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Literarischer Realismus
zwischen Anti- und Ateleologie

'Ideengeschichte' als
Movens erzähltheoretischer Innovation

  • Philip Ajouri: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 43) Berlin: Walter de Gruyter 2007. XII, 373 S. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 978-3-11-019143-1.
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Das Forschungsfeld ›Literatur und Wissen‹ erlebt momentan eine derartige Hochkonjunktur, dass gegenüber der Flut an diesbezüglichen Veröffentlichungen kritische Vorsicht geboten scheint. Dies diskreditiert jedoch nicht den Ansatz selbst. Im Gegenteil, auch hier existieren noch immer vernachlässigte Gegenstandsperspektiven, wie die vorliegende Dissertation von Philip Ajouri eindrucksvoll belegt. Thematisches Zentrum ist die »Krise der Teleologie« im 19. Jahrhundert, die der Literaturwissenschaft bisher als Randphänomen galt. Gleichzeitig sucht der Verfasser das »verzerrte Bild« zu korrigieren, der Darwinismus sei in Deutschland stets »durch den idealistischen ›Filter‹ einer restaurierten Teleologie wahrgenommen worden« (S. 7). Dieser Befund ist Ausgangspunkt für die Frage, mit welchen poetologischen Konsequenzen im Bereich ›Epik‹ der Verlust zielrationaler Evidenz verbunden ist – gerade angesichts der Tatsache, »daß Erzählen selbst ein teleologischer Vorgang und die erzählte Welt deshalb durch Funktionalität geprägt ist« (S. 8).

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Teleologie als »universeller Sinngenerator«

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Ajouri versteht Teleologie mit Karl Eibl als »universelle[n] Sinngenerator« (S. 1), teleologische Weltbilder mit Ernst Topitsch als »plurifunktionale Führungssysteme« (S. 19). Kraft ihres Sinnstiftungspotentials lasse sich Wirklichkeit ordnen, beschreiben und verstehen. Diese These überzeugt ebenso wie das dahinterstehende Theoriekonzept. Der Verfasser siedelt seine Arbeit zwischen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte an, wobei die (momentan wieder an Bedeutung gewinnende) Ideengeschichte als »Vermittler« fungiert (S. 5). »Allgemeine Denkformen sind«, so Ajouri, »der Katalysator, durch die wissenschaftliche Erkenntnisse hindurch müssen, um Relevanz für Literatur zu bekommen« (S. 10). Historisch beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf den Zeitraum von 1840 bis 1870, in dem »zwei Kulminationspunkte« (S. 3) besondere Aufmerksamkeit erfahren: die Religionskritik Ludwig Feuerbachs, der das technomorphe Weltbild als »egoistische Projektion auf die Natur« versteht (S. 87), und die allgemeine Auseinandersetzung mit Charles Darwin, in dessen Modell natürlicher Zweckmäßigkeit ›Evolution‹ nur mehr als ziellose Dialektik »von (zufälliger) Variation und (statistisch notwendiger) Selektion« erscheint (S. 4). Die hiermit verbundene Frage, ob es in Natur und Geschichte eine aufsteigende Linie gebe oder beide sich in ungerichteten »und deshalb kontingenten« Prozessen entwickelten (S. 64), stellt für Ajouri »den zweiten großen neuzeitlichen Kontingenzschub« dar (S. 4) – nach der Einsicht des 18. Jahrhunderts in die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Ordnungssysteme.

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Aufbau der Arbeit und Terminologie
(Real-, Erzähl- und erzählte Teleologie)

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Die vorliegende Dissertation ist übersichtlich strukturiert: Einer konzisen Einleitung folgen sechs Hauptkapitel, die jeweils mit einer Zusammenfassung beschlossen werden. Über Nutzen und Problematik von Thesenrepetition und finalem Abstract ließe sich streiten, dennoch scheint dem Rezensenten die Arbeit an dieser Stelle leicht überdidaktisiert, zumal auch die Gliederung extrem filigran ist. Die insgesamt 344 Textseiten umfassen über 100 Kapitel und Unterkapitel, wobei der Überblick durch den engen Drucksatz im Inhaltsverzeichnis zusätzlich erschwert wird.

