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Der ärztliche Blick - Filme als Fallgeschichten

  • Stephan Doering / Heidi Möller (Hg.): Frankenstein und Belle de Jour. 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Berlin: Springer 2008. XXIV, 398 S. 64 farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 39,95.
    ISBN: 978-3-540-76879-1.
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Der Sammelband Frankenstein und Belle de Jour – 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen von Möller und Doering ist die Geschichte eines fehlgeschlagenen, nein, vielmehr eines gar nicht erst intendierten interdisziplinären Dialogs. 1 Die Herausgeber haben in diesem Band dreißig Beiträge verschiedener Mediziner und Psychoanalytiker zusammengestellt, die sich mit dem Thema der Darstellung psychischer Krankheiten im Film auseinandersetzen. Ziel war dabei, den Hauptfiguren der einzelnen vorgestellten Filme psychische Krankheiten zuzuordnen, um so einem Laienpublikum die jeweiligen Krankheitskonzepte näherzubringen. So wird bei Gustav von Aschenbach aus Morte a Venezia (Luchino Visconti, Italien / Frankreich 1971) eine schwere depressive Episode diagnostiziert, 2 bei Charles Foster Kane in Citizen Kane (Orson Welles, USA 1941) eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, 3 während im Falle von Repulsion (Roman Polanski, GB 1965) diskutiert wird, ob eher eine paranoide Schizophrenie oder eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung vom Typ einer dissoziativen Störung dargestellt wird. 4

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Die einzelnen Beiträge sind dabei nach der in der Medizin üblichen International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10) geordnet. Zwar ist der Sammelband letztendlich ein Filmkatalog, doch wird schon durch das Layout angedeutet, dass die Filme dezidiert aus medizinischen Blickwinkeln gesehen werden. Dem entspricht auch die Auswahl der Autorinnen und Autoren, die, bis auf eine Ausnahme, aus dem Bereich der Psychoanalyse und Medizin rekrutiert wurden.

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Es stellt sich nun die Frage, warum ein Nichtmediziner und Medienwissenschaftler wie der Autor dieser Rezension diesen Band kritisch durchleuchten sollte. Die psychopathologischen oder psychoanalytischen Konzepte und Entwürfe, die in den einzelnen Artikeln angerissen werden, können hier nicht auf ihre Stringenz und theoretische Brauchbarkeit untersucht werden. Zudem besteht die Gefahr, dass sich der Medienwissenschaftler als beleidigter Kritiker darstellt, der nicht gefragt wurde und sich nun darüber empört, wie andere Leute in seiner Disziplin wildern. Dass Film als populärkulturelles Gut der wissenschaftlichen Analyse nicht bedürfe, dass es als visuelles und der Rezeption leicht zugängliches Medium nicht weiter hinterfragt werden müsse, ist ein Klischee, das hier nicht weiter gewürdigt werden soll, auch wenn sich der Duktus durch viele der Artikel dieses Sammelbandes zieht. Im Folgenden sollen also die oft problematischen medientheoretischen Grundlagen und Prämissen der Beiträge des Sammelbandes in Frage gestellt werden.

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Gleichzeitig heißt das aber auch, die möglichen interdisziplinären Anknüpfungspunkte zwischen den so unterschiedlichen Diskursen des Films auf der einen Seite und der Medizin, Psychoanalyse und Psychologie auf der anderen aufzuzeigen. Denn Film und Psychologie, ganz besonders aber die Psychoanalyse, sind in den letzten hundert Jahren verschiedenste Allianzen eingegangen, die zumindest die Filmwissenschaft deutlich geprägt haben. Vom Paranoia-Topos im Hollywood der vierziger und fünfziger Jahre bis hin zur feministischen und ideologiekritischen Filmtheorie der siebziger, die sich besonders an Althusser und Lacan orientierte, von der Gestaltpsychologie bis hin zur Kognitivistik – stets gab es Verknüpfungen und Brückenschläge zwischen dem medienwissenschaftlichen und dem medizinisch-psychologischen Diskurs. Dass die Debatten, die aus diesen Kontakten entstanden, im vorliegenden Sammelband nicht reflektiert werden, ist bedauerlich, hätte so doch der eine oder andere epistemologische Kurzschluss vermieden werden können.

