IASLonline

Filmzeugnisse des Holocaust

Michael Elm untersucht Zeitzeugenschaft
im audiovisuellen Medium

  • Michael Elm: Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust. Berlin: Metropol 2008. 344 S. EUR (D) 21,00.
    ISBN: 978-3-938690-77-2.
[1] 

Wer in diesen Tagen im Krakauer Kazimierz-Viertel eine Führung durch die Gedenkorte in Auschwitz inklusive Bustransfer hin und zurück bucht – immerhin handelt es sich um eine gute Stunde An- oder Abreise –, wird auf der Fahrt durch Roman Polanskis Der Pianist entweder jenem »Verblendungszusammenhang« ausgesetzt, den eine Kulturindustrie perfide und massenbetrügerisch hervorbringt: so zumindest der Eindruck eines von den Annahmen Adornos und Horkheimers aus der Dialektik der Aufklärung von 1947 beeinflussten Auschwitzbesuchers. Oder man wird als Reisender auf Grund der Tatsache, dass der Film auf den Erlebnissen des titelgebenden Pianisten Władisław Szpilman basiert, einfühlsam auf den Besuch der Gedenkstätte eingestimmt: So argumentiert Michael Elms Studie, die angesichts ihrer ansonsten stark von der Frankfurter Schule geprägten Ausrichtung ein wenig überraschend Der Pianist ebenso wie Steven Spielbergs Schindlers Liste ins Töpfchen der »guten«, didaktisch wertvollen zeugenschaftsbekundenden Filmwerke sortiert:

[2] 
Der Film erscheint in besonderer Weise für die Arbeit in der politischen Bildung geeignet, weil er [...] mit großer historischer Akkuratesse die filmische Umsetzung des Zeugnisberichts von Szpilman vornimmt und damit der Dimension des Gedenkens an den jüdisch-polnischen Musiker und dessen Familie Rechnung trägt. (S. 93)
[3] 

Demgegenüber landen bei Elm audiovisuelle Versuche einer Annäherung an den Nexus von Zeugenschaft und Film, die auf nicht-jüdische und tätergesellschaftliche Aspekte fokussieren – wie Der Untergang oder die TV-Serie Holokaust –, sowie der mittlerweile zum geflügelten Wort gewordene »Knoppismus« im Kröpfchen.

[4] 

Methodische Flankierungen:
Traumatheorie, Historiografie und Frankfurter Schule

[5] 

Die Studie berücksichtigt, dass textuelle Zeugnisse wie Memoiren oder materielle Träger von Erinnerung wie die baulichen Überreste von Konzentrations- und Vernichtungslagern oder »Führerbunkern« weniger publikumswirksam sind als audiovisuelle Formate. Elms Auswahl beschränkt sich dabei auf Filme, die nicht selber Zeugnis ablegen wie die alliierten Aufnahmen der befreiten Todeslager in Auschwitz, Bergen-Belsen oder Nordhausen, sondern in denen Überlebende rückblickend – direkt oder indirekt, dokumentarisch oder durch fiktive Elemente überformt – zu Wort kommen. Angesichts der zahlreichen Untersuchungen zum Nexus von personengebundener Erinnerung und filmischer Darstellung (man denke nur an die vielfältigen Analysen zu Claude Lanzmanns Shoah) skizziert Elm ein eigenes Forschungsinteresse, das durch die Zusammenschau von filmisch aufbereiteten Opfer- und Täterperspektiven vergleichsweise innovativ wirkt, auch wenn es stark auf geläufige methodische Vorgaben und Interpretationsschablonen rekurriert.

[6] 

So richtet sich der Fokus darauf, »den unter anderem sich über das Medium Film vollziehenden Transformationsprozess vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis zu untersuchen« (S. 11). Im ersten von vier ausführlichen Kapiteln werden entsprechend dieser Ankündigung die erinnerungskulturellen Theoreme und im Besonderen die Differenz von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis von Jan und Aleida Assmann referiert. Die Kapitelüberschrift »Historiografie nach Auschwitz« erscheint dabei ein wenig missverständlich, weil der Terminus »Historiografie« geschichtswissenschaftliche Debatten der frühen 1990er Jahre aufruft, die ursprünglich von der Frage der Beschreibbarkeit des Holocaust inspiriert waren, in Elms Ausführungen aber keine Rolle spielen (Stichworte: Hayden White sowie Saul Friedländers Sammelband Probing the Limits of Representation von 1992).

