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Die Abdankung des Mythos

Manfred Frank deutet Wagner vor dem Hintergrund
der Frühromantik

  • Manfred Frank: Mythendämmerung. Richard Wagner im frühromantischen Kontext. München: Wilhelm Fink 2008. 173 S. Kartoniert. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-7705-4439-4.
[1] 

Hat Richard Wagner in seinen Musikdramen verwirklicht, was sich die Romantiker nur in der Theorie zu denken trauten? So anmaßend diese Deutung scheint, so populär ist sie. Oft wurde der Bayreuther »Meister« von seinen Exegeten als Vollender romantischer Ideen, sein Werk als Höhepunkt der Romantik gepriesen. 1 Erst kürzlich war in Rüdiger Safranskis Romantik – Eine deutsche Affäre zu lesen, im Ring des Nibelungen seien »die frühromantischen Träume von einer neuen Mythologie endlich Wirklichkeit geworden.« 2

[2] 

Auch Manfred Frank scheint in seinem neuen Buch Mythendämmerung diesen Weg einzuschlagen, wenn er, fast im Einklang mit Safranski, über Richard Wagner schreibt:

[3] 
Kein Werk hat wie das seine die frühromantische Idee einer Neuen Mythologie aufgenommen und – was den Frühromantikern doch eigentlich zur Gänze misslang – künstlerisch umgesetzt. (S. 16)
[4] 

Doch Manfred Franks Untersuchungen zu Richard Wagners Werk sind differenzierter, als es dieses Zitat suggeriert. Der Tübinger Philosoph lässt sich nicht vom Genie des Dichterkomponisten blenden, ihm geht es nicht darum, die Vollendung der Romantik in einem wie auch immer gearteten Wagnerschen ›Gesamtkunstwerk‹ zu glorifizieren. Vielmehr interessiert ihn, wie Wagner die Ideen der Frühromantik nicht nur aufnimmt und umsetzt, sondern schließlich auch umdeutet und neu bewertet. Dabei geht Frank so gründlich zu Werke, dass er Verbindungen zwischen der Frühromantik und Richard Wagner entdeckt, die der Forschung bisher entgangen sind.

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Wagner und die Pathogenese der Moderne

[6] 

Zu Beginn stellt Manfred Frank klar, es handele sich bei seinem Buch um Aufzeichnungen eines »Liebhabers, keines in der Materie ausgewiesenen Gelehrten« (S. 7). Diese captatio benevolentiae wird schon nach kurzer Lektüre widerlegt. Frank ist nicht nur ein ausgewiesener Experte der frühromantischen Philosophie und Literatur, 3 auch in Wagners Schriften kennt er sich aus. Mythendämmerung vereint fünf Aufsätze, die Frank zwischen 1989 und 2003 veröffentlicht hat, die meisten davon in Programmbüchern der Bayreuther Festspiele. Sie wurden für die Wiederveröffentlichung nicht aktualisiert, aber um eine Bibliographie und eine ausführliche Einleitung erweitert.

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Die Frage, die Frank geleitet hat, ist diese: Wie haben die Romantiker und in ihrem Gefolge Richard Wagner die Pathogenese der Moderne zu beschreiben und zu bewältigen versucht? Dabei konzentriert er sich auf die ›Neue Mythologie‹, durch die die Frühromantiker der zersplitterten Gesellschaft der Moderne eine ›Beglaubigung‹ geben wollten. Darüber hinaus wendet er sich den Motiven der ›unendlichen Fahrt‹ und des ›kalten Herzens‹ zu, die in der romantischen Poesie die Heimatlosigkeit des Individuums und die kapitalistische Verdinglichung der menschlichen Seele bezeichnen. Frank greift dabei auf frühere Arbeiten zurück, in denen er sich ausführlich mit diesen Themen beschäftigt hat. 4 Diese philosophisch-philologischen Gefilde verlässt er nur in einem Aufsatz, in dem er sich mit der »romantischen Ironie als musikalischem Verfahren« auseinandersetzt und damit auch musikologische Aspekte von Wagners Werk unter die Lupe nimmt.