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Zwischen Populärwissenschaft und Didaktik

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Die Intentionen des Sammelbandes lassen sich auf mehreren Ebenen verorten. Mit dem bereits bekannten Film im Hinterkopf, so die Idee, sollen Diagnostik und mögliche ätiologische Ansätze der Erkrankungen leichter verständlich werden. Die Filme dienen hier als Anschauungsmaterial und Anknüpfungspunkt für weitere psychopathologische oder psychoanalytische Ausführungen. Die Leserinnen und Leser sollen fachlich aufgeklärt werden, gleichzeitig aber auch auf die Möglichkeit hingewiesen werden, dass gesellschaftliche Stigmatisierungen von Krankheit abgebaut werden können, indem Kranke als Identifikationsfiguren im Film dargeboten werden. Dem populärwissenschaftlichen Ansatz entspricht der gemischte Stil der einzelnen Beiträge, der von eher wissenschaftlich bis essayistisch reicht – ganz ähnlich wie bei deren Pendant in der populärwissenschaftlichen Pathologie-Literatur, den Sammlungen von literarisch oder journalistisch aufbereiteten Fallbeispielen.

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Einhergehend mit diesem Vermittlungsanspruch fragen sich die Herausgeber und Autoren, wie realitätsnah die behandelten Filme die Krankheiten ihrer Figuren darstellen. Kern der Beiträge ist daher stets ein Vergleich zwischen der an filmische Figuren gebundenen Repräsentation von Krankheit mit entsprechenden medizinischen Kategorien, wobei manchmal induktiv, häufiger jedoch deduktiv vorgegangen wird. Gefragt wird also, ob die Figuren auch ›korrekt‹ dargestellt werden, ob sie also den heute gültigen Symptomklassifizierungen der ICD-10 entsprechen.

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In diesem Zusammenhang ist eine weitere Intention des Sammelbandes zu sehen: Über die Rezeption durch das Laienpublikum hinaus soll nämlich geprüft werden, inwieweit Spielfilme auch als Anschauungsmaterial für die ärztliche, psychologische und psychotherapeutische Ausbildung genutzt werden können. Inwieweit also Spielfilme, die sich ohne ethische Rücksichtname auf die Würde realer Patienten auch vor Publikum analysieren lassen, als Ersatz für Fallbeispiele aus der Wirklichkeit dienen können. Diese Intention, die von den Herausgebern im Vorwort thematisiert wird, wird von den Autoren des Bandes im Einzelnen nur selten aufgegriffen. Die Beiträge sollen vielmehr als Beispiele dienen, wie solch eine didaktische Übertragung stattfinden könnte, wie also eine psychoanalytische oder psychopathologische Lesart eines Films als Unterstützung für die Vermittlung entsprechender Krankheitskonzepte dienen kann. Daraus resultiert jedoch, dass eine tatsächliche didaktische oder gar medientheoretische Reflexion über die Verwendung von Spielfilmen im Unterricht nicht stattfindet. So bleibt zum Schluss offen, ob diese Möglichkeit wirklich besteht.

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Die Auswahl der Filme

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Die Beiträge des Sammelbandes decken ein weites Feld von Filmen ab, die tendenziell eher neueren Datums sind oder aus dem Bereich des Arthaus stammen. Dabei könnte durchaus noch eine Gruppierung der Filme unternommen werden, die der Sammelband mit seiner ICD-10-Gliederung so nicht vornimmt. So werden auf der einen Seite Filme behandelt, die ganz explizit eine Krankheit thematisieren – sei dies Demenz im Falle von Iris (Richard Eyre, GB / USA 2001), paranoide Schizophrenie bei Das weiße Rauschen (Hans Weingartner, D 2001) oder die Kombination Autismus / Savant-Syndrom bei Rain Man (Barry Levinson, USA 1988). Diese Filme konstruieren Krankheitsbilder, die geprägt sind vom populären und wissenschaftlichen Krankheitsverständnis der entsprechenden Entstehungszeit. Streng genommen ist es somit nur hier möglich zu untersuchen, ob die Filme Krankheit ›falsch‹ darstellen, indem nämlich die historischen und populären Krankheitsbilder des Films mit aktuellen (und ebenso historischen!) Konzepten verglichen werden.

