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Shoahliteratur als MigrantInnenliteratur

  • Corinne Susanek: Neue Heimat Schweden. Cordelia Edvardsons und Ebba Sörboms Autobiografik zur Shoah. (Jüdische Moderne 5) Köln, Weimar: Böhlau 2008. 285 S. Gebunden. EUR (D) 36,90.
    ISBN: 978-3-412-24106-3.
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Von März bis Juli 1945 evakuierte das Schwedische Rote Kreuz […] zirka 30’000 Überlebende der nationalsozialistischen Konzentrationslager nach Schweden, darunter etwa 15’000 jüdische Überlebende. Von Letzteren entschieden sich wiederum ungefähr 4’000 Personen für einen weiteren Verbleib in Schweden. (S. 1)
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Corinne Susanek untersucht in ihrer Züricher Dissertation das Werk zweier Autorinnen, die zu der Gruppe dieser 4000 jüdischen Überlebenden gehörten, die sich für Schweden als neue Heimat entschieden. Dazu verortete sie die literarischen Texte, die die Schrecken der Shoah thematisieren, im Begriffsdreieck von autobiographischer Traumanarrativik, literarischer Zeugenschaft und Migration. Besonders der letzte Aspekt ist ein wichtiges Verdienst der Arbeit, denn die schwierige existentielle Situation der Überlebenden und die Komplexität ihrer Texte werden nicht ausreichend erkannt, wenn man sie nur aus dem traumatischen Fortwähren der KZ-Demütigungen rekonstruiert. Vielmehr müsse man auch die Ortlosigkeit der Überlebenden nach dem Ende der Shoah und die oft problematischen Versuche einer Neuverortung in Betracht ziehen. Der Titel der Dissertation »Neue Heimat Schweden« sollte also nur als offene Problemstellung verstanden werden und mit einem Fragezeichen versehen werden. Viele thematische Felder der autobiographischen Shoah-Literatur überschneiden sich denn auch mit Themen der MigrantInnenliteratur: »die intensive Beschäftigung mit der Identität der Überlebenden/Migrierenden, die Beziehung zur alten Heimat und die Integration im Zielland sowie die Auseinandersetzung mit der primären Sprache einerseits und er neu zu erwerbenden Sprache des Ziellandes andererseits« (S. 260).

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Im Blick auf die beiden behandelten Autorinnen erweist sich diese Untersuchungsperspektive ganz intuitiv als plausibel. Verdienstvoll ist, dass das Werk dieser Autorinnen – Cordelia Edvardson und Ebba Sörbom – erstmals in einer Gesamtschau einem deutschen Publikum präsentiert werden. Edvardson wurde 1929 als uneheliche Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer in München geboren und verbrachte ihre Kindheit in Berlin. Da Langgässer selbst als Mischling ersten Grades eingestuft wurde und Cordelias Vater ein jüdischer Intellektueller war, galt die katholisch sozialisierte Cordelia mit ihren drei jüdischen Großeltern den Nazionalsozialisten als Volljude. Kurz nach ihrer Deportation nach Theresienstadt im Frühling 1944, also mit fünfzehn Jahren, wurde sie nach Auschwitz überführt. Nach der Befreiung im Mai 1945 wurde sie vom Roten Kreuz nach Schweden evakuiert, wo sie den Journalisten Ragnar Edvardson heiratete. Bereits 1958 erschien Så kom jag till Kartago (dt.: So kam ich nach Karthago), das erste einer langen Reihe von autobiographischen Büchern, in der Edvardson die Shoah thematisiert. Der auch auf Deutsch erschienene »Roman« Bränt barn söker sig till elden (1984, Gebranntes Kind sucht das Feuer, 1986) ist wohl das bekannteste. Durch ihre Tätigkeit als Berichterstatterin des Jom-Kippur-Krieges für die Tageszeitung Svenska Dagbladet identifizierte sie sich mit dem jungen Staat Israel, was 1974 zu einer zweiten Migration, diesmal von Schweden nach Israel, führte.