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Frühromantik und Frühsozialismus

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Zunächst geht Manfred Frank der »Wirkungsgeschichte der ›Neuen Mythologie‹ bei Nietzsche, Wagner und Johst« nach. Er skizziert kurz die Spuren, die die Idee der ›Neuen Mythologie‹ in Wagners so genannten ›Zürcher Kunstschriften‹, besonders in Das Kunstwerk der Zukunft, hinterlassen hat. Ausgehend von einem Zitat aus Richard Wagners spätem Essay Religion und Kunst, in dem dieser den »Kern der Religion« durch »mythische Symbole« 5 gerettet wissen will, zeigt Frank, dass Wagner die Gegenwart mit einer »ästhetizistisch-theologischen Perspektive« (S. 31) vermesse, die nicht auf die Junghegelianer oder die Schriften Karl Marx’ und Friedrich Engels’, sondern auf den »romantischen Sozialismus im Frankreich der 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts« (S. 31–32) verweise, dem Wagner viel verdanke. Wie Frank im letzten Text des Buches zeigen kann, zeugt auch Wagners Tragödienentwurf Jesus von Nazareth aus dem Jahr 1849 von diesem Einfluss. Dass der von Wagner rezipierte französische Frühsozialismus der Idee der frühromantischen ›Neuen Mythologie‹ nahestehe, ist der Forschung bisher entgangen; die einschlägigen Studien von Manfred Kreckel 6 und Udo Bermbach 7 gehen darauf nicht ein. Aber dieser Hinweis Franks ist für das Verständnis der ›Zürcher Kunstschriften‹ zentral, denn er belegt, dass Richard Wagners frühe ästhetische Theorien ganz vom Geist der Romantik durchdrungen waren.

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Im Gegensatz zu Nietzsche, »der die gesellschaftliche Dimension ganz preisgeben wird«, stehe Wagner »auf dem Boden einer philologisch-historisch anfechtbaren, aber in sich konsequent entwickelten Genealogie des Bindungszerfalls der menschlichen Gesellschaft seit der Antike« (S. 32). Im ›Kunstwerk der Zukunft‹ wolle Wagner, in der Nachfolge der Frühromantik, das Volk mithilfe eines »mitteilbaren und solidarisierenden Sujets« (S. 33), eben des Mythos, wieder einen.

[11] 

Frank führt dann aus, wie diese frühromantische Idee über Nietzsche und Wagner zu Hanns Johst gelangt, der von 1933 bis 1945 Präsident der Reichsschrifttumskammer und der Deutschen Akademie der Dichtung war. In seinem 1928 erschienenen Buch Ich glaube! habe Johst die Idee Wagners und Nietzsches aufgegriffen, »unter Bedingungen der Modernität Gesellschaftsformen wiederherzustellen, wie die es waren, in denen die Tragödie als Ineins von Kulthandlung, Kunstwerk und Staatsakt entstanden sein soll.« (S. 37) Hatte Udo Bermbach die Umdeutung der ästhetischen Theorien Wagners in den politischen Inszenierungen des Thingspiels als »Liturgietransfer« 8 zu beschreiben versucht, geht es Manfred Frank darum, in Johsts Schrift den Punkt zu finden, »an dem Utopie in Ideologie umkippt« (S. 43): Anders als die Griechen, »die sich als Nation über die religiösen Inhalte vereinigten«, fordere Johst, dass die Nation »zum Substitut der übersinnlichen Welt« werden müsse (S. 47). »Das Drama«, schließt Frank, »dient also nur noch der nationalen Vergemeinschaftung – und gerade die verrät den Gedanken einer neuen Mythologie.« (Ebd.)

[12] 

Die kommunikative Funktion des Mythos

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Manfred Frank ist eine gegenüber anderen Forschungsansätzen eigenständige Analyse des Wagnerschen Mythos-Begriffes gelungen. Ihn interessiert weniger die strukturalistische Untersuchung des Mythos’, wie sie, ausgehend von Claude Lévi-Strauss, die Wagner-Forschung beeinflusst hat, 9 sondern die »kommunikative Funktion von Mythen« 10 bei der »Rechtfertigung sozialer Gebilde« (S. 8). In der Einleitung definiert er den Mythos wie folgt:

[14] 
Die struktural-horizontale Beziehung des Zeichens zu allen anderen Zeichen und zu ihren Objekten wird von einer weiteren, gleichsam vertikalen Beziehung gekreuzt: der der Zeichen zu ihren Benützern. Das Zeichensystem funktioniert auf der Ebene des gesprochenen Worts nur, wenn eine Interpretationsgemeinschaft seinen Verwendungssinn zuvor festlegt, d.h. das Abbildungsverhältnis zwischen den kodierten Zeichen und ihren Gegenständen von Grund auf hervorgebracht hat, um es im Lauf der Geschichte permanent neu festzusetzen. Auf diese Weise bleibt […] der abendländische Logos, z.B. in der Gestalt der Semiologie, rückgebunden an symbolische Handlungen und axiomatische Entscheidungen, die von der Ebene der sozialen Interaktion ihren Ursprung nehmen und die ich in einer ersten Annährung als mythisch bezeichnen möchte. (S. 9–10)
[15] 

Damit scheint Manfred Frank auf den ersten Blick Kurt Hübners Theorie des Mythos nahezustehen. Dieser hat in Die Wahrheit des Mythos ebenfalls versucht, den Mythos als notwendiges Komplement des abendländischen Logos zu beschreiben. Wagners Werk garantiere die Präsenz des Mythos in der Moderne, er und Hölderlin seien die »radikalsten und offensten Bekenner des Mythos, herausragende Beispiele für seine immer noch lebendige Gegenwart unter uns«. 11 Petra-Hildegard Wilberg und Dieter Borchmeyer haben diesen Gedanken in ihren Untersuchungen zu Wagners Mythos-Begriff aufgenommen und erweitert. Dabei geht es, wie Wilberg betont, um den Nachweis, dass Wagner nicht »über den Mythos« sondern »gleichsam mythisch« spreche. 12 Dieter Borchmeyer hat diese vor allem im Ring des Nibelungen zu beobachtende Sprechweise im Anschluss an Hübner als identische Wiederkehr von zeitlich undatierbaren, numinosen Urereignissen definiert. 13

[16] 

Was ist neu an Wagners ›Neuer Mythologie‹?

[17] 

Jedoch hebt sich Manfred Franks Deutung vom Ansatz Hübners und Borchmeyers ab, weil in ihr deutlicher wird, worin das ›Neue‹ der ›Neuen Mythologie‹ der Frühromantik und Richard Wagners besteht. Wie Frank in Der kommende Gott gezeigt hat, will die Frühromantik die alten Mythen nicht restaurieren, sondern Mythen für die Moderne schaffen. Dies erfolgt nun gerade nicht ohne, sondern durch die Vernunft, der die Frühromantik, in der Nachfolge Herders, synthetische Kraft zuspricht. Die ›Neue Mythologie‹ müsse eine »Mythologie der Vernunft« werden, fordert das ›Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‹. 14 »Sollte die Mythologie nicht selbst – bei Bewahrung ihrer numinosen Kraft – vernünftig werden können?« (S. 14) fragt Frank in Anlehnung an Schelling. Nur durch eine Vernunft, die nicht nur analytisch, sondern auch synthetisch wirke, könne der neue Mythos hervorgebracht werden und dadurch unter den Bedingungen der Moderne eine soziale Beglaubigung schaffen. »Darum vergleicht Schlegel die Erfindung einer neuen Mythologie einer Schöpfung ›von vorn an aus Nichts‹«, so Frank (S. 15).

[18] 

Zwar erwähnt bereits Kurt Hübner, dass Wagner nicht »die Herstellung unveränderter Urzustände« 15 anstrebe. Doch der Vorzug von Manfred Franks Deutung besteht darin, dass erst durch den Rekurs auf die Vernunft-Konzeption der ›Neuen Mythologie‹ verständlich wird, warum Wagner in Oper und Drama schreibt, der Mythos sei »Anfang und Ende der Geschichte« und dabei betont, dass der Gang dieser Entwicklung »nicht eine Rückkehr, sondern ein Fortschritt bis zum Gewinn der höchsten menschlichen Fähigkeit ist«, als die er dann die Vernunft bezeichnet. 16 Der Mythos kehrt also nicht identisch wieder, wie die Frühromantiker wollte Wagner ihn nicht restaurieren, sondern unter den Bedingungen der Moderne neu schaffen.