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Als sehr leserfreundlich erweist sich das erste Hauptkapitel, in dem die drei wichtigsten Termini der Arbeit definiert werden: Real-, Erzähl- und erzählte Teleologie. (Dass die Begriffe bereits in der Einleitung begegnen, tut dem Verständnis keinen Abbruch.) Unter Realteleologie versteht Ajouri den Glauben daran, dass die Welt durch Gott sinnvoll-funktional organisiert ist, wobei im Rekurs auf Andrew Woodfield zwischen »intrinsischer« und »extrinsischer Zweckmäßigkeit« unterschieden wird (S. 12). Erstere bezeichnet die Frage nach dem Ziel, dem eine Sache zustrebt, letztere die nach der Funktion, die eine Sache für eine andere erfüllt. Es spricht für das hohe Argumentationsniveau der Arbeit, dass der Verfasser die von ihm präsentierten Erklärungsmodelle akribisch durchdenkt und gegen inhärente Aporien absichert. Zu Recht wendet er sich gegen die von Matías Martínez vertretene These, Teleologie und Kausalität seien »unvereinbar« (S. 42). Das Gegenteil trifft zu: Jeder Fall »echter Teleologie« erweist sich als Beispiel »echter Kausalität« (S. 13). Hierdurch verlagert sich die für das Thema zentrale Problemstellung, denn – so Ajouri im Rückgriff auf Nicolai Hartmann – zum »verwirrendste[n] Phänomen« wird nun »die äußere Ununterscheidbarkeit von kausalem und finalem Prozeß« (S. 41 f.).

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Mit Blick auf die »Erzählteleologie« – einem Konzept, das »Neuland« erschließt (S. 8) – unterscheidet Ajouri begrifflich präzise zwischen »finale[r] Motivation« im Erzählkosmos, die durchaus fehlen kann, und »kompositorischer Motivierung«, wie sie jedem literarischen Artefakt zugrunde liegt (S. 29). Da diese »Basisteleologie« des Erzählens nicht suspendiert werden kann, gewinnt sie eine dem theologischen »concursus divinus« (S. 68) vergleichbare Qualität: »Selbst im sinnlosesten Zufall und im beiläufigsten Detail der erzählten Welt ist der concursus auctoris noch vorhanden« (S. 39). 1 Letzterer gewinnt damit eine quasi ›transzendentalpragmatische‹ Funktion, die an die »sinnkritische Form der Letztbegründung« philosophischer Hermeneutik bei Karl-Otto Apel erinnert. 2 Wie der Mensch im diskursiven ›Sprachspiel‹ stets »Sinn-« und »Wahrheits-Anspruch« voraussetzen muss, 3 gibt es auch im Roman für den Autor keine Möglichkeit, ohne Präsupposition sinnhafter Zweckmäßigkeit zu agieren, selbst wenn er mit Erzählteleologie keine Realteleologie verbindet. D.h. die Basisteleologie ist ›unhintergehbar‹, weil Zweckmäßigkeit nur in ihrem eigenen Rahmen – also unter Voraussetzung ihrer selbst – geprüft und/oder zerstört werden kann. Existieren darüber hinaus finale Motivierungen innerhalb der erzählten Welt, dann spricht Ajouri von »erzählte[r] Teleologie« (S. 38).

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Den »begriffliche[n] Klärungen« folgen – wie erwähnt – fünf Großkapitel, die weitgehend historisch orientiert sind. Zunächst wird die »Kongruenz von Real- und Erzählteleologie« (S. 44) in Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774) dargestellt. Überzeugend kann der Verfasser nachweisen, dass die Konzeption des Entwicklungsromans durch eine umfassende Realteleologie legitimiert wird, weil der Autor »die Begebenheiten auf das Ziel der Vervollkommnung des Protagonisten ausrichtet« (S. 49) und damit als zweiter »Schöpfer« (S. 52) eine Welt schafft, die dem Kosmos strukturanalog ist.

