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Das Werk des Züricher Stadtchirurgen und Bühnendichters Jakob Ruf im zeitgenössischen Kontext - eine Begegnung der besonderen Art

  • Hildegard Elisabeth Keller (Hg.): Jakob Ruf. Leben, Werk und Studien. 5 Bände. Band 1: Mit der Arbeit seiner Hände. Leben und Werk des Zürcher Stadtchirurgen und Theatermachers Jakob Ruf (1505-1558). Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. 319 S. [Audio-CD]. Band 2: Jakob Ruf. Werke bis 1544. Kritische Gesamtausgabe, Teil 1. 779 S. Band 3: Jakob Ruf. Werke 1545-1549. Kritische Gesamtausgabe, Teil 2. 707 S. Band 4: Jakob Ruf. Werke 1550-1558. Kritische Gesamtausgabe, Teil 3. 1019 S. Band 5: Die Anfänge der Menschwerdung. Perspektiven zur Medien-, Medizin- und Theatergeschichte des 16. Jahrhunderts. 723 S. [Multimedia-CD]. Zürich: NZZ Libro 2008. 3550 S. 450 s/w Abb. Gebunden im Schuber. EUR (D) 184,00.
    ISBN: 978-3-03823-415-9.
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Es gibt Bücher, die zu besitzen einen glücklich macht. Dass dies im Fall der hier zu besprechenden, zum 450. Todestag (1558) Jakob Rufs erschienen Werkausgabe zutrifft, hängt weniger mit der wissenschaftsgeschichtlichen oder ästhetischen Bedeutung des darin erstmals edierten Textkorpus’ zusammen als vielmehr mit der Art und Weise, wie sich die Herausgeberin, die in Bloomington lehrende Zürcher Mediävistin Hildegard Elisabeth Keller, ihrem Gegenstand genähert hat. Ruf, Zürcher Stadtschnittarzt, Verfasser medizinischer Schriften und Theaterautor, hat bislang weder in der medizinhistorischen noch in der literaturwissenschaftlichen Forschung größere Aufmerksamkeit gefunden, obwohl Person und Werk des früh zum reformierten Glauben übergetretenen, sich erfolgreich im Schnittbereich von akademisch-gelehrter und handwerklich-empirischer Medizin bewegenden und sozial sowohl innerstädtisch als auch überregional dicht vernetzten Angehörigen der Zürcher Funktionselite, wie die ihm gewidmete Edition auf eindrückliche Weise zu zeigen vermag, auf exemplarische Weise epochale Umbrüche spiegeln.

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Das Interesse der Herausgeberin und des von ihr koordinierten Bearbeiterteams (Anja Buckenberger, Andrea Kauer, Clemens Müller, Seline Schellenberg, Stefan Schöbi, Hubert Steinke) richtet sich denn auch nicht allein auf die Schriften Jakob Rufs, es gilt in nicht geringerem Maße den Handlungsfeldern, in denen dieser sich erfolgreich zu behaupten wusste. Damit leistet das Projekt weit mehr als die verlässliche Gesamtausgabe eines bislang nur schwer zugänglichen und weitgehend unerforschten Œuvres; es bietet ein umfassendes Panorama und zugleich eine in die Tiefe gehende Analyse der politischen, konfessionellen, sozialen, ökonomischen, wissenschaftlichen und literarhistorischen Kontexte, innerhalb derer Rufs Schaffen anzusiedeln und zu begreifen ist.