[19] 

Leider lässt Manfred Frank diese naheliegende Verbindung zwischen dem Wagnerschen und dem frühromantischen Vernunft-Begriff unerwähnt. Überhaupt ist bedauerlich, dass er den Spuren, die die Idee der ›Neuen Mythologie‹ in Wagners Werk hinterlassen hat, nicht bis in alle Verzweigungen der ästhetischen Theorie hinein folgt, sondern bei der Untersuchung ihrer sozialen Beglaubigungskraft stehen bleibt. Für Wagner ist aber nicht nur der Mythos »Anfang und Ende der Geschichte«, sondern auch die Tonsprache »Anfang und Ende der Wortsprache« und die Lyrik »Anfang und Ende der Dichtkunst«. 17 Damit weitet er das triadische Modell, mit dessen Hilfe die Frühromantik die Überwindung der zersplitterten Moderne durch den Mythos beschreibt, auf seine Theorie der Ton- und Dichtkunst aus. Gleiches gilt für die Dichotomie von Organik und Mechanik, die in der Diskussion um die ›Neue Mythologie‹ präsent ist. 18 Forderte das ›Älteste Systemprogramm‹ die Abschaffung des mechanischen Maschinen-Staates, so überträgt Wagner diese Metapher auf seine Ästhetik:

[20] 
Wahrlich, unsere ganze moderne Kunst gleicht dem Klaviere: in ihr verrichtet jeder einzelne das Werk einer Gemeinsamkeit, aber leider eben nur in abstracto und mit vollster Tonlosigkeit! Hämmer – aber keine Menschen! 19
[21] 

Auch auf diesen Aspekt der Wagnerschen Romantik-Rezeption geht Frank nicht weiter ein. Seine Aufsatzsammlung gibt einen Anstoß, ist aber keine umfassende Darstellung des weitreichenden Zusammenhangs zwischen der ›Neuen Mythologie‹ und Wagners Denken.

[22] 

Wagner mit Schelling

[23] 

Im zweiten Aufsatz des Buches, »Wagners Widerruf der ›Neuen Mythologie‹«, versucht Manfred Frank dann zu zeigen, wie Richard Wagner im Ring des Nibelungen seine eigene Mythosdeutung der ›Zürcher Kunstschriften‹ verwirft. Der Mythos stehe in der Tetralogie nun für einen »Schuld- und Verblendungszusammenhang« (S. 88) des Menschen, seinen Frevel an der Natur, seine Urschuld. Frank bezeichnet das Geschehen des Rings in Anlehnung an Franz Kafka als »Totschlägerreihe«:

[24] 
Der jeweilige Besitzer des Rings, der ›maßlose Macht‹ verleiht, ist immer der nächste Todeskandidat. Seine Mörder formieren sich hinter seinem Rücken, um ihm die Macht zu entreißen, die sie selbst nur für kurze Zeit verwalten dürfen. So rächt sich die Schuld, die am »Raub des Rheingolds« klebt. (S. 66)
[25] 

Frank deutet auch diesen Frevel konsequent vor dem Hintergrund der Romantik. Dabei weist er auf bisher kaum beachtete Bezüge hin, beispielsweise auf den Einfluss des Motivs des »steinernen Herzens« auf Wagners Dichtung: Das für den Ring des Nibelungen zentrale Motiv des Liebesverzichts werde von romantischen Erzählungen wie Tiecks Der Runenberg oder E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun vorweggenommen, »in denen das warme Herz um Machtgewinn gegen das kalte Mineral getauscht und damit lieblos-kalt wird.« (S. 73) Alberichs Raub und kulturelle Umwandlung des Rheingoldes in Geldwert erinnere an die romantische Interpretation dieses Tausches als Umwendung der Seele in Dinglichkeit. »So hat die Wertabstraktion den traurigen Effekt der Herzensversteinerung« (S. 76).

[26] 

Eine besondere Erwähnung verdient Manfred Franks Hinweis auf die Parallelen zwischen Richard Wagners Ring und F.W.J. Schellings Philosophie der Mythologie. Der Einfluss der Schellingschen Philosophie auf Wagner ist noch ungenügend erforscht, umso verdienstvoller ist es, dass ihm Frank nun mit philologischer Gründlichkeit nachgeht. Zwar gebe es keinen Beleg dafür, dass Wagner Schellings Thesen über die Mythologie noch vor der Niederschrift des Rings rezipiert habe, aber die große Verbreitung der Nachschriften von Schellings Vorlesungen sowie die Übernahme seiner Theorien durch Wagners Onkel Adolf machten es wahrscheinlich, dass er mit ihnen vertraut war. Frank zeigt, dass sowohl Wagner als auch Schelling im Mythos eine Selbstzerstörungskraft erkannten, die schließlich zu seiner Aufhebung führe. Wichtig ist dabei die frühromantische Vorstellung des Dionysos als ›kommendem Gott‹, die in Schellings Spätphilosophie umgewertet würde. Schelling vergleiche Dionysos mit Herakles, Christus und Siegfried, diese seien »von der Gottesherrschaft abgedrängte menschenfreundlich handelnde Heroen: eben ›Heilande‹« (S. 82). Auch in Wagners Schriften Die Wibelungen und Heldentum und Christentum finden sich, so Frank, Parallelen zwischen Herakles, Christus und Siegfried. Doch die Ankunft des ›kommenden Gottes‹ vollziehe sich für Schelling nun nicht mehr »innerhalb des Prozesses der Mythologie«, mit ihm fahre die Götterwelt vielmehr »in den Orkus« (ebd.): Eine Deutung, die verständlich macht, warum im Ring des Nibelungen der Untergang der Götter durch die Taten Siegfrieds eingeleitet wird.