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Die Krise der Realteleologie im 19. Jahrhundert: Theoriediskurs

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Die sich am Ende der Kunstperiode etablierende Teleologiekritik, die das Zentrum des dritten Hauptkapitels bildet, hinterfragt sowohl rationalistische Vorsehungslehren (wie sie Blanckenburg vertritt) als auch den Deutschen Idealismus und dessen organisches Weltbild. Mit Akribie und Kompetenz erläutert Ajouri hier die wesentlichen Zeittendenzen, ohne – trotz immenser Materialfülle – den ›basisteleologischen‹ Blick für das Ziel der eigenen Arbeit zu verlieren. Es würde zu weit führen, die Entwicklungslinie en détail zu kommentieren, die der Verfasser vom Deutschen Idealismus (Kant, Schelling, Hegel) über Feuerbach, der »die kausale, ›natürliche‹ Wirkweise der Natur stark zu machen« versucht (S. 78), bis hin zu Ludwig Büchner zieht, der in Kraft und Stoff die »Zweckwidrigkeiten« der Natur hervorhebt (S. 139). Gleiches gilt für die nachfolgende Analyse der Darwin-Rezeption im Ausland, bei David Friedrich Strauß (Der alte und der neue Glaube) sowie in der Allgemeinen Zeitung. Philologische Exaktheit, argumentatives Niveau und gedankliche Transparenz verdienen hier höchstes Lob, zumal der Verfasser häufig Forschungsneuland betritt, denn die Popularisierung des Darwinismus in Deutschland war bis dato nur unzureichend untersucht. Nach der »Durchbruchs-Phase« in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren (S. 99) verliert das neue Erklärungsmodell mit der – so Ajouri – »Verweltanschaulichungsphase« an Nuancenvielfalt. Man erklärt den Kampf ums Dasein zum »Naturgesetz« und überträgt ihn auf die historisch-politische Ebene. Vor diesem Hintergrund mag der Kolonialismus zwar ethisch zu »beklagen« sein, scheint aber als Sieg der »höher stehende[n] Race« zugleich unwiderlegbar gerechtfertigt (S. 106). David Friedrich Strauß verfolgt die entgegengesetzte Zielrichtung, wenn er postchristliche Moral »durch Teleologie« zu begründen sucht (S. 117) und den Darwinismus »zur emotional befriedigenden Weltanschauung« ausweitet. Dies führt jedoch – wie Ajouri herausarbeitet – zwangsläufig zur Wiedereinführung der Realteleologie, »weil Weltanschauungen naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf das Ganze der Welt beziehen«, um die Sinnfrage beantworten und daraus Handlungsmaximen ableiten zu können (S. 141).

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Literaturgeschichtliche Applikation I
(Friedrich Theodor Vischer)

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Zu welchen erzähltechnischen Konsequenzen die Realteleologie-Krise führen kann, lässt sich nach Ansicht des Verfassers exemplarisch an Friedrich Theodor Vischer zeigen. Tatsächlich arbeitet sich der Philosoph und Schriftsteller zeitlebens an den Folgeproblemen des Totalitätsverlusts ab. Schon in der Ästhetik richtet Vischer seine Aufmerksamkeit auf Zweckwidrigkeit und Kontingenz, erklärt, »alle Geschichte, alle Bewegung des Geistes in jeder Sphäre« sei »wesentlich« die »Geschichte der Aufhebung des Zufalls« (S. 143). Dichtung ist hier allerdings noch (anders als bei Hegel) die »Wirklichkeit des Schönen«, daher »auch in der Gegenwart potentiell der adäquate Ausdruck der Idee« (S. 147), wobei der Zufall beherrschbar bleibt, wenn er »in das Komische verwandelt«, d.h. zugleich »bewahrt« und »entschärft« wird (S. 170).

