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Das Fernsehen verdirbt (immer noch) unsere Jugend!

  • Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. (edition unseld 6) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. 190 S. Broschiert. EUR (D) 10,00.
    ISBN: 978-3-518-26006-7.
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In Frankreich herrscht derzeit eine lebhafte Diskussion um die postmoderne Gesellschaft, die vor allem durch namhafte Philosophen wie Alain Badiou und Jacques Rancière bestritten wird, in die sich aber auch andere europäische Gegenwartsphilosophen einschalten, wie etwa der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek und seine Schüler. Diese Diskussion verläuft nicht nur über (gesellschafts-)politische Themen, sondern explizit auch über kulturelle, insbesondere über Kunst, Medien und Literatur. Spannend ist diese Diskussion deswegen, weil sie mit dem zentralen Begriff des Ereignisses ganz neue Impulse für die Literatur- und Medienkulturwissenschaft liefert. Mit diesem Begriff zielen die Autoren auf eine neuartige erkenntnistheoretische Perspektive jenseits des dualistischen Erkenntnismodells. In der Postmoderne, in der die großen Dualismen der Macht- und Ordnungsverhältnisse, oder auch die symbolische Ordnung, nicht mehr funktionieren, müssen die Fragen nach den gesellschaftlichen Verhältnissen auf eine neue Weise gestellt werden – in der derzeit verlaufenden Diskussion werden dabei essentiell neuartige Positionen vertreten.

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Ein Titel wie Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien des Leiters der Abteilung »Kulturelle Entwicklung« am Centre Pompidou weckt dabei die Erwartung einer weiteren Stimme in dieser Debatte um die kulturelle Verfassung unserer Gesellschaft. Erschienen ist der Band in der »edition unseld«, die es sich ins Programm geschrieben hat, geistes- und naturwissenschaftliche Weltanschauungen miteinander in den Dialog treten zu lassen, da herkömmliche erkenntnistheoretische Positionen heute zur Disposition stünden und grundlegend neu verhandelt werden müssen. Bernard Stiegler schlägt jedoch, ganz abseits von der oben erwähnten Diskussion und ohne den Anspruch, neuartige erkenntnistheoretische Perspektiven zu eröffnen, einen eigenständigen Weg zu einer Gesellschaftsdiagnose ein. Seine Studie verfolgt dabei einen denkbar reduktiven Ansatz und einen einigermaßen überkommenen Kerngedanken.

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Stieglers These lautet, es finde in unserer Gesellschaft eine allgemeine »Infantilisierung« statt, die dazu führt, dass die in Unmündigkeit geratene Elterngeneration nicht mehr in der Lage ist, Sorge und Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen. Stattdessen wird – so beobachtet es Stiegler in Frankreich – Verantwortung auf die tatsächlich unmündigen Kinder und Jugendlichen abgewälzt, indem beispielsweise die Strafmündigkeit zum Teil herabgesetzt wird und Minderjährige wie Volljährige verurteilt werden. Auf diese Weise werde der Generationenvertrag aufgehoben, die Notwendigkeit der Sorge, also der Verantwortung und Mündigkeit gerate in Vergessenheit.

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Für diese Entwicklung gibt Stiegler eine Erklärung: »Durch die Beschwörung der infantilen Triebe […] soll dagegen die Regression der Masse, die zugleich ihre Entmündigung bedeutet, vorangetrieben werden […].«(S. 27) Das provoziert natürlich sofort die Frage, wer oder was diese Beschwörung betreibt und welche Ziele damit erreicht werden sollen. Auch hier bietet Stiegler eine klare Antwort an: »Die Telekratie hat heute die Demokratie ersetzt« (S. 84) Obwohl Stiegler immer wieder pauschal von den neuen Medien spricht, sieht er insbesondere im Fernsehen den Hauptauslöser für die Infantilisierung der Gesellschaft, indem es die Aufmerksamkeit stört, die Stiegler zufolge die Grundlage für Soge und Mündigkeit bildet. Die auf diese Weise gestörte Aufmerksamkeit identifiziert Stiegler mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Wer jedoch »die Telekratie« ist, oder wer dahinter steckt, der diese gezielte Infantilisierung betreibt, wird nicht geklärt.

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»Die Telekratie« bedroht Stiegler zufolge auf diese Weise jedenfalls die gesamte Kultur: »psychische, soziale, börsenmäßige usw.« (S. 87) »Kurzschlüsse« (ebd.) seien gleichermaßen durch die neue »Psychomacht« produziert. Die Studie liest sich wie eine Neuauflage der »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer, an die Stelle der Kulturindustrie ist bei Stiegler die »Psychomacht« getreten, oder eben direkter: die Massenmedien der »Programmindustrien« (ebd.). (Auf Seite 109 werden tatsächlich beide Begriffe, Kulturindustrie und Programmindustrie, miteinander assoziiert.)

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Die Verbreitung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms erreiche bereits die Jüngsten. Schuld daran sei die Tatsache, dass viele Babys und Kleinkinder heutzutage regelmäßig fernsehen würden. Auf diese Weise, so prognostiziert Stiegler, ergebe sich eine weltweite Tendenz zu einer »immensen Aufmerksamkeitsstörung« (S. 90). »Diese Phänomene der Regression herrschen derzeit auf der ganzen Welt vor, weil die psychischen und kollektiven Identifikationsprozesse vom telekratischen Apparat beherrscht werden […].«(S. 98) Die Rede von »dem telekratischen Apparat« klingt nun aber doch eher nach einer Verschwörungstheorie als nach einer seriösen Analyse.

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Stieglers Diagnose lautet schließlich: »Was als Ende der Aufklärung und der Moderne bezeichnet wurde, zum Beispiel unter dem Namen „Postmoderne«, führt zur Liquidierung dieses Sorge-Systems.« (S. 167) Den Grundpfeiler zur Lösung dieses Problems sieht Stiegler in der Schulbildung, insbesondere im Erlernen von Lesen und Schreiben, wodurch tiefe und kritische Aufmerksamkeit eingeübt werden könne. In diesem schulischen Sinn der Alphabetisierung solle daher auch ein neuer Umgang mit den neuen Medien erlernt werden, um dadurch wieder kritische Aufmerksamkeit und somit Mündigkeit zu erlangen. Um diese Ziele zu erreichen, müsse eine »Schlacht für die Intelligenz« (S. 34 et passim) geführt werden (ein Ausdruck, den Stiegler selbst in Anführungszeichen setzt).

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Stieglers Problemdiagnose sowie seine Empfehlungen zur »Alphabetisierung«, um die Aufmerksamkeit, Sorge und Mündigkeit wieder herzustellen, wirken enorm unterkomplex, so dass angezweifelt werden kann, ob sie einen konstruktiven Beitrag zur Diagnose und Prognose gesellschaftlicher Entwicklungen darstellen.