[27] 

Aus dem Vergleich zwischen Schellings Philosophie und Wagners Ring schließt Frank:

[28] 
Die tröstenden und belebenden Hoffnungen der ›Neuen Mythologie‹ haben sich verbraucht: bei Wagner wie beim späten Schelling, dem wir den ersten Ausdruck dieser utopischen Hoffnung verdanken. So geht es im Ring nicht um Remythologisierung oder Wiederverzauberung der Welt, sondern um den Aufweis, dass sich die Ressourcen, aus denen der mythische Gedanke schöpft, selbst diskreditiert, ja völlig erschöpft haben. Sein Thema wäre die Abdankung des Mythos unter dem Schein der Mythologie. (S. 85)
[29] 

Anders als bei Schelling, wo sich das mythische Zeitalter in eine höhere, geistige Einheit auflöse, sei es bei Wagner die Natur, die den Mythos aufhebe. Und auch hier greife Wagner wieder auf frühromantische Vorstellungen zurück, schließlich habe schon Novalis die Natur als »Feindin ewiger Besitzungen« bezeichnet. Die Natur verschlingt den Mythos, der an ihr gefrevelt hat. 20

[30] 

Der Bruch in Wagners Denken

[31] 

Allerdings erschließt sich dem Leser nach der Lektüre der beiden Aufsätze nicht, warum Wagners ›Zürcher Kunstschriften‹, wie zunächst behauptet, sich »bis in Einzelheiten im Kielwasser ihrer romantischen Vorgängerinnen« bewegten (S. 60) und dann im Ring des Nibelungen dieses Konzept plötzlich umgestoßen wird. In der Einleitung spricht Frank davon, dass sich Wagners positives Bild des Mythos aufgrund »enttäuschter Revolutionserfahrungen« (S. 16) getrübt habe. Dies kann aber den von Frank angenommenen Bruch in Wagners Denken nicht erklären, da alle drei ›Zürcher Kunstschriften‹ nach dem gescheiterten Dresdener Mai-Aufstand von 1849 entstanden sind, der Revolutionär Wagner bei ihrer Niederschrift also bereits gescheitert war. Zudem wendet sich Wagner schon in Oper und Drama von der Utopie einer ›Neuen Mythologie‹ ab, was Frank, da er sich hauptsächlich auf Das Kunstwerk der Zukunft bezieht, übersieht. So ist am Ende von Oper und Drama nicht mehr von einer Vereinigung des Volkes durch die Kunst die Rede, sondern von den »fruchtlosen Systemen«, mit denen sich ein Sozialist plage. Wagner empfiehlt dem Künstler stattdessen, sich »von den sinnlosen Herden, die auf dem graslosen Schutte weiden«, 21 abzuwenden. Warum es hier Widersprüche innerhalb der ›Zürcher Kunstschriften‹ gibt, erklärt Manfred Frank nicht.

[32] 

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Zusammenstellung der Texte. Der Aufsatz über Nietzsche, Wagner und Johst findet sich sowohl in Franks Der kommende Gott sowie in Gott in Exil bereits abgedruckt. In letztgenannter Untersuchung geht Frank auch ausführlicher auf Nietzsches Geburt der Tragödie ein, in Mythendämmerung wurde das Nietzsche-Kapitel wohl aus Platzgründen auf gerade mal eine Seite heruntergekürzt. So gehen viele wichtige Zusammenhänge verloren; wer sich ausführlich über die Parallelen zwischen Nietzsches Tragödien-Schrift und Wagners ›Zürcher Kunstschriften‹ informieren will, sei deshalb auf Gott in Exil verwiesen. Zudem führt das Genre ›Aufsatzsammlung‹ zu störenden Redundanzen. In beiden Aufsätzen zur ›Neuen Mythologie‹ erklärt Manfred Frank, was es mit dieser romantischen Idee auf sich hatte. Aber anders als die Leser der Sammelwerke, in denen die Aufsätze zuerst abgedruckt wurden, ist man in Mythendämmerung über diese Zusammenhänge dank der ausführlichen Einleitung bereits aufgeklärt.