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Wird Krankheit so explizit thematisiert, so ist stets auch ganz allgemein das Epistem Medizin im Sinne Foucaults mit gemeint, 5 häufig aber auch spezieller Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten. So können auch Ärzte und Psychologen in den Blickpunkt des Filmes geraten, wie etwa in Analyze This (Harold Ramis, USA 1999), ein Film, der nicht allein über die Panikstörungen eines Mafioso handelt, sondern vor allem auch über die Arzt-Patienten-Beziehung und die Psychotherapie im Allgemeinen.

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Nicht immer muss die Diagnose im Film selbst explizit genannt werden. In einer Reihe von Filmen werden zwar Figuren gezeigt, die ganz deutlich ein psychisches ›Problem‹ haben, doch geht es dabei weniger um Krankheit und eine mögliche Behandlung, als wesentlich weitergehend um existentielle Fragestellungen, wie Tod, freien Willen, Beziehungsstrukturen o.ä. Eine psychopathologische Interpretation ist hier möglich, zeigt jedoch schnell, wie einengend eine solche Lesart wird, erscheinen damit doch die existentiellen Fragestellungen als irrelevant. In diese Gruppe gehören auch die Filme, die das Phänomen von Substanzabhängigkeit thematisieren, wie etwa Trainspotting (Danny Boyle, GB 1996) oder Requiem for a Dream (Darren Aronofsky, USA 2000), in denen die Substanzabhängigkeit auch als Träger für weiterreichende Gesellschafts- oder gar Modernekritik dient.

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Am anderen Ende des Spektrums stehen schließlich Filme, deren Figuren ein irgendwie abnormes, auffälliges Verhalten zeigen, auf das eine psychopathologische Diagnostik angewendet wird, ohne dass die Filme selbst auf die Möglichkeit einer Krankheit hinweisen. So werden selbst Filme wie Citizen Kane (Orson Welles, USA 1941), The Aviator (Martin Scorcese, USA 2004) oder The Caine Mutiny (Edward Dmytryk, USA 1954) einer Diagnose unterworfen. Hier wird eine psychopathologische Interpretation sehr schnell zum Vabanque-Spiel mit einer totalitären Tendenz, alles im Sinne einer Psychopathologie zu interpretieren.

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Methodik der Filmanalysen

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So unterschiedlich die einzelnen Beiträge in Stil und Reflexionsgrad auch sind, lässt sich doch für die meisten ein grundlegendes Argumentationsschema nachweisen: In einem ersten Teil wird – häufig über mehrere Seiten und bis in kleinste Details – die Filmhandlung nacherzählt. Diese Nacherzählung, die eben keine analytische Plotzusammenfassung ist, sondern einer nicht selten mechanischen ›Und-dann‹-Struktur folgt, dient strategisch dazu, die Filmhandlung in die Textform der ›Fallgeschichte‹ zu transferieren, die in den medizinischen Diskursen, v.a. aber in der populärwissenschaftlichen Aufarbeitung üblich ist und mit der anscheinend analytisch besser umgegangen werden kann als mit dem visuellen Medium.

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Es folgt schließlich ein Herausfiltern der medizinisch relevanten Symptome aus dem Verhalten und der Darstellung der Filmfigur und eine Einordnung in das Klassifikationsschema der ICD-10. Filmanalytische Überlegungen kommen dabei nur in einigen wenigen Fällen zum Tragen. Filmtechnische Mittel – die Gestaltung etwa von Subjektivierungsmechanismen bei Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsveränderungen, die filmische Umsetzung von Halluzinationen, die Rolle von Mise-en-scène oder ähnlichem – werden selten thematisiert. Mit der Übertragung des Films in die Nacherzählung ist die Behandlung des Filmischen für die meisten Autoren abgeschlossen.

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Auf die Diagnose, die den Autoren nur in wenigen Filmbeispielen Probleme verursacht, folgt meist ein kurzer ätiologischer Erklärungsansatz, der jedoch aufgrund der spärlichen Hinweise, die die vorliegenden Filme meist bieten, äußerst spekulativ bleibt.