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(Mehr als die) Rekonstruktion einer Biographie

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Bereits der erste, die Biographie Jakob Rufs rekonstruierende Band, beschränkt sich nicht auf eine quellengestützte, die bislang vorliegende Forschung in zentralen Punkten widerlegende und insgesamt sehr gelungene Darstellung der Vita Rufs, sondern vermittelt darüber hinaus informative Einblicke in dessen Lebenswelt. Widmet sich der erste Teil der akribischen Schilderung wichtiger Stationen, die den bemerkenswerten Aufstieg des in bescheidenen Verhältnissen geborenen, aus Konstanz gebürtigen späteren Zürcher Stadtchirurgen markieren, dient der zweite, kürzere Teil der konzisen Veranschaulichung einiger jener Institutionen, Personen, Realien und Denkformen, welche das Alltagshandeln städtischer Bürgerinnen und Bürger im 16. Jahrhundert bestimmten: Das reichhaltig illustrierte, alphabetisch angeordnete Panoptikum spannt den Bogen von Adam und Eva über Ehelöffel, Hebamme, Monster, Schule oder Teufel bis Zürich und lädt zu einer Lektüre ein, die so erhellend wie vergnüglich ist. Ergänzt werden die Darlegungen des ersten Bandes durch eine kommentierte Werkübersicht, die Transkription der wichtigsten Quellen zur Biographie Jakob Rufs sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.

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Jakob Ruf als Bühnenautor

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Der zweite, dritte und vierte Band bilden gemeinsam das Herzstück der Edition, enthalten sie doch all jene Werke, die Jakob Ruf im Zuge einer kritischen Werkbestimmung sicher zugeordnet werden konnten, sowie zwei Theaterstücke, die in der älteren Literatur dem Zürcher Stadtchirurgen zugeschrieben wurden – zu Unrecht, wie die Editoren zu belegen vermögen. Die Entscheidung, Ruf zugeschriebene, jedoch als nicht authentisch entlarvte Texte in die Werkausgabe aufzunehmen, mag ungewöhnlich erscheinen; sie fügt sich allerdings nahtlos ein in die Logik einer Edition, die nicht nur das schriftlich überlieferte Œuvre eines Autors, sondern zugleich das dichte Bezugssystem, innerhalb dessen dieses Werk seine Bedeutung gewinnt, als ihren Gegenstand definiert. Dass damit für die Erforschung reformatorischer Bühnenkunst zwei Texte erschlossen werden, die eine nähere Betrachtung verdienen, sei nur am Rande vermerkt.

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Eröffnet wird die chronologisch angelegte Edition der Schriften Jakob Rufs mit dessen frühestem Drama, dem Etter Heini, in dem die Möglichkeiten einer moralisch-religiösen und politischen Erneuerung der Eidgenossenschaft diskutiert werden. In einer klug konzipierten Einleitung wird der Etter Heini zunächst literar- und kulturhistorisch eingeordnet und knapp gedeutet, bevor die Überlieferungsgeschichte der beiden noch existierenden Handschriften rekonstruiert und die editorischen Eingriffe dokumentiert werden. Die eigentliche Werkedition bietet neben der Transkription des mutmaßlich älteren Manuskripts die Varianten der zweiten überlieferten Handschrift, die Übersetzung all jener Wörter und Formulierungen, die einem modernen Leser nicht mehr ohne weiteres verständlich sind, sowie einen umfangreichen Stellenkommentar, der sich nicht darauf beschränkt, Sachverhalte zu erläutern, sondern außerdem behutsame Deutungen des Textes wagt.

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Das am Beispiel des Etter Heini rekapitulierte Vorgehen kennzeichnet auch die Präsentation der im selben und in den weiteren Bänden abgedruckten Bühnenwerke: Das auf das biblische Gleichnis von den untreuen Weingärtnern (Mt 21,33–46) Bezug nehmende Spiel Weingarten, die anonym gedruckten und fälschlicherweise Jakob Ruf zugeschriebenen Bibeldramen Zürcher Hiob und Zürcher Joseph, der einen politisch-patriotischen Stoff behandelnde Wilhelm Tell, die Passion, das einzige erhaltene protestantische Passionsspiel aus dem Gebiet der Eidgenossenschaft, sowie Rufs letztes überliefertes Stück, Adam und Eva, folgen dem Schema ›Literatur- und kulturhistorische Einordnung‹, ›Struktur und theatrale Mittel‹, ›Textgrundlage und Überlieferungsgeschichte‹, ›Illustrationen‹, ›Beschreibung der Handschrift bzw. des Drucks‹, ›Editorische Eingriffe‹, ›Szenenbestand‹ und werden sowohl durch einen Wort- als auch durch einen Stellenkommentar sowie, wo möglich, durch einen Variantenapparat ergänzt. Die Textedition zeichnet sich dabei gleichermaßen durch die hohe Qualität der Bearbeitung und die gelungene, sehr übersichtliche Gestaltung des Abdrucks aus.