[33] 

Der Fliegende Holländer und das Motiv der ›Endlosen Fahrt‹

[34] 

Mit den folgenden Texten verlässt Manfred Frank dann das Gebiet der ›Neuen Mythologie‹ und wendet sich anderen Beziehungen zwischen Wagner und der Frühromantik zu. Zunächst situiert er in »Heilsverfehlung und Liebesverbot« die Figur des Fliegenden Holländers im »Motiv-Kontext der endlosen Fahrt«, wobei er zu Beginn einen weiten Bogen von der Odyssee über die Divina Commedia zu Franz Kafkas Erzählung Der Jäger Gracchus spannt. So will er den Unterschied der modernen Variante des Fahrt-Motivs zu seinen antiken Vorläufern erläutern: Das ›transzendente Obdach‹, wie Frank mit Georg Lukács analysiert (S. 96), komme dem Menschen in der Moderne abhanden, anders als Odysseus erreichten der Fliegende Holländer und der Jäger Gracchus ihre Heimat nicht. Ihr Schicksal sei die Verbannung in die Ort- und Ziellosigkeit. Dabei interpretiert Manfred Frank – wie bereits Richard Wagner selbst in Eine Mittheilung an meine Freunde 22 – den Fliegenden Holländer als Variation des Ahasver-Motivs.

[35] 

Sodann zeichnet Manfred Frank ausführlich die Quellen der Sage vom Fliegenden Holländer nach. Dabei vergleicht er Wagners Libretto mit seiner wichtigsten Stoffvorlage, Heinrich Heines Romanfragment Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski. Außerdem geht er auf Edward Fitz-Balls Komödie The Flying Dutchman, or The Phantom Ship ein, von der er »gerne glauben« möchte, dass Richard Wagner sie gekannt hat, weil er ihr eine Reihe von Zügen entlehne (S. 111). Dies ist jedoch unwahrscheinlich, da, wie Egon Voss betont, 23 Wagners Englischkenntnisse zur Zeit der Abfassung des Holländers sehr gering waren. Frank interessiert bei seiner Untersuchung besonders, wie die Irrfahrt zur »Allegorie der Ortlosigkeit einer Liebe« (S. 114) umgedeutet wird: Die Ursache des auf dem Holländer lastenden Fluch sei nun ein »gesellschaftlich verhängtes Liebesverbot« (ebd.), beschrieben werde sein verzweifelter Versuch, durch die Liebe einer Frau von seinem Schicksal erlöst zu werden. Stimmig ist, wie Manfred Frank Wagners »historische Innovation im Repertoire des Motivs« beschreibt.

[36] 
Wagner war, soviel ich sehe, der erste, der ganz ausdrücklich die Holländerfabel mit der Geschichte der neuzeitlichen Rationalität assoziiert und in ihr eine Entstellung des auf Wechselseitigkeit gegründeten Liebesverhältnisses zuungunsten der Frau aufzuweisen versucht hat. Die Frau ist die Natur in exemplo, welcher der Weltbemächtigungs- und Beherrschungs-Drang des Manns Gewalt antut. (S. 115)
[37] 

Romantische Ironie in der Musik

[38] 

Mit dem vorletzten Aufsatz der Sammlung, »›Romantische Ironie‹ als musikalisches Verfahren« wendet sich Frank, der in der Einleitung einräumt, dass er »doch auch maßvoll musikologische Prätentionen« habe (S. 21), der Musik in Wagners Werk zu. Er vergleicht sie mit Brahms’ Vertonung von Tiecks Magelonen-Liedern und Carl Maria von Webers Oberon. Dabei führt er Richard Wagners freie Behandlung der musikalischen Periode auf die Tatsache zurück, dass im Konzept der romantischen Ironie in der »Art, wie ich es sage, seine Bestimmtheit auch wieder aufgehoben wird« (S. 121).