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Ebba Sörbom begann erst im Alter von 61 Jahren damit, Prosa und Lyrik zur Shoah zu veröffentlichen. Im Unterschied zu Edvardson kommt sie aus einem mehrsprachigen Umfeld (Deutsch, Serbisch, Ungarisch). Als Ruzsica Schreiber wurde sie 1927 in Sarajevo geboren und wuchs bis zu ihrem 16. Lebensjahr in Novi Sad auf. Die Deportation nach Auschwitz begann im Mai 1944, von wo aus sie mit den Todesmärschen nach Bergen-Belsen gelangte. Nach der Befreiung 1945 wird auch sie von einem Rotkreuz-Transport nach Schweden evakuiert. Sie selbst hat ihre Werke immer als Erinnerungsdokumente bezeichnet, wobei die traumatische Präsenz des vergangenen Schreckens im Jetzt seit ihrem Debüt 1988 mit Bortom minnet, bortom glömskan (dt.: Jenseits der Erinnerung, jenseits des Vergessens) eines ihrer wichtigsten Themen ist.

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Shoahliteratur als engagierte Literatur

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Neben der MigrantInnen-Thematik legt Susaneks einen zweiten Schwerpunkt darauf, die Shoahliteratur der Autorinnen nicht nur als Darstellung der Gräuel und als Vertextung von Migrationsschicksalen zu lesen, sondern sie als »engagierte« (S. 76) Literatur zu verstehen – und zwar in dreifacher Hinsicht: Die Autorinnen verfolgten therapeutische, bezeugende und edukative Intentionen. Die Texte dienten der individuellen Bearbeitung des Traumas, sie wollten (in quasireligiöser Manier) von jüdischen Schicksalen Zeugnis ablegen und zur Zeugenschaft anleiten, sie wollten aber auch die Integrationsparadigmen Schwedens problematisieren. Diesen letzten Aspekt nennt Susanek etwas sperrig das »edukative[ ] Moment« (S. 7) der Texte; mit ihm appellieren sie »als literarischer Ausdruck einer Minorität an das gesellschaftliche und individuelle Verantwortungsgefühl der Rezipierenden einer Majoritätsbevölkerung« (S. 7), in Edvardsons und Sörboms Fall der schwedischen, mit dem Ziel der gesellschaftlichen Veränderung des Migrantenstatus.

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Diese Herangehensweise ist sympathisch und einsichtig schon deshalb, weil sie die Autorinnen aus der Opferrolle entlassen und den Texten – trotz ihres Charakters von Traumanarrativen – eine soziokulturell aktive Rolle zugesteht. Wenn Susanek jedoch daran geht, die textuellen Strategien zu rekonstruieren, mit denen die ihr so wichtige edukative Funktion durchgeführt wird, bleibt die Analyse an der Oberfläche, wie die Zusammenfassung am Ende der Studie zeigt:

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In Cordelia Edvardsons und Ebba Sörboms Texten werden verschiedene Strategien eingesetzt, um Textinhalt und -intentionen […] für einen realen Leser nachvollziehbar zu machen. […] Eine in den Texten beider Autorinnen dokumentierte Strategie stellt die Anrede eines deutlich markierten und intendierten Lesers dar. […] Als weiteres Verfahren der Leserlenkung ist die Thematisierung von persönlichen und aktuellen Gegebenheiten zu nennen, die den Rezipierenden Identifikationsmöglichkeiten bieten. [Susanek nennt zwei Beispiele: die Kinderperspektive und die Erweiterung des Themenspektrums um politisch-aktuelle Fragen.] [I]hr literarisch umgesetztes Schwedisch [ist] von grosser Expressivität, Flexibilität und Intensität gekennzeichnet, die eine sprachlich kunstvolle Leserlenkung ermöglicht. (S. 258–259)
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Leseranrede, Themenwahl und eine expressive Sprache – trotz solcher Selbstverständlichkeiten gilt: So lange sich Susanek an ihre beiden zentralen Fragestellungen hält – die MigrantInnenperspektive und die sozialgeschichtliche Ermächtigung der Texte –, liest sich die Dissertation als beachtenswerte Präsentation zweier wichtiger Autorinnen unter interessanter Perspektivierung. Susanek leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der jüdischen Geschichte in Skandinavien, zu einem Themenkomplex, der sich in den letzten Jahren auch institutionell in der Gründung jüdischer Museen in den skandinavischen Hauptstädten niedergeschlagen hat (Stockholm 1987, Kopenhagen 2004, Oslo 2005).

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Komplexitätsreduktion

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Doch gibt es auch andere Aspekte, die eher problematisch zu werten sind: Dem Analyseteil (S. 115–255) stellt Susanek einen umfangreichen theoretischen Teil (S. 23–114) voran, in dem sie in ausführlichen Referaten der Forschungsliteratur zur Autobiographie, zur Rezeptionstheorie und zur MigrantInnenliteratur ihre Voraussetzungen klarlegt. Der Fleiß an dieser Stelle ist durchaus zu würdigen, doch der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Nutzen. Denn im Lektüreteil kommt Susanek nur an ganz wenigen Stellen auf die erarbeiteten Begriffe des Theorieteils zurück. Problematischer ist jedoch, dass Susanek trotz der genauen Rekonstruktion der Theorie ihre Implikationen nicht immer angemessen zu erfassen scheint. Ich möchte dies abschließend an zwei Beispielen erläutern.