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Ein Stadtschnittarzt als ›populärwissenschaftlicher‹ Publizist

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Jakob Ruf ist nicht nur als Bühnendichter hervorgetreten, er zählt auch zu den bedeutenden medizinischen Autoren des 16. Jahrhunderts und hat darüber hinaus mehrere Flugblätter, Lieder, ein lateinisches Ärzte- und Astrologenverzeichnis und eine Astrologentafel sowie Kalendertexte verfasst. Da die Handschriften und Drucke in der vorliegenden Edition, wie erwähnt, nicht nach Werkgruppen sondern chronologisch geordnet sind, finden sich im zweiten Band neben den bereits genannten Spielen auch zwei Flugblätter, welche siamesische Zwillinge (Schaffhauser Mißgeburt) bzw. eine ungewöhnliche Himmelserscheinung (Glarner Nebensonnenerscheinung) darstellen, beschreiben und deuten. Angesichts der in der frühneuzeitlichen Bildpublizistik generell engen Relation zwischen Bild und Text könnte die Tatsache, dass die Werkedition nur den Text der Flugblätter wiedergibt, irritieren. Die Entscheidung, derart zu verfahren, ist jedoch aus der Anlage der Edition, die den in Rufs Werken zahlreich vorhandenen Illustrationen im fünften Band ein eigenes umfangreiches Kapitel widmet, begründet und erscheint insofern unproblematisch, als die Faksimiles der von Ruf verfassten Einblattdrucke sich auf einer mitgelieferten Multimedia-CD befinden.

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Ein ebenfalls eine Himmelserscheinung thematisierendes Flugblatt (Glarner Wolkenerscheinung), ein historisch-politisches Lied (Konstanzerlied), das satirische Lied von Frau Schwätzerin, ein handschriftlich überliefertes Ärzte- und Astrologenverzeichnis und eine im Medium des Einblattdrucks veröffentlichte Astrologentafel sind im dritten Band enthalten. Auch diese kurzen Texte erfahren eine den von der Herausgeberin festgelegten Editionsrichtlinien verpflichtete sorgfältige Bearbeitung und Kommentierung. Der lateinische Text der Vorrede des Ärzte- und Astrologenverzeichnisses wird durch eine deutsche Übersetzung flankiert; der Kommentar zu dem Werk, das im Wesentlichen aus einer Aufzählung von Namen berühmter Vertreter der antiken, arabischen, vor- und frühmodernen Medizin besteht, erweist sich als eine Fundgrube für medizinhistorisch Interessierte.

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Im Spannungsfeld von gelehrter und praktischer Heilkunde: Jakob Rufs medizinische Schriften