[39] 
Die freie Subjektivität […] sucht sich selbst ihre Melodie nach Maßgabe der wirklichen, nicht mehr von der musikalischen Syntax der klassischen Komposition oder vom metrischen Zwang der Tradition kommandierten Abfolge der Gefühle. (S. 139)
[40] 

Wie Ulrike Kienzles Untersuchung zum Einfluss der frühromantischen Ästhetik auf Wagners Kompositionstechnik zeigt, 24 ist die Frage, wie die Frühromantik nicht nur die Musikästhetik Wagners, sondern seine Musik selbst beeinflusst hat, für die Wagnerforschung aktuell. Manfred Franks Hinweis auf die Spuren der ›romantischen Ironie‹ in Wagners Kompositionen ist so interessant, dass man gern mehr darüber gelesen hätte: Spiegelt sich das romantische Subjektivitätskonzept nicht nur in Wagners Kompositionstechnik, sondern auch in der Handlung seiner Musikdramen wieder? Wie gestaltet sich dabei das Verhältnis von Orchester und Gesang? Es ist schade, dass Manfred Frank diesen Fragen nicht weiter nachgeht und seine Thesen nicht mit eigenen Notenbeispielen, sondern einzig mit einem Rekurs auf Carl Dahlhaus’ These von der ›musikalischen Prosa‹ Wagners begründet.

[41] 

Fazit

[42] 

Manfred Franks Analysen bestechen durch philologische Gründlichkeit und philosophischen Weitblick. Es gelingt ihm, das Schaffen Richard Wagners konsequent auf die Philosophie und die Dichtung der Frühromantik zu beziehen und so neue Verbindungen aufzudecken, die von der Forschung bisher nicht genug beachtet wurden. Es gibt nur wenige Texte, die so niveauvoll und differenziert den Spuren nachgehen, die die Frühromantik in Wagners Werk hinterlassen hat. Doch an vielen Stellen hätte man sich gewünscht, Frank wäre ihnen noch weiter gefolgt. Seine Aufsatzsammlung gibt viele Impulse, aber keine erschöpfende Untersuchung des Themas. Bedauerlich ist auch, dass Frank wichtige Forschungsansätze der Wagner-Literatur nicht diskutiert und etwa die Interpretationen Kurt Hübners und Dieter Borchmeyers nicht mit seiner eigenen vergleicht. Dennoch ist zu hoffen, dass seine Aufsätze dank ihrer Publikation in einem einzigen Band in der Wagner-Forschung mehr Gehör finden als bisher.

 
 

