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Totalitarismus und klassische Moderne

Uwe Hebekus’ Studie zum Zusammenhang von Politischem und Ästhetischem

  • Uwe Hebekus: Ästhetische Ermächtigung. Zum politischen Ort der Literatur im Zeitraum der Klassischen Moderne. München: Wilhelm Fink 2009. 458 S. Gebunden. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 978-3-7705-4622-0.
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Georg Lukacs hatte schon 1934 in seinem Aufsatz über Größe und Verfall des Expressionismus die These aufgebracht, dass die ihm überspannt und pathetisch scheinende Literatur des Expressionismus in ihrem grundsätzlich bürgerlichen und inhaltsleeren Denken, das die Wirklichkeit flüchte, dem europäischen Faschismus Raum zur Entfaltung geboten habe. Die letzten Seiten seines Aufsatzes eröffneten diese Perspektive, an die im Rahmen der so genannten ›Expressionismus-Debatte‹ 1937/38 in der Zeitschrift Das Wort dann vor allem Alfred Kurella anknüpfen konnte. Der Expressionismus und die Politik des Faschismus standen für Kurella in einem direkten Bedingungsverhältnis. Das Denken, der Geist des Expressionismus habe direkt in den Faschismus geführt. Auch wenn man hinter der intensiv und kontrovers geführten Diskussion vor allem weltanschauliche Dispositionen der Akteure ausmachen kann, wenn sozialistischer Realismus gegen bürgerliche Kunst gestellt wird, so war mit den Debatten um den Expressionismus doch eine ganz zentrale Frage aufgeworfen: Wie steht es um das gegenseitige Einflussverhältnis von Kunst, Literatur und (totalitärer) Politik?

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Uwe Hebekus nimmt diese Frage in seiner Konstanzer Habilitationsschrift von 2007 wieder auf, um sie an (nicht-expressionistischen) literarischen und nicht-literarischen Texten der Zeit des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zu diskutieren. Er formuliert zwei Leitthesen, in denen er erstens davon ausgeht, dass das forcierte ästhetische Autonomiedenken der Zeit gerade nicht unpolitisch war und dass zweitens ein »Denkraum« (S. 10) geschaffen worden sei, in dem sich der Nationalsozialismus platziert habe. Der sei damit selbst ein modernes politisches Phänomen. Die klassische Moderne habe »vor allem auf Grund ihrer ästhetischen Struktur eine Tendenz der Moderne eröffne[t], wie sie auch für den politischen Diskurs und das politisch Imaginäre des Nationalsozialismus konstitutiv gewesen ist« (S. 11). Die Studie soll als literaturwissenschaftliche Arbeit einen Beitrag in der Debatte leisten, wie modern denn Nationalsozialismus oder, allgemeiner, die politischen totalitären Systeme überhaupt gewesen sind. Der Anspruch auf ästhetische Modernität und Autonomie sei zugleich implizit eine latent politische Stellungnahme. Hebekus, dessen Ausführungen terminologisch erkennbar, aber für den Uneingeweihten nicht immer sofort durchsichtig an die Konstanzer Großforschungsverbünde zum politisch Imaginären und zur ›Figur des Dritten‹ anschließen, beruft sich für die im engeren Sinn politisch-politologische These auf die französischen Philosophen Laclau und Lefort. Deren Überzeugung, die Totalitarismen seien immer auch Formbildungsprozesse, erlauben Hebekus die These von der »Affinität zwischen einem Ästhetischen der Moderne und einem Politischen der Moderne« (S. 22).

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Während diese Grundannahmen in der Einleitung dargestellt werden (S. 9–26), gliedert sich die Arbeit insgesamt in drei Teile. Teil 1 (S. 29–204) »Ästhetische Elemente eines Politischen der Moderne. Repräsentation, Form, Abstraktion / ›Schema‹« umfasst die Kapitel 1–3 und will »Figuren des modernen Ästhetischen« (S. 23) erarbeiten. Kapitel 1 behandelt unter dem Leitaspekt der Repräsentation die Autoren Carl Schmitt, Gerhard Leibholz und Hans J. Wolff. »Der Wille zur Form« ist das zweite Kapitel überschrieben und geht dem »politische[n] Ästhetizismus« bei Alfred Rosenberg und Georg Simmel nach. Fragen zur politischen Einbildungskraft stellt Kapitel 3 am Beispiel vor allem wiederum Schmitts und Hugo von Hofmannsthals.