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Größeren Raum nimmt im dritten Band Jakob Rufs Augenheilkunde ein, ein unvollendetes oder, wahrscheinlicher, unvollständig erhaltenes Werk, das in einer einzigen Handschrift überliefert ist. In lateinischer Sprache verfasst, bildet Rufs erste längere gelehrte Schrift im Wesentlichen eine Kompilation medizinischer Autoritäten. Eigenständiger erscheinen demgegenüber die beiden später entstandenen, im vierten Band abgedruckten medizinischen Werke, denen Ruf seinen Namen als überaus erfahrener und zugleich gelehrter Schnittarzt verdankt, das Trostbüchlein und das Tumorbüchlein. Handelt es sich bei ersterem um ein Lehrbuch für Hebammen, so gilt letzteres als der erste eigenständige Traktat über Geschwulste, ihre Diagnose und Behandlung. Das gleichzeitig auf Deutsch und Latein publizierte Trostbüchlein erwies sich in der Folge als ungemein erfolgreich: Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt, erlebte im 16. und 17. Jahrhundert zahlreiche Neuauflagen, Nachdrucke und Bearbeitungen und stellt zweifellos Rufs bedeutendste medizinische Schrift dar. Die Edition bietet deshalb nicht nur den lateinischen und deutschen Text der Originaldrucke, sondern dokumentiert außerdem ausführlich die Wirkungsgeschichte des Werks und vereinigt in einem Anhang Titelblätter und Vorreden zu Neuausgaben sowie zu der tschechischen, niederländischen und englischen Bearbeitung bzw. Übersetzung. Da sich das Trostbüchlein Rufs Funktion als Instruktor und Examinator der städtischen Geburtshelferinnen verdankt, sind außerdem einige Archivalien zum Zürcher Hebammenwesen abgedruckt.

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Auch dem Tumorbüchlein, Rufs zweiter bedeutender medizinischer Schrift war bemerkenswerter Erfolg beschieden. Das in lateinischer Sprache veröffentlichte Werk – der Originaltext wird in der Edition durch eine deutsche Übersetzung ergänzt – erfuhr zeitgenössisch eine intensive Rezeption, wie nicht zuletzt eine im 17. Jahrhundert veröffentlichte Übersetzung ins Niederländische belegt, deren Widmungsvorreden in niederländischer Sprache und deutscher Übersetzung ebenfalls in einem Anhang abgedruckt sind.

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Jakob Rufs Beiträge für Kalender

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Rufs Kalenderschriften verdienen zwar kaum jene Beachtung, welche dessen medizinische Werke gefunden haben, sie fügen sich jedoch nahtlos ein in ein Publikationsprofil, das als durchaus zeittypisch zu bezeichnen ist. Als sich im Spannungsfeld von Gelehrten- und Handwerkermilieu bewegender Stadtchirurg war Ruf geradezu prädestiniert, sich auch mit dem Medium Kalender zu beschäftigen, für das er denn auch eine Prognostik für 1544 sowie eine Praktik für 1558 beisteuerte. Auch bei den Fischsprüchen, zwölf Vierzeilern, die für jeden Monat des Jahres zwei Fischarten zum Genuss empfehlen, handelt es sich ursprünglich wohl um einen Beitrag zu einem Kalender. Sie stehen am Ende der Textedition, die durch ein Verzeichnis der für den Stellenkommentar verwendeten Literatur abgeschlossen wird.

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Ein Werk und seine Deutung

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Die fachliche Kompetenz des für die Edition verantwortlichen Bearbeiterteams manifestiert sich nicht nur in den sachkundigen Einleitungen und dem ausführlichen Stellenkommentar, er kommt auch im fünften und letzten Band der Gesamtausgabe zum Ausdruck, der eine Reihe von Aufsätzen versammelt, die literatur-, theater-, medien-, bildungs- und medizingeschichtliche Perspektiven bündeln. In den Fokus der Betrachtung rücken dabei einerseits der Typus des publizistisch tätigen Arztes und hier besonders die Frage nach dem Verhältnis von humanistisch-gelehrter Bildung und medizinischer Praxis, die Überlieferung sowie die Funktion städtischer Spiele im Zürich der Reformationszeit, die Zürcher Hebammenausbildung im 16. und 17. Jahrhundert und die Rolle des Buchmarkts bei der Vermittlung geburtshilflich-gynäkologischen Wissens in Europa in der Frühen Neuzeit sowie die Bedeutung der Pharmazeutik und Pharmakotherapie in Rufs medizinischen Schriften. Die teilweise ausführlichen Beiträge ergänzen die Textedition auf ideale Weise, sie vertiefen und systematisieren die im Zusammenhang der jeweiligen Texteditionen formulierten Befunde und stellen sie zugleich in jene Kontexte, aus denen die je spezifische Relevanz der Schriften Rufs ersichtlich wird.

