des neuzeitlichen Menschen ausdrückt – was zu ambivalenten Szenarien führt, die in den ebenso ambivalenten Kunstkonzeptionen der (vor)modernen Ästhetik Goethes und Schillers ihre Entsprechung finden. Darüber hinaus animiert Alt mit seinen Lektüren zur Vertiefung der vorgeschlagenen Interpretationen, wodurch seine Auseinandersetzungen mit der schließlich doch übergreifenden Neuperspektivierung der gewählten kanonischen Dramen auch im Hinblick auf die literaturwissenschaftliche Disziplin einen Anfang nach sich ziehen, der auf den »klassischen Endspielen« basiert.