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Im zweiten Teil verlassen die Beiträge dann meist das Gebiet des Films und schildern die psychologischen oder psychoanalytischen Konzepte, die zu dieser Krankheit existieren und stellen ätiologische oder Behandlungsmodelle vor. Der Film dient hier also nur als Ausgangspunkt für eine medizindidaktische Ausführung. Eine argumentative Verknüpfung zwischen erstem, filmbezogenen und zweitem, psychopathologischem Teil besteht in der Regel nicht.

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Fiktionalität und Diskursivität des Films

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Diese Herangehensweise an das Thema Krankheit und Film wirft einige methodische Probleme auf, die im Folgenden skizziert werden sollen. Dies betrifft ganz besonders das Konzept des Symptoms im Allgemeinen und die Fragestellung, was denn genau ein Symptom im Film sei.

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Das erste Problem, das sich dabei stellt, ist das des Positivismus. Das Symptom-Konzept, das ja nicht zuletzt von der medizinischen Semiotik entwickelt wurde, ist durch alle wissenschaftshistorischen Veränderungen hindurch in erster Linie ein Zeichenprozess. Trotzdem wird innerhalb der medizinischen Diskurse (anders als in der Psychoanalyse) ein Gegensatz zwischen Interpretation und ›objektiver Beobachtung‹ aufgestellt, welcher den Zeichencharakter jedes Symptoms tendenziell ignoriert. Ist diese positivistische Bevorzugung einer naiven Beobachtung wissenschaftstheoretisch bereits äußerst fragwürdig, gerät sie in Bezug auf den Film zum epistemologischen Kurzschluss. Denn Filme – und dies gilt für Spiel- wie Dokumentarfilme – sind erst einmal Kulturartefakte, deren Beziehungen zur afilmischen Realität gelinde gesagt komplex sind. Eine Gleichsetzung von im Film dargestellten Verhalten einer Figur mit dem einer realen Person ist daher nicht eins zu eins möglich. Filme können nicht einfach beobachtet werden, sie müssen per definitionem interpretiert werden.

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Hinzu kommt das Problem der Fiktionalität. Gerade die Psychoanalyse beschäftigt sich ja durchaus mit Erzählungen: mit Selbstdarstellungen und Egodokumenten, die nicht einfach beobachtet werden können, sondern ebenfalls interpretiert werden müssen. Den Beiträgen des Sammelbandes ist auch anzumerken, dass psychoanalytisch gebildete Autoren mit dem Text- und Erzählcharakter des Films methodisch besser umzugehen wissen als positivistisch geprägte Autoren. Doch auch eine Gleichsetzung von fiktionalem Film und Fallgeschichte ist nicht unproblematisch, zu unterschiedlich sind die Entstehungszusammenhänge eines marktwirtschaftlich verwerteten und in weite kulturelle Diskurse eingebundenen Films und die der Fallgeschichte eines realen, leidenden Patienten. Auffällig wird diese Problematik in den Beiträgen, die sich mit ›Biopics‹ beschäftigen. In diesen Filmen, wie etwa Capote (Bennett Miller, Kanada / USA 2005) oder Citizen Kane (Orson Welles, USA 1941), geraten die entsprechenden Beiträge in Gefahr, reale Person, reales öffentliches Persönlichkeitskonstrukt und filmische Figur in Eins zu setzen und entsprechende Dokumente ohne Unterschied zur Argumentation einer ›dahinterliegenden‹ Fallgeschichte zu nutzen. 6

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Schließlich stellt sich auch das Problem der Medialität von Filmen. Spielfilme sind nicht nur artifiziell und fiktional, sie sind stets auch medial, intertextuell und diskursiv geprägt. Dabei bilden Filme zunächst einmal einen eigenständigen, auf sich selbst bezogenen Diskurs aus, der ganz anders gestaltet ist als der medizinische, und der sich in Bezug auf Krankheit, Leiden und Normalität wesentlich häufiger an populärkulturellen Diskursen orientiert als an wissenschaftlichen. Ähnlich wie bei den bereits erwähnten ›Biopics‹ werden diese diskursiven Effekte besonders dann augenfällig, wenn, etwa in den Beiträgen zu Frankenstein (James Whale, USA 1931) oder Morte a Venezia (Luchino Visconti, Italien / Frankreich 1971), Literaturvorlage und Film gleichgesetzt werden als Zeichen für eine gemeinsame, dahinterliegende Fallgeschichte. 7 Dabei ist diese Gleichsetzung verschiedener textueller und medialer Ebenen gerade für die Psychoanalyse nicht untypisch und lässt sich recht einfach in den Prämissen der psychoanalytischen Theorie verankern:

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Ob man nun den Protagonisten eines Filmes behandelt, als hätte sein Handeln Symptomcharakter, oder ob man den Film als ganzen als Symptom behandelt: Beiden Lesarten liegt die gleiche Theorie der Aktualgenese des Textsinns zu Grunde, die Freudsche Theorie der Symptombildung, die auf der Beschreibung von Mechanismen der Traumarbeit wie Verschiebung und Verdichtung beruht. Traum, Symptom und Text sind für solche Lesarten als Gegenstände vergleichbar, insofern sie alle durch die Maskierung eines latenten Inhalts durch einen manifesten zustande kommt. 8
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Diese Negation der Unterschiede in Medialität, Diskursivität und Realität / Fiktionalität ist einer der Hauptkritikpunkte an einer psychoanalytischen Herangehensweise an den Film. Ob man den Prämissen Freuds hier folgen mag oder nicht, bleiben solche Ansätze doch stets wissenschaftstheoretisch äußerst angreifbar.

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Das Problem der Interpretation

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Als problematisch erweist sich darüber hinaus der völlig ahistorische Charakter der Übertragung des filmischen Materials in Fallgeschichten. Filme gestalten Krankheiten und Kranke in der Auseinandersetzung mit den je zeitgenössischen medizinischen und populärwissenschaftlichen Diskursen. Der konstruktivistische Charakter von Krankheit wird in diesem Sammelband meist außer Acht gelassen, historische Unterschiede werden, ganz entsprechend dem teleologischen Selbstbild der Medizin, allenfalls mit den Adjektiven ›veraltet‹ oder ›falsch‹ etikettiert, ohne dass nach näheren diskursiven Zusammenhängen gefragt würde. Besonders die Interpretation älterer Filme gerät dabei in ein Dilemma: Interpretiert werden kann aufgrund des diskursiven und medialen Charakters eines Films stets nur das historische Bild von Krankheit, das eine entsprechende Figur prägt, nicht aber eine real kranke Person. Hier wird dann auch die Unterscheidung zwischen Filmen, die eine Krankheit explizit thematisieren und solchen, bei denen erst im Nachhinein eine Diagnose hineingelesen werden kann, wichtig. Im ersten Fall kann ohne Probleme ein Vergleich zwischen den medizinischen Konzepten von heute und damals mit dem Film angestellt werden. Im zweiten Fall ist dies weitaus riskanter, da ein expliziter Bezug vom Film zum damaligen Diskurs nicht unbedingt besteht, andere Aspekte aber, die der Film durchaus behandelt, vernachlässigt werden. So ignoriert beispielsweise die Diagnose einer anankastischen Persönlichkeitsstörung bei Professor Rath aus Der blaue Engel (Josef von Sternberg, D 1930) 9 die Tatsache, dass die Persönlichkeitsstruktur der Figur ein zeitgenössisches Modell von Kleinbürgerlichkeit und Philistertum darstellt, das eher als Typus denn als reale Person gelesen werden sollte.

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Augenfällig ist auch der deduktive Charakter der Beiträge dieses Sammelbandes. Statt zu fragen, welches Bild von Krankheit im Film vermittelt wird, geht die Mehrzahl der Autoren von einem vorgegebenen Krankheitskonstrukt der ICD-10 aus, das auf den Film angewandt wird. Folge dieser Deduktion ist, dass häufig nur die Elemente eines Films einbezogen werden, die auch auf die Argumentation und das Schema passen, dass man also, salopp gesagt, nur sieht, was man sehen will. Ganz besonders problematisch wird dies, wenn versucht wird, ätiologische Erklärungsansätze zu liefern. Hier bieten die meisten Filme nur wenige Hinweise, da sie in erster Linie Leidensgeschichten sind und die empathische Einfühlung mit einer kranken Figur ermöglichen, nicht aber ein medizinisches Dokument abliefern wollen. Die Ursachen der Krankheit einer filmischen Figur darzulegen, wie es einige Autoren versuchen, gerät so zu reiner Spekulation.