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Als Folge der Darwin-Lektüre revidiert Vischer jedoch das eigene idealistische Systemdenken. In der Kritik meiner Ästhetik (1866) begründet er das Schöne allein subjekt-psychologisch, da die Vorstellung einer archimedischen Perspektive mit kontingenten Evolutionsprozessen kaum mehr vereinbar scheint. Es erstaunt daher nicht, dass Vischer 1873 die hegelianische Dialektik vollständig verabschiedet und durch eine »Begriffsmechanik mit offenem Ende« ersetzt, in der »nur Übergangsformen« denkbar sind (S. 190). Für das ehedem propagierte Modell einer »indirekten Idealisierung« bedeutet dies, dass das Hässliche jetzt nicht nur »Einlaß in das Kunstwerk« findet (S. 170), um dort aufgehoben zu werden, sondern zum »Motor der Differenzierung im Schönen« avanciert. Das heißt aber – und Ajouri betont diesen Aspekt mit Recht: Die »Überwindung« des Hässlichen bleibt aus, wodurch die ›indirekte Idealisierung‹ ihre »Verklärungs-Funktion« einbüßt (S. 191 f.).

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In dem Roman Auch einer (1878) sucht Vischer diese Erkenntnis poetologisch umzusetzen. Wiederum können nur einige Aspekte der detaillierten Interpretation angesprochen werden. Nach Ajouri ist es das zentrale Anliegen des Autors, dem Zufall einen »möglichst großen Spielraum zu lassen und ihn trotzdem in eine ästhetische Komposition einzubinden« (S. 194). Bei »gleicher Problemreferenz« wird demnach lediglich das »Medium« gewechselt (S. 148). Vischer geht dabei »mit einer für das 19. Jahrhundert ganz ungewöhnlichen Konsequenz« vor (S. 198), reduziert die Erzählteleologie bis zur Basisfunktion, um dem Leser Kontingenz ›realistisch‹ zu vermitteln – u.a. durch »Anachronien« (S. 202), die »Relativität« des Zeitbegriffs (S. 249) sowie zwei Erzähler, die »ihre Intentionen nicht koordinieren« (S. 207). Während die vom Protagonisten Albert erzählte Pfahldorfgeschichte nahezu alle Merkmale narrativen Zielbezugs besitzt, dementiert der Erzähler in den abschließenden Tagebuchaufzeichnungen Alberts Versuch, durch »retrospektive Teleologie« (S. 198) eine »poststabilierte Harmonie« (S. 226) zu entwerfen. Die damit verbundene Auflösung der epischen Form rechtfertigt nach Ansicht Ajouris die These, Vischers Roman stehe trotz des »Notkonzepts der ›indirekten Idealisierung‹ außerhalb der Verklärungs-Doktrin des poetischen Realismus« (S. 256). Wenngleich man dieser Schlussfolgerung nicht grundsätzlich widersprechen mag, wäre doch zu fragen, ob und (wenn ja) inwiefern andere bedeutende Epochentexte dem Verklärungspostulat entsprechen – beispielsweise Kellers Roman Der grüne Heinrich oder Storms Novelle Hans und Heinz Kirch. (Der Realismus-Begriff des Schweizers wird mit Blick auf die Interpretation beider Romanfassungen eingehender diskutiert.) Ajouri weist allerdings darauf hin, dass Vischer die heterogenen Textteile durchaus zu neuer Einheit »verschnüren« möchte, nicht zuletzt durch das Leitmotiv »Zufall« (S. 207). Problematisch ist somit nicht die Auflösung der Form, sondern die Tatsache, dass selbst Kontingenz in der Prosa immer nur eine ›erzählte‹ und damit konstruierte sein kann. Die Kunst erscheint dem späten Vischer aus diesem Grund als »Kinderei« (S. 251); Wahrheit für sich beanspruchen darf allein die Naturwissenschaft.

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Der ästhetische Bruch – Innovationssignal,
Qualitätsmerkmal, Wissenschaftsschema