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Der zweite Teil bietet einzelne »Lektüren zum ästhetischen Politischen im Zeitraum der Klassischen Moderne« (S. 205–380). In Kapitel 4 interpretiert Hebekus Stefan George unter dem Aspekt der politischen Ornamentik, das folgende ist Ernst Kantorowiczs Friedrich-Buch gewidmet. »Politische Archaik der Moderne« heißt Kapitel 6 und behandelt Hofmannsthals »Soziopoetik des Opfers«. Kapitel 7 nimmt Brechts Der Flug der Lindberghs, das achte mit Leni Riefenstahls Triumph des Willens einen Film in den Blick.

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Kapitel 9 ist zugleich der deutlich knappere Schlussteil III und heißt »Grenzkörper. Zur Topologie totalitaristischer Souveränität« (S. 383–418). Hier geht Hebekus davon aus, dass selbst der rassistische Antisemitismus führender Nationalsozialisten ästhetische, nicht biologische Gründe gehabt habe und damit ein »Fall von ästhetischer Ermächtigung gewesen« sei (S. 25).

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Ästhetische Elemente
eines Politischen der Moderne

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Kapitel 1 »Repräsentation: Inversion der Mimesis« nimmt politische und ästhetische Repräsentationstheorien zum Anlass, sie auf jeweils parallele totalitäre Implikationen zu untersuchen. In Carl Schmitts Theorie solle »das Bezeichnete [die politische Einheit] ein Effekt oder gar ein Produkt des Bezeichnenden« sein. »Daß diese Theorie der politischen Repräsentation sich mit genau dieser Inversion in eine Nähe zu gewissen Poetologien der Klassischen Moderne – wie derjenigen von Benns George [gemeint ist die entsprechende Rede Benns über George] und derjenigen Hofmannsthals – bringt, macht sie ihrerseits ästhetisch modern« (S. 31). Hebekus’ Leitthese ist, dass sich das Repräsentierte mimetisch zum Repräsentierenden verhält. Die Darstellung, das Bild, gehe der Vorstellung der politischen Einheit voraus, es braucht erst das Bild des Leviathan, um von einem politischen Körper reden zu können. Daraus resultiere bei Schmitt im Bereich des Politischen die Idee einer »Totalinklusion der Individuen ins Politische« (S. 58), was wiederum den totalitären Zug dieses Denkens zeigen soll.

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In Kapitel 2 widmet sich Hebekus intensiver einer dezidiert ästhetischen Kategorie: der Form. In der Moderne sei Form ein Konzept, »das erstens radikal mit dieser formtheoretischen Tradition [Form als Gegensatz zum Stoff] bricht und das zweitens mit nur geringer Verzögerung auf politische Entwürfe abstrahlt« (S. 64). An den Schriften Alfred Rosenbergs bemerkt Hebekus eine starke Beziehung von ästhetischer und politischer Souveränität, die sich im Form-Willen äußere. Nach einem längeren Luhmann-Exkurs wird Georg Simmel als »emphatische[r] Theoretiker einer modernen totalisierenden Form« (S. 91) vorgestellt, als der er sich schon 1898 als George-Interpret gezeigt habe. Simmels Theorie der Form sei zugleich eine Vorstellung von Gesellschaftlichkeit. Auf diesem Weg nimmt Hebekus auch Simmels ›individuelles Gesetz‹ in den Blick. Bei Simmel wirke ein »post-metaphysische[s] [...] Prinzip der Formgebung« im Bereich des Ästhetischen, des Sozialen wie des Politischen, die sich in der Form verbinden (S. 119). Man kann sich angesichts dieser starken Thesen fragen, ob alle Versuche und Überlegungen der Ordnung, Strukturierung, Rhythmisierung und Gestaltgebung unweigerlich totalitäre Implikationen tragen müssen, wie es in der Studie gelegentlich scheint. Dieter Burdorfs Poetik der Form, 1 die nur punktuell eingebunden ist, hätte hier vielleicht weitere Differenzierungen ermöglicht.