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Augen- und Ohrenweide

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Eng auf die Textedition bezogen ist auch der den Illustrationen gewidmete abschließende Teil des fünften Bandes. Er enthält die Reproduktionen sämtlicher Federzeichnungen der Handschrift des Etter Heini, der Flugblätter von der Schaffhauser Missgeburt, der Glarner Nebensonnenerscheinung und der Glarner Wolkenerscheinung, der Astrologentafel, der Holzschnitte des Zürcher Hiob, des Zürcher Joseph, des Wilhelm Tell, der Passion, sowie der Illustrationen zu den medizinischen Werken, der Augenheilkunde, des Trostbüchleins von 1554 sowie der Ausgabe von 1580 und des Tumorbüchleins, und zu den Flug- und Kalenderschriften. Ein Siglenverzeichnis, eine umfangreiche Bibliographie und ein in Sachregister, Register der Historischen Namen und Register der Forschernamen untergliederter Gesamtindex runden die Edition ab.

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Konstitutiven Bestandteil der Edition bilden eine als Hörbuch konzipierte Audio-CD, die wichtige Quellen zu Rufs Biographie versammelt, sowie eine Multimedia-CD, welche dem Betrachter und Hörer Einblicke in eine aus dem Forschungsprojekt erwachsene Ausstellung (»Botz. Jakob Ruf, ein Zürcher Stadtchirurg und Theatermacher«), die vom 15. März – 21. Mai 2006 in Zürich gezeigt wurde, ermöglicht und die in Band 5 reproduzierten Abbildungen, diesmal farbig und ergänzt durch die Holzschnitte der lateinischen Erstausgabe des Trostbüchleins von 1554, sowie eine zeitgenössische ›Topographie‹ Zürichs, die an jene Orte führt, die für Rufs Wirken von Bedeutung waren, enthält. Wie auch die gedruckte Fassung der Gesamtausgabe zeichnen sich die elektronischen Medien durch beeindruckende inhaltliche und gestalterische Sorgfalt aus.

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Eine Edition, die keinen Wunsch offen lässt

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Mit der Gesamtausgabe der Schriften Jakob Rufs ist der Herausgeberin und den am Projekt beteiligten Bearbeiterinnen und Bearbeitern Bewundernswertes gelungen: Ein Werk, das hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und das zugleich den interessierten Leser zu fesseln und zu begeistern vermag. Umfangreiche Archivrecherchen ermöglichten es, die Forschung zu Jakob Ruf auf ein völlig neues Fundament zu stellen und das angesichts der lückenhaften Überlieferungslage lange tendenziell unscharfe Bild des Zürcher Stadtschnittarztes und Theatermachers klarer zu konturieren; in umfassender und zugleich kritischer Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Literatur zu denjenigen Forschungsfeldern, mit denen sich Rufs Wirken berührt, ist es den Projektverantwortlichen überdies gelungen, durch eine unvoreingenommene und präzise Analyse ihres Materials verfestigte Lehrmeinungen zu relativieren oder gar zu falsifizieren.

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Erhellend erscheinen etwa die Ausführungen zum Verhältnis von gelehrter und empirischer Medizin und der Nachweis einer auffallend osmotischen Beziehung zwischen den angeblich getrennten Welten akademischer und handwerklicher Ärzte; interessant ist der Einblick in die sozialen Verhältnisse Zürichs in einem Moment, indem die Stadt im Zuge einer durch die Reformation notwendig gewordenen Strukturanpassung die Funktionseliten reorganisiert; als aufschlussreich erweisen sich die Befunde zu den Funktionsweisen eines Buchmarktes, der bereits früh eine beeindruckende Dynamik gewinnt und eine die engen räumlichen Grenzen einer städtischen Kommune sprengende Kommunikation gewährleistet; einleuchtend sind die Ausführungen zur Praxis und zur Funktion städtischen Theaters in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. In all diesen »Brennpunkten der Frühneuzeitforschung« (I, 24) erweitert und vertieft die Edition des Werks von Jakob Ruf bereits gewonnenes Wissen. Indem sie die Ergebnisse einer mikrohistorisch zu nennenden Analyse in exemplarischer Weise auf grundlegende Probleme einer Medizin-, Sozial-, Medien- und Theatergeschichte der Vormoderne zu beziehen vermag, befruchtet sie den Forschungsdiskurs in einem für Werkausgaben ungewöhnlichem Maße und bietet weit mehr als nur einen soliden Beitrag zur Zürcher Literatur und Arzneikunst im Zeitalter der Reformation.