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Höchst problematisch bei solchen Ansätzen ist nicht zuletzt auch die Reduktion auf individualistische Herangehensweisen. So schreibt etwa Sachsse in seinem Beitrag zu Repulsion (Roman Polanski, GB 1965):

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[S]ollte der Film überhaupt individuell-psychoanalytisch interpretiert werden? […] Geht es hier nicht um patriarchale Gewalt, um Machtausübung, um das Verhältnis von Frauen und Männern? […] Wer die Studentenzeit der 68er-Generation erlebt hat, kann sich in diesen Diskussionskontext sicher gut zurückversetzen. Es ist interessant, dass diese psychodynamischen Hypothesen 30 Jahre später so von niemandem mehr aufgestellt würden. Die Zeiten ändern sich und wir uns in ihnen. Heute stehen zwei Diagnosen zueinander in Konkurrenz: Schizophrenie versus dissoziative, posttraumatische Störung. 10
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Natürlich ist dieses Zitat polemisch und vom Autor auch so gemeint. Hier wird eine Gegenüberstellung konstruiert: den Film nämlich entweder in seiner Gänze als Symptom zu behandeln oder sich nur auf einzelne Figuren zu beschränken, mit anderen Worten, der Gegensatz von systemisch-psychoanalytischen Ansätzen zu einem individualistischen. Interessant ist hier sicherlich der begriffliche Wechsel von Interpretation zu Diagnose, der auf das oben genannte Positivismus-Problem verweist. Wichtiger ist jedoch die Verve, mit der die Thematisierung von Geschlechter- oder Machtstrukturen einer veralteten, ideologieverbrämten Zeit zugerechnet wird, sowie die Ausschließlichkeit, mit der diese beiden überspitzten Ansätze als einzig mögliche dargelegt werden. Das auf den Film bezogene Argument fällt so schließlich auf die Gleichsetzung von Kulturartefakt Film und Realität zurück: So mag in der medizinischen Heilpraxis die Reduktion auf individualistische Ansätze aufgrund ihrer höheren Effektivität sicherlich angebrachter sein als tiefer gehende ideologie- oder gesellschaftskritische Untersuchungen. Diese Argumentation auch auf den Film zu übertragen, ist jedoch ein Fehlschluss. Selbstverständlich sind psychopathologische Lesarten eines Films auch möglich und legitim. Kritisch zu hinterfragen ist jedoch die Ausschließlichkeit, mit der die individualistischen Interpretationsansätze verteidigt werden: Eine solche Einschränkung wird den Filmen nicht gerecht, die in der Regel mehr sind, als nur medizinische Diagnostik. Trainspotting oder Requiem for a Dream auf die ICD-10 zu reduzieren, ignoriert, dass es bei diesen Filmen auch um Themen wie die ennui der Moderne, die Wertesysteme der Gesellschaft oder um Subjektkonstruktionen im Allgemeinen geht. Und Repulsion als Film über Geschlechterverhältnisse und patriarchale Machtstrukturen zu lesen, ist nicht ideologisch verblendet, wie das Zitat es nahelegt, sondern legitime hermeneutische Praxis.

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Krankheit, Normierung und die Reflexion
des ärztlichen Blicks

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Krankheit ist ein Produkt des medizinischen Diskurses und als solches Konstrukt nicht mit dem phänomenologischen Leiden gleichzusetzen, auch wenn es mit ihm in Beziehung steht. Krankheit ist vielmehr zu verorten auf dem Kontinuum zwischen Normalität und Anomalität und hat daher stets auch normstiftenden Charakter. Dieses Problems sind sich zumindest Peter Uffelmann und Jochen Breit in ihrem Beitrag zu Und keiner weint mir nach (Joseph Vilsmaier, D 1996) durchaus bewusst:

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Es handelt sich bei den Ereignissen im Film um Haltungen, Eigenschaften und Handlungsweisen, die wahrscheinlich typisch sind für viele Menschen. Sie mit klinischen Begriffen auf ihre Pathologie hin zu untersuchen, birgt die Gefahr, sie gleichsam aus dem Verkehr zu ziehen und das Allgemeinmenschliche mit den Etiketten einer Krankheitslehre zu versehen. Dies ist uns bewusst und wir versuchen, die Würde der filmischen Protagonisten zu respektieren. 11
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Ungeachtet der Frage, was die Autoren mit der »Würde der filmischen Protagonisten« genau meinen, wird dieser Problembereich in vielen anderen Texten des Bandes komplett ignoriert. Der ICD-10-Katalog dient als nicht hinterfragbare Prämisse und naturalisiertes epistemologisches Schema für jede weitere Interpretation. Als eine der wenigen Ausnahmen mag hier der Beitrag von Simone Salzer und Eric Leibing über den Film Elling (Petter Næss, Norwegen 2001) gelten, in dem dieses Problem zumindest angeschnitten wird:

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Elling ist ein in seiner Einfachheit bezwingender, humorvoller und unterhaltsamer Film, der von Freundschaft, Ängsten, Liebe, Eifersucht, Solidarität und Kreativität handelt und vom »Anders-Sein« seiner Protagonisten lebt. Als zentrales Thema handelt der Film somit vom fließenden Übergang zwischen »Normalität« und sog. »Normabweichungen« oder auch psychischer Erkrankungen sowie von den Möglichkeiten und Schwierigkeiten, sich mit einem »Anders-Sein« innerhalb der gesellschaftlichen Norm zu Recht zu finden. 12
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Die Autoren weisen hier zu Recht auf die Gefahr hin, Filmen eine psychopathologische Lesart überzustülpen, und sie so ihrer breiter angelegten Thematik zu berauben. Diese normative Kraft des Krankheitsdiskurses ist vor allem dort problematisch, wo filmischen Figuren im Nachhinein eine Diagnose gestellt wird. Offensichtlich wird die Problematik auch für den Laien dort, wo Krankheitskonzepte oder überhaupt die pathologische Dimension eines Phänomens gesellschaftlich und medizinisch heftig umstritten sind, wie etwa beim Transsexualismus in Boys don’t cry (Kimberly Peirce, USA 1999), den der Autor des entsprechenden Beitrages auch nur in Anführungszeichen als Störung etikettiert. 13

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Anstatt der Tendenz des psychopathologischen Interpretationsverfahrens, Krankheitsmodelle zu naturalisieren und ihrer diskursiven Komponente zu berauben, wäre es sicherlich hilfreich gewesen, die entsprechenden Verbindungen und Interaktionen zwischen den einzelnen Diskursen zu beleuchten. So hätte man sich durchaus auch fragen können, wie Filme denn das Konzept von einzelnen Krankheiten beeinflussen. So hat die Gleichsetzung von Pädophilie und Kindsmord in M – eine Stadt sucht einen Mörder (Fritz Lang, D 1931) oder die Kombination von Autismus und Savant-Syndrom in Rain Man (Barry Levinson, USA 1988) durchaus auch Einfluss auf das populäre Bild einer Krankheit oder ist zumindest in Interaktion mit diesem populären Wissen zu sehen, wie die Autoren der entsprechenden Beiträge beiläufig anmerken.

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Fazit

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Dem Sammelband eine gerechte Kritik zuteil werden zu lassen, ist schwierig. Zu groß sind die Differenzen zwischen populärwissenschaftlichem Edutainment-Charakter auf der einen und wissenschaftlichem oder didaktischem Anspruch auf der anderen Seite, zu unterschiedlich sind die einzelnen Beiträge in Hinblick auf wissenschaftstheoretische Reflexivität und Argumentationsstil. Auffällig ist jedoch, dass der zweite Anspruch des Sammelbandes, nämlich zu untersuchen, inwieweit Filme auch als Anschauungsmaterial für den Unterricht dienen können, seltsam offen und unreflektiert bleibt. Vielmehr sollen die Beiträge quasi per exemplum zeigen, wie man es machen könnte, ohne dass auf die Brauchbarkeit der Filme genauer eingegangen wird. Dass sich bei dieser didaktischen Nutzung einige medientheoretische Probleme ergeben, konnte in dieser Rezension hoffentlich gezeigt werden.

