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Zu Christian Mittermüllers Studien über die literarische Sprachkritik des späten Goethe

  • Christian Mittermüller: Sprachskepsis und Poetologie. Goethes Romane 'Die Wahlverwandtschaften' und 'Wilhelm Meisters Wanderjahre'. (Hermaea 116) Tübingen: Max Niemeyer 2008. VI, 234 S. Kartoniert. EUR (D) 52,00.
    ISBN: 978-3-484-15116-1.
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Eine detaillierte und systematische Darstellung des Zusammenhangs von Sprachskepsis und Poetologie beim späten Goethe erkennt Mittermüller als Desiderat der Goethe-Forschung (S. 13), wie er in seinem einleitenden Forschungsbericht schreibt (S. 7–13). Mit seiner Freiburger Dissertation möchte er diese »Forschungslücke« (S. 13) schließen, indem er an ausgewählten Kapiteln aus den Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meisters Wanderjahren die »immanente Sprachkritik […] sowie deren poetologische Konsequenzen ausführlich analysiert […]«(ebd.). In der methodisch ausdrücklich als »textimmanent« deklarierten und mithilfe des »close reading« (S. 14) vorgenommenen Darstellung konzentriert sich Mittermüller zunächst auf Kapitel »I, 4 als sprachskeptisches Zentrum der ›Wahlverwandtschaften‹« (S. V) und hier vor allem auf die »chemische Gleichnisrede«, die er zum Ausgangspunkt aller weiteren »sprach- und dichtungstheoretischen Erwägungen« (S. 15) des Romans deklariert. »Semantische« oder auch »sprachliche Polyvalenz« (ebd. und passim) ist der Leitbegriff von Mittermüllers Analysen, mit dem er im Anschluss an Kapitel I, 4 die Novelle Die wunderlichen Nachbarskinder und die Darstellung der »tableaux vivants« (II, 5) untersucht.

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In den Wanderjahren konzentriert sich die Analyse »wegen des hier schon weiter fortgeschrittenen Forschungsstandes« (S. 13) auf die »Interpretation des Kästchen-Zeichens und dessen Verortung im semiotischen Spektrum des Romans« (S. 16). Ziel der Analysen ausgewählter Kapitel und Motive beider Romane sei, nicht nur die »tiefgreifende« Sprachskepsis des späten Goethe herauszuarbeiten, sondern auch zu zeigen, wie die literarisch formulierte Sprachkritik, die bei Goethe zwischen einer »sentimentalischen und erkenntnistheoretischen Sprachkritik« (S. 51) oder einer »epistemischen Variante der ontologischen Sprachkritik« (S. 6) anzusiedeln sei, zur Poetologie eines »offenen Kunstwerkes« bzw. zur »Poetologie der Offenheit« (S. 16) beim späten Goethe führe, die jede eindeutige Auslegung oder Interpretation der Dichtung verhindere.

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Lassen sich bereits Thesen, Zielsetzung, Erkenntnisinteresse und Vorgehen von Mittermüllers Arbeit nur schwer präzise zusammenfassen, so gilt dies erst recht für die Ergebnisse der Textanalysen. Die einzelnen, durchaus detaillierten Studien können zum Teil tatsächlich, wie Mittermüller verspricht, ein tieferes Verständnis einzelner Passagen der Wahlverwandtschaften ermöglichen, wenn er z.B. im 5. Kapitel (S. 116–144) die »tableaux vivants« mithilfe kunst- und stiltheoretischer Abhandlungen Goethes deutet; insgesamt sind sie jedoch so heterogen, dass sie sich kaum oder gar nicht in das übergeordnete Thema der literarischen Sprachkritik einordnen, ja sich sogar weit vom Thema entfernen. Zudem bricht die Arbeit nach dem letzten Unterkapitel zu den Wanderjahren (»Sprachskeptische Poetologie – Zur Polyvalenz des Kästchen-Zeichens«, S. 209–222) unvermittelt ab.

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Es fehlt ein systematisches Kapitel oder zumindest ein Fazit, in dem die Ergebnisse der Analysen zusammengefasst, an den Ausgangsthesen der Einleitung und des ersten Kapitels überprüft, vor allem aber an den die ganze Untersuchung leitenden Gedanken der literarisch formulierten Sprachkritik zurückgebunden werden. Dieses Versäumnis ist umso auffälliger, als Mittermüller in seinem inhaltlich breit angelegten ersten Kapitel (»Sprachskeptische Horizontbildung«, S. 19–56) verschiedene sprachkritische Entwürfe, Positionen und Theorien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Nietzsche, Mauthner, Hofmannsthal) sowie des 18. Jahrhunderts (Herder, Lichtenberg und auch Goethe) – allerdings sehr kompilatorisch – skizziert und somit die Erwartung aufbaut, der Leser erfahre spätestens am Schluss der Arbeit, inwieweit Goethes literarische Sprachkritik Entwicklungen aufgreift, Einflüsse widerspiegelt oder sogar spätere sprachkritische bzw. -philosophische Positionen antizipiert.