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Die Entscheidung, die kritische Textsicherung in eine umfassende Erforschung der Kontexte, in denen das edierte Textkorpus entstanden ist und seine Wirkung entfaltete, einzubetten, begründet nicht nur die hohe Relevanz der hier zu besprechenden Gesamtausgabe für die Forschung zur Literatur- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, sondern ermöglicht auch deren besondere Anschaulichkeit. Die Biographie Jakob Rufs, das Panorama zu Zürich im 16. Jahrhundert, die informativen und nicht selten spannend zu lesenden Einführungen und Kommentare und die elektronisch aufbereiteten Materialien ermöglichen eine nicht nur intellektuell anregende, sondern auch höchst sinnliche Präsentation eines Autors und seines Werks; sie laden dazu ein, die zahlreichen Facetten frühneuzeitlicher Lebenswelten lustvoll zu erkunden, und machen neugierig auf eine Epoche, welche in der breiteren Wahrnehmung eher fremd und fern erscheint. Es gehört zu den Verdiensten der Edition, dass Leben und Werk Jakob Rufs nicht als spröde Materie philologischer Bemühungen präsentiert werden, sondern als buntes und lehrreiches Kaleidoskop von Perspektiven auf einen Gegenstand, der von nicht nur wissenschaftlichem Interesse ist. Für jene mutigen Pädagogen, die der Frühen Neuzeit im schulischen Unterricht Raum gewähren, und für Hochschullehrer bieten die Bände und die Multimedia-CD denn auch reichhaltiges Material.

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Es kommt nicht allzu oft vor, dass eine Rezensentin in die beneidenswerte Lage gerät, nur loben zu können. Dass sich in ein Konvolut von über 3500 Seiten auch die eine oder andere Ungenauigkeit einschleicht, versteht sich von selbst. So wird etwa eine 1535 bei Lux Schauber in Basel erschienene, hinsichtlich ihrer Autorschaft umstrittene Tragedi wider die Abgoettery, die in der Forschung zum deutschsprachigen Reformationsdrama nach einem späteren Druck als Beel bezeichnet wird, als Danieldes Augsburger Dramatikers Sixt Birck eingeführt (V, 86 und 92). Angesichts des immensen Aufwands, mit dem die Edition erarbeitet wurde, angesichts auch eines äußerst sorgfältigen Lektorats erscheinen derartige Einwände allerdings als Quisquilien. Beherrschend bleibt der Eindruck einer im besten Sinne interdisziplinären, auf sorgfältiger Quellensichtung und »biobibliographischer Grundlagenarbeit« (II,9) basierenden, umsichtig und klug konzipierten, hochprofessionell organisierten, überaus ansprechend gestalteten und durchwegs leserfreundlichen Werkausgabe, die eine in jeder Hinsicht gewichtige Erschließungs- und Deutungsleistung darstellt und beweist, wozu kulturhistorisch orientierte Literaturwissenschaft fähig ist, wenn sie von fähigen und ideenreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern betrieben wird. Hildegard Elisabeth Keller und ihrem Team ist eine Edition geglückt, die auf beeindruckende Weise Grundlagenforschung mit wissenschaftlicher Analyse verbindet, aus der man Vieles lernen kann und die beim Lesen, Schauen und Zuhören außerdem richtig Spaß macht. Sollte sich der eine oder andere Editor in Zukunft daran ein Beispiel nehmen wollen, hat er den ausdrücklichen Segen der Rezensentin.