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Gleichwohl bietet die Fülle der Analysen in diesem Band auch dem gleichermaßen medienwissenschaftlich wie medizinisch interessierten Leser einiges an Denkanstößen. Fragen werden hier aufgeworfen, auf die zwar nicht gesondert eingegangen wird, die aber zu weiteren Überlegungen anregen. So könnte man sich beispielsweise fragen, welche Rolle die empathische Einfühlung in kranke Filmfiguren spielt. Fördert sie den Abbau gesellschaftlicher Stigmatisierung, indem Zuschauer sich in Kranke hineinversetzen? Wie wird Krankheit visuell umgesetzt? Auch die diskursübergreifende Untersuchung von Krankheitskonzepten wie der Hysterie, der Paranoia oder den Abhängigkeitserkrankungen, die den konstruktivistischen Charakter von Krankheit nicht ignoriert, sondern die verschiedenen Diskurse einbezieht, wäre ein durchaus spannendes Thema. Interessant ist auch die Beobachtung der Herausgeber,

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dass es nicht selten die schwierigen, psychisch belasteten oder kranken Menschen sind, die uns am meisten faszinieren mit der Intensität von Leidenschaft und Verzweiflung, die ihnen ihr Leiden aufzwingt. 14
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Wo also liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede und wo die Verbindungen zwischen Psychopathie, Existentialismus, Fiktionalität und Dramatik?

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Natürlich sind dies Fragen, die der Sammelband nicht beantworten kann oder will. Probleme, die sich aufgrund des Mediencharakters des Films nun einmal ergeben, konnten durch die eben nicht interdisziplinäre Herangehensweise nicht weiter thematisiert werden. Solche Fragen zu stellen, auf ihre Existenz hinzuweisen und methodische oder theoretische Baustellen zu umreißen, wäre jedoch durchaus wünschenswert gewesen. Auch Populärwissenschaft muss nicht unkritisch sein.

 
 

Anmerkungen

Das vollständige Inhaltsverzeichnis des Bandes ist online zugänglich, URL: http://www.springerlink.com/content/h3l154/ (12.10.2008); s. auch die Verlagsanzeige, URL: http://www.springer.com/medicine/psychiatry/book/978–3–540–76879–1 (12.10.2008).   zurück
Michael Bruns / Georg Jenisch: Ich bin der Welt abhanden gekommen. S. 127–142.   zurück
Birger C. Dulz: Narzissmus und Narzissmus und Narzissmus. S. 319–335.   zurück
Ulrich Sachsse: Abstoßend. S. 77–86.   zurück
Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2005.   zurück
Vgl. Heidi Möller: Ich bin Alkoholiker. Ich bin schwul. Ich bin ein Genie. S. 305–318; Birger C. Dulz (Anm. 3). S. 319–335.   zurück
Gerd Rudolf: Der Traum vom vollkommenen Menschen, S. 87–98; Michael Bruns / Georg Jenisch (Anm. 2). S. 127–142.   zurück
Vinzenz Hediger: Des einen Fetisch ist des andern Cue. Kognitive und psychoanalytische Filmtheorie. Lehren aus einem verpassten Rendez-vous. In: Jan Sellmer / Hans J. Wulff (Hg.): Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase? Marburg: Schüren. S. 41–58, hier S. 53.   zurück
Eva Jaeggi: Gefrorenes Leben. S. 295–304.   zurück
10 
Ulrich Sachsse (Anm. 4), S. 84   zurück
11 
Peter Uffelmann / Jochen Breit: Mutterseelenallein. S. 120.   zurück
12 
Simone Salzer / Eric Leibing: Der Sauerkrautpoet. S. 152   zurück
13 
Friedemann Pfäfflin: Mann oder Frau – wer weiß es genau. S. 335–344.   zurück
14 
Stephan Doering, Heidi Möller: Vorwort. S. V.   zurück