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Im Rahmen seiner Ausführungen streift der Verfasser mehrfach das Problem, wie formale Innovation modernehistorisch zu beurteilen ist. Hatte man Vischers Auch einer zunächst als misslungenes Experiment interpretiert, so sieht man in ihm seit den 1980er Jahren meist eine »Durchgangsstelle zum modernen Roman« (S. 196). Es spricht für Ajouri, dass er auf Qualitätsurteile weitgehend verzichtet und den Roman vor dem Hintergrund von Vischers ästhetisch-naturwissenschaftlichen Reflexionen zu begreifen sucht. In der Tat sind ateleologische Konzeption und ästhetischer ›Riss‹ keine zureichenden Indikatoren großer Kunst; dann müsste Vischers Auch einer Stifters Nachsommer ebenso voranstehen wie Bergs Wozzeck Strauss’ Rosenkavalier. Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, tendiert ein Teil der Forschung zur Pauschaldiagnose dekonstruktiver Brüche – unabhängig davon, ob das Werk formal ›konservativ‹ oder ›experimentell‹ erscheint. Diesem Schematismus entgeht Ajouri, indem er Ateleologie nicht als objektives Merkmal der Welt versteht, dem sich die moderne Literatur ›teleologisch‹ annähert, sondern das Phänomen selbst mit einem historischen Index versieht. Es ist ein durch zeitgenössische Theorien (Feuerbach, Darwin) nahegelegtes Beschreibungsmodell von Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst. Bis heute ist Einsteins Vorstellung eines Kosmos, der durch ineinander überführbare Gesetzmäßigkeiten strukturiert ist (›Weltformel‹), nicht widerlegt, selbst (sub)atomare Modelle können sein Weltbild zwar ergänzen, keineswegs aber revidieren. Die Schöpferteleologie hat im Denken des deutschen Physikers daher durchaus ihren Platz. 4

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Literaturgeschichtliche Applikation II
(Gottfried Keller)

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Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich ist für Ajouri der zweite bedeutende Erzähltext im Umkreis des Realismus, dem das Teleologieproblem eingeschrieben wird. Nicht von ungefähr bezeichnet der Autor die Erstfassung als »Protestation wider« »die Vorsehung« (S. 261). Teleologische Schemata (Bildungsroman) erhalten hier eine dezidiert antiteleologische Dimension. Ajouri exemplifiziert dies an der Römer-Episode, bei der die »geweckten Lesererwartungen« bewusst enttäuscht werden (S. 265, vgl. auch S. 282 f.). Im Unterschied zu Wolfgang Rohe, der den Grünen Heinrich – vor allem die Version von 1854/55 – als quasi postmodernen »Roman aus Diskursen« 5 liest, bleibt nach Ansicht Ajouris die kompositorische »Funktionalität« gerade in der Erstfassung »gewahrt«, denn »die einzelnen Szenen erfüllen weiterhin Funktionen füreinander und sind Mittel zum Ende des Romans« (S. 271). Nur sei »dieses Ende kein Ziel im Sinne eines Vollendungszustandes« (S. 262); aus Heinrichs Perspektive bleibe das Erlebte kontingent. (An dieser Stelle ließe sich allerdings die Frage nach der Rezipientenebene aufwerfen, d.h. der Möglichkeit und Existenz teleologischer Konzepte, deren Wirkmechanismus über das Kunstwerk hinausweist.) Die Zweitfassung des Romans (1879/80) stellt dagegen – so die Ansicht des Verfassers – keine »anti-, sondern eine ateleologische Beschreibung« von Heinrichs Lebensweg dar (S. 10), womit aus der »erzählten Krise« eine »Krise des Erzählens« werde (S. 258). Ajouri kann zur Unterstützung dieser These zwei überzeugende Argumente anführen: die Erosion des Schemas ›Bildungsroman‹ sowie (im Rekurs auf Dominik Müller) die Streichung von Textstellen, die der Natur sinnspendende Bedeutung verleihen (vgl. S. 276).