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Susanek betont, dass sie in ihrer Untersuchung eine rezeptionstheoretische Perspektive gewählt habe. Bei ihrer Lektüre Isers wird sie gewahr, dass die Rezeptionstheorie daran interessiert ist, die Variabilität der Lesarten herauszuarbeiten; diese Erkenntnis aber scheint ihr zu der immer berufenen »edukativen Funktion« in Konflikt zu treten, »gilt es doch insbesondere angesichts ihrer postulierten Intentionalität konfliktreiche oder widersprüchliche, in Polyvalenz mündende Diskurse zu vermeiden und eine gewisse Kontrolle im Text-Leser-Dialog aufrechtzuerhalten« (S. 66). Susanek sieht sich also in der Klemme zwischen einer Theorie des offenen Textes und einem Verständnis einer eng gefassten Intention, was dazu führt, dass sie ihre Aufgabe letztlich in der Reduzierung von Textkomplexität sieht: Durch »den Einbezug des soziohistorischen Kontextes des Autors sowie durch das konstante Hinterfragen der [historischen] Rezeptionsposition« lässt sich »kontrollierend auf die Sinnkonstitution des Textes einwirken«, was »für die […] edukative Intention […] notwendig ist« (S. 69).

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Noch schwerer wiegt die Komplexitätsreduktion, die Susanek im Zusammenhang des »Topos der Unsagbarkeit der Shoah« (S. 105) vornimmt. Dieser Topos hat im wesentlichen zwei Ausprägungen: Erstens sei die Erfahrung der individuell erlebten Schmerzen, Folter, Demütigungen, Verdinglichung und der individuellen Anihilation nicht mitteilbar; zweitens habe die Shoah eine Wirklichkeit geschaffen, die mit allem, was normal, was zivilisiert, was der menschlichen Vorstellung zugänglich ist, gebrochen hat, so dass diese Wirklichkeit schlicht inkommensurabel ist – und damit nicht im Medium einer kommensurablen Erzählung mitteilbar. Handelt es sich im ersten Fall um ein individuelles traumatisches Hindernis, ist die Unsagbarkeit im zweiten Fall kollektiv und betrifft die Grenze der Vorstellbarkeit und die Referentialität von Sprache an sich. Beide Positionen bedeuten aber nicht, dass Schweigen die einzige Option angesichts der Shoah sei. Vielmehr verlangt der Topos – nimmt man ihn ernst – gerade vom literarischen Text, dass die Unsagbarkeit selbst Ziel der Strategie des Schreibens ist: Soll die Shoah in das kollektive Gedächtnis angemessen eingeschrieben werden, ist eine Literatur gefordert, die den Zusammenbruch der Imagination provoziert, um so Inkommensurabilität im Akt des Erzählens und Lesens erfahrbar zu machen.

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Den ersten, individuellen Aspekt erfasst Susanek in der therapeutischen Funktion, die sie Edvardsons und Sörboms Texten nachweist. Von einem Verständnis der allgemeinkulturellen Problemlage ist sie jedoch weit entfernt: Für sie reduziert sich die Unsagbarkeit auf ein lexikalisches Problem. So behauptet sie, dass als »Quintessenz« der philosophischen und kulturkritischen Debatte zur Unsagbarkeit der Shoah festzuhalten sei,

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dass bestimmte Wörter heute nicht mehr so vorbehaltlos ausgesprochen werden können wie vor der Shoah und dass gewisse Begriffe nicht mehr in der ursprünglichen Bedeutung Gültigkeit haben. Entsprechend bietet die neue Sprache den Autorinnen und Autoren der schwedischen Autobiographik zur Shoah den Vorteil, die bis lange in die Nachkriegszeit als determiniert begriffene Unaussprechlichkeit des Erlebten zu umgehen und ihm neue, fremde und unbelastete Worte entgegenzusetzen […]: das Schwedische wird in diesem Sinn zu einem Gegentopos des Unsagbaren (S. 106–107).
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Mehrsprachigkeit als Heilmittel gegen Inkommensurabilität – wenn es doch so einfach wäre …