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Die klassische Moderne habe eine Vorstellung von Anschauung und Einbildungskraft hervorgebracht, die eine Art früher pictorial turn gewesen sei, so der Autor in Kapitel 3. Hofmannsthal und Schmitt betreiben für Hebekus eine Kritik an der Schriftgläubigkeit der Romantik, eine Kritik an einer durchsemiotisierten und damit unzuverlässigen Moderne. Aus der Schrift-Kritik entstehe eine politische Wahrnehmungslehre, die vor allem bei Schmitt wieder auf Formsetzung und Homogenisierung zulaufe. Politischem wie Ästhetischem gehe es um Wahrnehmbarkeit, um Aisthesis. Sofern diese Formgebung zur Sichtbarkeit im Sinne des vorangehenden Kapitels betrieben wird, trägt sie für Hebekus das Zeichen des Totalitären.

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Lektüren zum
ästhetischen Politischen

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Der zweite Teil beginnt mit einem Kapitel zur ästhetischen Vergemeinschaftung bei Stefan George. Dieser habe eine »Politik der Form« betrieben. Die »zielt dabei stets auf ein und dasselbe: auf eine ›zweite Geburt‹, eine Selbst-Zeugung des Subjekts in einer und durch eine Form, die sich allein aus eigener ästhetischer Kraft in sich selbst schließt und die sich in genau diesem Schließungscharakter nicht zuletzt einer bestimmten Ästhetik des Ornamentalen verpflichtet weiß« (S. 209). Hebekus’ Analysen nehmen dann nicht ganz überraschend Gedichte aus dem Teppich des Lebens und aus Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, ergänzt um Texte wie Weihe, in den Blick. Die Interpretationen münden in die in der Forschung schon diskutierte These, der ornamentalen Geschlossenheit der Gedichte entspreche die des Kreises, zu dessen Stabilisierung der Maximin-Kult diene. Innerweltliche Legitimation geschehe durch die Berufung auf ästhetische Kategorien. Die Thesen überzeugen, belegt durch die Analysen, sie sind aber in der Literatur nicht unvorbereitet: Hebekus bindet leider die wichtigen Studien von Braungart, Kolk, Groppe, von Petersdorff und Martus, der unter dem Aspekt der Werkpolitik wichtig gewesen wäre, nur sporadisch oder gar nicht ein, ebenso einige neuere Spezialstudien. Die neueren Arbeiten betonen etwa, dass der Kreis gerade nicht so geschlossen war, wie es die Metapher suggeriert, was auf Georges konstatiertes Vergemeinschaftungsstreben ein anderes Licht wirft. So entfallen auch Ergebnisse zur Vorstellung von Neu-Geburt durch das Ästhetische im Stern des Bundes (dazu gibt es einen Aufsatz Ulrich Raulffs), der gar nicht ausführlicher thematisiert wird, was für die Gemeinschaftsbildung und die von Hebekus so genannte ›zweite Geburt‹ interessant gewesen wäre.

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Auch das folgende Kapitel widmet sich mit Ernst Kantorowiczs Friedrich-Buch von 1927 dem George-Kreis. Kantorowicz unterlege seinen Thesen einen Formwillen, wie er im zweiten Kapitel von Hebekus dargelegt worden ist. Sichtbarkeit und Gestalthaftigkeit seien Leitkategorien der Analyse und Darstellung von Kantorowicz, der sich damit ebenfalls als ein Autor erweist, der das Ästhetische mit dem Politischen überblende. Auch in diesem Kapitel ist die Forschung allerdings nicht systematisch ausgewertet, was zum Beispiel für die möglichen Wurzeln von The King’s two Bodies im georgeanischen Denken bedauerlich ist, denen Ulrich Raulff in einem Aufsatz nachgegangen war. Raulffs Studien fehlen, die die Thesen aber hätten stützen und ergänzen können.

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Hugo von Hofmannsthal steht im Zentrum des sechsten Kapitels, das sich der »Soziopoetik des Opfers« als Form der »[p]olitische[n] Archaik der Moderne« (S. 265 ff.) zuwendet. Mit René Girard untersucht Hebekus das Gespräch über Gedichte, den Turm und die Schrifttums-Rede auf die politischen Aspekte einer »Poetologie des Opfers« (S. 267). Für das Gespräch konstatiert Hebekus eine Analogie von ritueller und poetischer Symbolik, die die Dichtung zum »Purgatorium« erkläre (S. 284). Der Turm wird erneut in die bereits festgestellte Linie einer Schrift-Kritik gestellt: Statt auf Schrift setze Hofmannsthal hier auf Ritual und (politisches) Opfer als Medien von Erinnerung und Gemeinschaftsstiftung. Die Schrifttums-Rede fordere anderes, nämlich das selbstreferentielle Opfer des Suchenden, das auf Dauer gestellt werde.