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Kritik und Perspektiven

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Anders als bei Vischer, der sich mit dem Teleologieproblem auch theoretisch auseinandersetzt, ist die Thematik bei Keller fast nur in den Werken selbst präsent, »natürlich zum Teil unter der Verwendung anderer Begriffe« (S. 261). Obwohl Ajouris Lesart der Zweitfassung des Grünen Heinrich vor diesem Hintergrund durchaus begründbar scheint, fällt dennoch die Tendenz auf, querständige Phänomene eher beiläufig zu erwähnen. Tatsächlich ist Kellers ›ateleologische‹ Romanversion im Gegensatz zur »Unförmlichkeit« 6 der Erstfassung konsistenter aufgebaut: Die Erzählperspektive erweist sich als einheitlich, narrative Arabesken werden gestrichen, die Kapitel sind organisch proportioniert und mit Überschriften versehen. Mögen Real- und erzählte Teleologie geringer sein, die Basisteleologie scheint sich erhöht zu haben. Leider bleibt der Verfasser trotz einiger Andeutungen die Antwort auf die Frage schuldig, weshalb Keller hier ateleologisches Erzählen (im Unterschied zu Vischer) mit klassizistischer Strenge verbindet. Eine mögliche Deutung wäre, dass sich die Teleologie in die Formgeschichte verlagert hat. Die ateleologische Struktur filigran komponierter Spiegelungen (Zweitfassung des Grünen Heinrich) erscheint in Absetzung zur Reihentechnik des späten Goethe (Wanderjahre) als ›realistische Entelechie‹ des Bildungsromans. In diesem Zusammenhang wäre jedoch die (formal)ästhetische Heterogenität von Kellers Spätwerk eingehender zu untersuchen (Sieben Legenden, Züricher Novellen, Sinngedicht, Martin Salander).

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Darüber hinaus müsste Ajouris These, erst »nach Darwin« (Titel) sei die Erzählteleologie in die Krise geraten, insofern differenziert werden, als bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entsprechende Phänomene auftreten – u.a. bei Jean Paul und Kleist, von Goethes Wanderjahren nicht zu reden, wobei der Autor schon mit Blick auf die Lehrjahre an Schiller schreibt, der Roman enthalte »Additionsfehler«, 7 deren Notwendigkeit mit »einem gewissen realistischen Tic« 8 begründet wird. Die adäquate Darstellung des vielgestaltigen Lebens, das sich philosophischer Perzeption entzieht, kann somit lange vor Feuerbach und Darwin zu einer Krise der Erzählteleologie führen. In einem Briefkonzept, das Schiller nie erhalten hat, reduziert Goethe die narrative Kohärenz der Lehrjahre sogar explizit auf die Basisteleologie: »Ich selbst glaube kaum, daß eine andere Einheit als die der fortschreitenden Stetigkeit in dem Buche zu finden sein wird«. 9 Folgerichtig versteht er den ersten Wilhelm Meister-Roman als »nicht eusynopton«. 10

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Als strukturbildender Parameter fungieren stattdessen (insbesondere beim späten Goethe) ›wiederholte Spiegelungen‹ – ein Konzept, dessen Bedeutung für Gottfried Keller kaum zu überschätzen ist. Die Frage danach, wie sich ideengeschichtliche Entwicklungen in Theorie und Praxis literarischen Erzählens auswirken, müsste demnach insofern erweitert werden, als die Ästhetik des 19. Jahrhunderts (u.a. bei Goethe und Keller) keineswegs darin aufgeht, Wirklichkeit konzentrisch abbilden zu wollen. D.h. die Teleologiekrise, an deren kulturpoetischer Bedeutung dank der vorliegenden Arbeit kein Zweifel mehr besteht, ist nicht der einzige Faktor, der die Dekomposition tradierter Gattungsmodelle katalysiert. Ein weiterer wichtiger Aspekt wäre sicher der ›Poesieverlust‹ der Wirklichkeit infolge zunehmender Mechanisierung, Marktassimilation und Anonymität im (früh)industriellen Kontext.

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Des weiteren hätte man sich gewünscht, dass Ajouri die teilweise fast synonyme Verwendung der Begriffe ›Autor‹ und ›Erzähler‹ (S. 31 f.) stärker reflektiert. Denn in der Tat gibt es in der neueren Forschung Ansätze, beide Instanzen wieder näher aneinander zu rücken. So arbeitet der Romanist und Komparatist Andreas Kablitz momentan an einer Publikation, die das Theorem der Trennung von Autor und Erzähler nachhaltig in Zweifel zieht. Auch für Ajouri erweist sich die »Bezugnahme auf die Ziele des Herstellers« als »zentral«, d.h. conditio sine qua non der Arbeit ist es, »die funktionalen Beziehungen von Elementen der erzählten Welt unter Bezugnahme auf das Ziel des Autors zu beschreiben« (S. 14, vgl. auch S. 31). So erfreulich und nachvollziehbar diese Position ist, zu ihrer Klärung hätte es einiger Erläuterungen bedurft, vor allem hinsichtlich der Frage, unter welchen narratologischen Prämissen der Erzähler mit dem Autor intentional synchronisiert werden kann.