Anmerkungen

Als »Verkündigung des guten Genius« bezeichnete bereits Wagners Hagiograph Carl Friedrich Glasenapp in Das Leben Richard Wagners den berühmten Satz Jean Pauls, die Welt harre noch des Mannes, »der eine echte Oper zugleich dichtet und setzt«. Vgl. Carl Friedrich Glasenapp: Das Leben Richard Wagners in sechs Büchern dargestellt. 4. Aufl. 6 Bde. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1905, Bd. I, S. 57.   zurück
Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München: Hanser 2007, S. 261.   zurück
Vgl. etwa: Manfred Frank: Eine Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995; Ders: »Unendliche Annährung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 und ders: Das Problem »Zeit« in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und das Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. Neudruck mit Nachwort. Paderborn: Schöningh 1990.   zurück
In Der kommende Gott zeigt Manfred Frank die Ursprünge der frühromantischen Idee einer ›Neuen Mythologie‹, in Gott im Exil ihre Auswirkungen. Vgl. hierzu: Ders: Der kommende Gott. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982; Ders: Gott im Exil. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988 sowie zu den Motiven der ›unendlichen Fahrt‹ und des ›kalten Herzens‹: Ders: Kaltes Herz, Unendliche Fahrt, Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.   zurück
Richard Wagner: Religion und Kunst. In: Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. 16 Bde. Leipzig: Breitkopf & Härtel o.J. [1911–14], Bd. 10, S. 211–285, hier S. 211.   zurück
Manfred Kreckel: Richard Wagner und die französischen Frühsozialisten. Die Bedeutung der Kunst und des Künstlers für eine neue Gesellschaft. Frankfurt/M.: Lang 1986.   zurück
Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004.   zurück
Udo Bermbach: Liturgietransfer. Über einen Aspekt des Zusammenhangs von Richard Wagner mit Hitler und dem Dritten Reich. In: Saul Friedländer / Jörn Rüsen (Hg.): Richard Wagner im Dritten Reich. München: Beck 2000, S. 40–65.   zurück
Claude Lévi-Strauss hat in seinem Buch »Das Rohe und das Gekochte« Wagner als »Le père irrécusable de l’analyse structurelle« bezeichnet. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Mythologiques: Le cru et le cuit. Paris: Plon 1964, S. 23. Zur Diskussion des strukturalistischen Mythos-Begriffs bei Richard Wagner vgl. Carl Dahlhaus: Musik als strukturale Analyse des Mythos. Claude Lévi-Strauss und ›Der Ring des Nibelungen‹. In: Dieter Borchmeyer (Hg.): Wege des Mythos in die Moderne. Richard Wagner und »Der Ring des Nibelungen«. München: dtv 1987, S. 65–74 sowie Reinhold Brinkmann: Mythos – Geschichte – Natur. Zeitkonstellationen im »Ring«. In: Stefan Kunze (Hg.): Richard Wagner. Von der Oper zum Musikdrama. München, Bern: Francke 1978, S. 61–77.   zurück
10 
Manfred Frank 1982 (Anm. 4), S. 77.   zurück
11 
Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos. München: Beck 1985, S. 408.   zurück
12 
Petra-Hildegard Wilberg: Richard Wagners mythische Welt. Versuche wider den Historismus. Freiburg im Breisgau: Rombach 1996, S. 58.   zurück
13 
Zu Dieter Borchmeyers Interpretation des Mythos bei Wagner vgl. vor allem: Dieter Borchmeyer: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen. Frankfurt/M.: Insel 2002, S. 276–307.   zurück
14 
Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus. In: Herbert Uerlings (Hg.): Theorie der Romantik. Stuttgart: Reclam 2000, S. 54–56, hier S. 56.   zurück
15 
Kurt Hübner (Anm. 11), S. 409.   zurück
16 
Richard Wagner: Oper und Drama. Hg. u. kommentiert von Klaus Kropfinger. Stuttgart: Reclam 1994, S. 230–231. Wagner hat während der Konzeption von Oper und Drama ein triadisches Schaubild entworfen, als deren Zielpunkt die »Vernunft« bezeichnet wird. Es ist abgebildet in Kropfingers Ausgabe: Ebd., S. 464.   zurück
17 
Ebd., S. 230. Vgl. hierzu auch Klaus Kropfinger: Wagners triadische Zeitbeschwörung. In: Wolfgang Storch (Hg.): Der Raum Bayreuth. Ein Auftrag aus der Zukunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 70–93.   zurück
18 
Manfred Frank 1982 (Anm. 4), S. 153–187.   zurück
19 
Richard Wagner (Anm. 16), S. 131–132. Vgl. hierzu auch Wagners Beschreibung des Berliozschen Orchesters als mechanisches Ungetüm und Beethovens Instrumentalmusik als organisches Kunstwerk. Ebd., S. 80 f. und 111 ff.   zurück
20 

Wie Frank einräumt, findet sich die These von der Zerstörung des Mythos im Ring bereits bei Carl Dahlhaus (Carl Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen. Velber: Friedrich Verlag 1971, S. 111). Aber auch Kurt Hübner schreibt in Die Wahrheit des Mythos, dass der »durch Schuld hervorgerufene Untergang der Götter« im Ring als »Mythos vom Untergang des Mythos« zu verstehen sei, wohingegen im Parsifal die numinose Kraft des Mythos wiederhergestellt werde. Vgl. Kurt Hübner (Anm. 11), S. 390–392, S. 397, S. 405. Schade, dass Frank sich in seiner Deutung nicht mit Hübners Theorien auseinandersetzt und nicht über den Ring des Nibelungen auf Wagners späte Musikdramen hinausblickt.

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21 
Richard Wagner (Anm. 16), S. 391.   zurück
22 
Richard Wagner: Eine Mittheilung an meine Freunde. In: Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. 16 Bde. Leipzig: Breitkopf & Härtel o.J. [1911–14], Bd. 4, S. 230–345, hier S. 265. Vgl. hierzu auch: Dieter Borchmeyer (Anm. 13), S. 129–133.   zurück
23 
Richard Wagner: Der fliegende Holländer. Hg. von Egon Voss. Stuttgart: Reclam 2004, S. 70.   zurück
24 
Ulrike Kienzle: … daß wissend würde die Welt! Religion und Philosophie in Richard Wagners Musikdramen. Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 52–71.   zurück