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Nicht nachvollziehbar ist zudem der Aufbau dieses, angesichts des Titels und der Hauptthesen des Verfassers, grundlegenden Kapitels, das mit der literarischen Sprachkrise um 1900 beginnt und erst danach sprachskeptische Positionen des 18. Jahrhunderts nennt. Auch fehlt die Angabe nachvollziehbarer Kriterien sowohl für die Auswahl der präsentierten Sprachdenker als auch für die Auswahl der Quellen – die Texte (z.B. von Herder, Nietzsche, Mauthner) sind doch allein bezüglich ihres Sprachbegriffs untereinander so verschieden, dass Mittermüller ihnen in seiner holzschnittartigen Skizze bzw. Kurzcharakteristik nicht gerecht werden kann. Augenfällig ist auch der Zuschnitt der Quellen nach dem Muster, das Mittermüller der Sprachkritik Goethes zugrunde legt, wie er selbst bemerkt. (S. 14) Hier wäre eine chronologische und systematisch begründete Darstellung wünschenswert gewesen, die Parallelen zur Sprachkritik Goethes präzise herausgestellt oder widerlegt hätte. Leider wird auch in den folgenden Textanalysen (Kap III und IV, S. 59–222) bis auf wenige Ausnahmen nicht auf das die Analyse vorbereitende Kapitel zurückverwiesen.

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Der Begriff »Sprachkritik« ist polysem, in seinen verschiedenen Bedeutungen aber inzwischen sowohl historisch als auch systematisch in der sprachwissenschaftlichen Forschung differenziert untersucht und dokumentiert, auch für die verschiedenen literarischen Ausprägungen. Eine systematische Darstellung der unterschiedlichen Formen von Sprachkritik, in die Goethes Sprachkritik einzuordnen wäre, liefert Mittermüller jedoch ebenso wenig wie eine stringente Herleitung von Goethes Sprachbegriff anhand der Quellen, die den Analysen hätte zugrunde gelegt werden sollen. Die stilistisch mehrfach variierte, aber wenig aussagekräftige Feststellung, Goethe habe ein »tief verwurzeltes Mißtrauen gegenüber der verbalen Kommunikation« (S. 51) […], das »auf einer Diagnose der Unzulänglichkeiten sprachlichen Bezeichnens« (S. 51) gründe, reicht leider für die Hauptthese der »tiefgreifenden« literarischen Sprachskepsis des späten Goethe ebenso wenig aus wie die nur unzureichend begründete Behauptung, bei Goethes sprachkritischer Position handele es sich um eine »epistemische Variante der ontologischen Sprachkritik« (S. 6), ein Urteil, das jedoch in einer Fußnote und wenig später wieder revidiert wird (S. 6, 14).

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Leider trägt auch Mittermüllers Wortwahl und Stil nicht zum besseren Verständnis seiner Arbeit bei. Sprachwissenschaftliche Terminologie etwa, die in seinen Ausführungen zur Sprachkritik, zu System und Gebrauch von Sprache, zu verschiedenen Ebenen der Sprachbeschreibung etc. vieles hätte präzisieren können, fehlt fast ganz; durchgängig wird der falsche Plural Worte gebraucht, wo es Wörter heißen muss; darüber hinaus lassen sich inhaltlich wie sprachlich viele Wiederholungen finden, die wohl der mangelnden Systematik geschuldet sind. Zu ihnen gehört etwa der inflationär eingesetzte und auch in verschiedenen Kollokationen gebrauchte Begriff der »Polyvalenz«, der auch dort verwendet wird, wo der Verfasser wohl »Polysemie« meint.

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Mittermüller vermischt in seinem Referat über die Ergebnisse der Forschungsliteratur, von dem auch die Textanalysen immer wieder unterbrochen werden (S. 73 f., 105 f., 126–129), mehrmals die Textsorten »Forschungsbericht« und »Gutachten«, wenn er seine Untersuchungen mit deutlich wertenden, gar pejorativen Attributen von den Vorarbeiten absetzen will. Angesichts der formalen wie inhaltlichen und stilistischen Mängel seiner Dissertation wirkt auch dieser Stilgestus störend.