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Fazit

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Die wenigen Kritikpunkte und Ergänzungshinweise ändern nichts an der ausgezeichneten Qualität einer Arbeit, die philologische Exzellenz mit einer heute seltenen Gelehrtheit verbindet, zugleich aber sprachlich präzise und verständlich geschrieben ist. Dank ihres Grundlagencharakters wird Ajouris Dissertation sicher Ausgangspunkt werden für weitere Studien zur Interferenz Teleologie/Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Hierbei scheint es u.a. notwendig, die literarische Basis zu verbreitern, um »die epochale Bedeutung des Teleologieproblems für die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts« nachdrücklich stützen zu können (S. 10). Möglicherweise wird man dabei jedoch zu dem Ergebnis kommen, dass es nicht nur unterschiedliche Bewältigungsstrategien gibt, sondern auch Schriftsteller, denen die Teleologiekrise weniger essentiell erscheint, weil die göttlich-ethische Ordnung weiter sinnstiftend wirkt (Stifters Nachsommer, Witiko) 11 oder individuelle ›Korrektheit‹ 12 bzw. gesellschaftliche Ordnung (trotz all ihrer Problematik) das Transparenzdefizit auffangen (Fontane). Aber selbst wenn dies zu konzedieren wäre, liefert die vorliegende Arbeit über ihr Themengebiet hinaus wichtige Denkansätze für die Literaturwissenschaft – und dies lässt sich nur von sehr wenigen Dissertationen sagen.

 
 

Anmerkungen

Diese These wird konsequent durchgehalten; an einer Stelle widerspricht sich der Verfasser allerdings, wenn er – weitgehend unbegründet – schreibt, die »Basisfunktionalität des Erzählens« kennzeichne nur »die Mehrzahl aller literarischen Texte« (S. 32).   zurück
Karl-Otto Apel: Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik: Versuch einer Metakritik des ›kritischen Rationalismus‹. In: Bernulf Kanitscheider (Hg.): Sprache und Erkenntnis. Festschrift für Gerhard Frey. Innsbruck 1976 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 19), S. 55–82, hier S. 73.   zurück
Karl-Otto Apel: Grenzen der Diskursethik? Versuch einer Zwischenbilanz. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 40 (1986), H. 1, S. 3–31, hier S. 11.   zurück
Vgl. Alice Calaprice (Hg.): Einstein sagt. Zitate – Einfälle – Gedanken. München, Zürich 1997, S. 143 (Brief an Max Born vom 4. Dezember 1926 [Einstein-Archiv 8–180]).   zurück
Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller: »Der grüne Heinrich« (Erste Fassung; 1854/55). München 1993.   zurück
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. von Thomas Böning und Gerhard Kaiser. Frankfurt/M. 1985–1996, Bd. 2, S. 10.   zurück
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Text. Hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 209 (Brief vom 9. Juli 1796).   zurück
Ebd, S. 208.   zurück
Hans Gerhard Gräf (Hg.): Goethe ueber seine Dichtungen. Erster Theil: Die epischen Dichtungen. Bd. 2. Frankfurt/M. 1902, S. 830.   zurück
10 
Ebd., S. 926 (Brief an Friedrich Wilhelm Riemer vom 26. März 1814).    zurück
11 
Die neuere Forschung wendet sich mit Recht gegen Versuche, Stifters Werk – unter Absage an hermeneutische Evidenz – dekonstruktivistisch zu vereinnahmen und damit in seiner Komplexität zu reduzieren (vgl. u.a. Guido Kreis: Das richtige Leben. Stifter als Antwort auf Adorno. In: DVjs 78 (2004), S. 55–94, und Kerstin Cornils: Neues aus Arkadien. Der Streit um die Moderne bei Adalbert Stifter und Jorge Isaacs. Köln, Weimar, Wien 2007).   zurück
12 
Vgl. u.a. Fontanes Brief an Klara Kühnast vom 27. Oktober 1895.   zurück