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Im Brecht-Kapitel 7 geht es Hebekus um den Flug der Lindberghs. In diesem Lehrstück, ursprünglich ein Radiotext und somit auch im Kontext von Brechts Medienexperimenten zu verorten, zeige sich der Versuch »einer Ästhetik der politischen Kollektivierung«, den Brecht »ästhetisch denkt« (S. 305). Diese Kollektivierung wiederum wird als eine totalitaristische verstanden. Lindberghs Flug interpretiert Hebekus als »Modell einer Kollektivierung des Selbst, die von jedem einzelnen geleistet werden muß« (S. 331). Dies sei Brechts Bedingung des Politischen überhaupt.

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Ein Medienwechsel geschieht im folgenden achten Kapitel, das sich Riefenstahls Propaganda-Film Triumph des Willens widmet. Die im Film überhöhte politische Ritualität zeigt den Nationalsozialismus für Hebekus als »in seinem Kern ästhetisches Phänomen« (S. 337 f.) Die rituellen Formen der Parteitage liest er als »vollständige[n] Selbstausdruck des politisch Imaginären des Nationalsozialismus«, was Riefenstahl noch steigere (S. 338). Nach dieser sehr pointierten und streitbaren These ist es der Film selbst, der die Ineins-Setzung von Totalitarismus und ästhetischer Modernität herstellt und dem Nationalsozialismus dadurch zum Durchbruch verhelfen will. Hebekus spricht von »ästhetische[r] Erziehung zur ›Bewegung‹« (S. 341), wobei Schiller nur das Stichwort zur These liefert. Zentrale Gestaltungsverfahren Riefenstahls dafür sind der Einsatz von Ornamenten und Schemata bei der Strukturierung von Akteuren und Raum, so dass der Effekt von höchster Homogenität und von Führerhierarchie zugleich entsteht.

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Zur Topologie
totalitaristischer Souveränität

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Kapitel 9 ist zugleich der dritte, zusammenfassende Teil der Studie. Hier wird nach dem Zusammenhang moderner politischer Ästhetik mit überkommenen Formen aus der Zeit des Absolutismus gefragt und vor allem dezidiert nach Begründungen für den modernen Rassismus (der »rassistische Signifikant«, S. 417 z. B.) gesucht, die für den Autor wiederum im Ästhetischen zu finden sind, wie er an Rosenberg abschließend darstellt. Der Rassismus habe sich in legitimatorischen Rassebildern und -konstruktionen entworfen. Man kann dabei dann im Anschluss fragen, ob Techniken der Dar- und Vorstellung, Imaginationen, wirklich auch gleich Gründe sind; ob Symptome auch Auslöser sein können oder müssen, was die weitreichende These zu implizieren scheint.

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Fazit

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Die Frage nach der Vorgeschichte und den Vorbedingungen des Nationalsozialismus ist weiter eine drängende, die vor allem auch im Bereich der Künste und einer differenziert verstandenen Ideengeschichte längst nicht abschließend beantwortet ist. Uwe Hebekus’ Buch stellt diese Frage explizit, was allein ein lohnendes Unterfangen ist. Angesichts dieser Bedeutung gerät Kritik schnell ins Kleinliche, und so beschränke ich mich abschließend auf den eher grundsätzlichen Hinweis, dass einige stilistische Eigenarten wie die häufige Verwendung von Schrägstrichen (Ästhetik des Politischen / politische Ästhetik o. ä.) und einzelnen Anführungszeichen bei der Begriffsbildung – warum? – oder die gelegentlich forciert erscheinende Einbindung von Formeln und Schlagworten aus der Theorie französischer Herkunft das Lesen erschweren. Das allein aber kann nicht den Ausschlag geben bei einem Buch, das an einem ganz zentralen Diskurs partizipiert. Künftige Arbeiten werden die Ergebnisse von Hebekus aufnehmen, wenn es darum gehen wird, noch klarer den Unterschied von Totalitarismus, Faschismus, Nationalsozialismus und deren jeweiliger Verbindungen zum Ästhetischen zu bestimmen.

 
 

Anmerkungen

Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001.   zurück