[7] 

Angereichert und aufgelockert werden diese Ausführungen durch kurze Exkurse in die filmische Praxis, etwa über die Schlagworte »sozialer Zusammenhang« und »Familiengedächtnis«, durch Bezugnahmen auf einen Dokumentarfilm über die »Vertreibung der jüdischen Familie Reinhardt aus der [...] Ortschaft Dudenhofen« (S. 28), auf Sönke Wortmanns Das Wunder von Bern oder Oliver Hirschbiegels Der Untergang (S. 38–47). Eine kulturwissenschaftliche Reformulierung des ursprünglich psychoanalytischen Traumakonzepts, das »die Auswirkungen von Nationalsozialismus und Holocaust weit über die angeführte Generationenschwelle [der Zeitzeugen] hinaus wirken sieht« (S. 61) und sich in der wirkungsmächtigen Begrifflichkeit der »Nachträglichkeit« nach Freud und jüngst Cathy Caruth äußert, führt die erinnerungskulturelle Perspektive mit der Kritischen Theorie, insbesondere dem Aspekt der Historiografie, zusammen (Kapitel 1.6, S. 66 ff.):

[8] 
Zusammenfassend kann man sagen, dass Adorno für die Philosophie formuliert hat, was in der Theorie der Erinnerung durch das Trauma kodifiziert wird; der Zivilisationsbruch schafft eine Leerstelle, die [...] zu keinem Augenblick ganz begriffen werden kann. (S. 77)
[9] 

In filmischer Form werde diese Leerstelle bzw. die durch sie markierte traumatogene Unbegreiflichkeit des vergangenen Geschehens, die in Zeitzeugenaussagen zum Ausdruck gelangt, wie angedeutet in Polanskis Der Pianist »in künstlerisch sublimierter Form zugänglich« gemacht (S. 100).

[10] 

Das filmische Zeitzeugenmaterial:
Plädoyer gegen die Einebnung von Opfer- und Täterschaft

[11] 

Die lebensgeschichtlichen Traumata und ihre cineastisch aufbereiteten Repräsentationen betreffen sowohl die überlebenden Opfer als auch Vertreter der Tätergesellschaft. Das zweite Kapitel reformuliert ausgiebig die psychoanalytischen und von der Kulturwissenschaft importierten traumatheoretischen Modelle zu »Zeugenschaft – Bedeutung und Transformation« angesichts der nunmehr erreichten Generationenschwelle. Gleichzeitig wird hierbei deutlich, dass es in den Augen Elms zu einer qualitativen Scheidung der bildungspolitischen Verwendbarkeit von filmischen Aufbereitungen kommt, die nichtjüdische deutsche Zeitzeugengehalte thematisieren, gegenüber solchen, in denen die Zeitzeugenperspektive der Opfer im Vordergrund steht. Nur die letztgenannten Beispiele verdienen es letztlich (und per se sicher zu Recht), als brauchbar klassifiziert und für einen entsprechenden Einsatz empfohlen zu werden, während erste trotz der augenscheinlichen Unzuverlässigkeit der Zeitzeugen versuchen, Authentizität zu evozieren, ein solches Vorhaben aber angesichts der offenkundigen Verstrickung der interviewten Zeitzeugen in die Verbrechen des Holocaust oftmals exkulpatorischen Charakter annimmt. Elm weist hier richtig auf einen Nivellierungseffekt von Opferaussagen hin, den das heute geläufige Verständnis von Zeugenschaft – auch und besonders in filmisch vermittelter Form – aufweist:

[12] 
Trotz der erheblichen Unterschiede, die zwischen der kumulativen Extremtraumatisierung von Überlebenden des Holocaust und anderen Zeitzeugen im »Erleben« der Nazizeit, aber auch in der Erinnerung an sie existieren, hat sich erinnerungskulturell und speziell im Film ein Verständnis von Zeugenschaft etabliert, das solche Differenzen zugunsten eines Authentizitätseffekts in der filmischen Inszenierung übergeht. (S. 179 f.)
[13] 

Diese Nivellierung des Zeitzeugenmaterials in filmischen Darstellungen versuchen die letzten beiden Kapitel kritisch aufzulösen, um sie einer letztlich notwendigen differenzierenden Betrachtung und Wertung zu unterziehen. Betrachtet man im dritten Kapitel Elms Analyse des video testimonials des Holocaustüberlebenden Menachem S., das für das an der Yale University in New Haven angesiedelte Fortunoff Video Archive angefertigt wurde, und im darauffolgenden Kapitel seine Ausführungen zur Eignung von Guido Knopps TV-Serie Holokaust für bildungspolitische Zwecke, dann mag eine solche Differenzierung zwar auf Sympathie und in ihrer Argumentation auf Zustimmung stoßen. Beim genauen Hinsehen auf diese detailreichen und sehr akribischen Analysen fällt aber auch auf: Das geht nicht immer gut.

[14] 

Mikrostudie eines Videos: Menachem S.

[15] 

Denn der Einsatz von audiovisuellen Zeugenschaftsdokumenten wie das von Menachem S., das sowohl auf Grund der beinahe unglaublich anmutenden Lebensgeschichte des child survivor selbst als auch mit Blick auf die »ästhetische Dimension des video testimony« mit variierenden Kameraeinstellungen zur Verdeutlichung von Emotionen des mündlich Berichtenden außergewöhnlich ist (S. 192 f.), bedingt erstens schlicht die Verfügbarkeit dieses Filmdokuments. Die aber ist nicht im gewünschten Maß gegeben, wie Elm ein wenig verschämt in einer Fußnote eingesteht (S. 218). Zweitens orientieren sich die Ausführungen zum bildungspolitisch-medienpädagogischen Effekt dieser Film-Zeugnisse ausgesprochen stark an den Vorgaben von Dori Laub und Geoffrey Hartman: Generierung einer sekundären Zeugenschaft (S. 208 ff.), die nicht mehr empathisch während des Interviews erfolgt, sondern durch Rezipienten der Interviewszenen in Bildungseinrichtungen. Laub und Hartman hatten als Initiatoren des
Fortunoff Video Archive bereits die Besonderheiten und Stärken gerade dieser Art von speichermedial eingefangener und nunmehr distributionsmedial verfügbarer Zeugenschaft hervorgehoben; gerade die filmisch festgehaltenen Erinnerungen des Menachem S. sind, wie Elm korrekt anmerkt, von Laub ausführlichst interpretiert worden als Schilderungen eines »Event without a Witness«. 1 Drittens, und das hängt unmittelbar mit dem schwierigen Zugang zu diesem Videodokument zusammen, stellt sich Elm als mitfühlender Idealrezipient dar, was auf eine fehlende breitere Zuschauerreaktion verweist. Eine an dieser Stelle notwendige empirische Komponente, die erfasst, wie die anvisierten Zielgruppen Filmzeugnisse wie dieses aufnehmen, wurde – vermutlich aufgrund der schwierigen Durchführbarkeit – nicht in die Studie eingewoben.

[16] 

Guido Knopp, Holokaust und die audiovisuelle
Erfindung des Führerbefehls

[17] 

Im abschließenden vierten Kapitel zu Knopps Holokaust-Serie, die im Vergleich ein Negativexempel abgibt und damit wesentlich zu der angestrebten und notwendigen Differenzierung in angemessene und weniger adäquate Beispiele von Zeugenschaft im Film beiträgt, wäre eine breitere Rezeptionsstudie dagegen mit weniger Umständen durchzuführen gewesen. Doch auch hier beschränkt sich Elm auf seine eigene subjektive Auslegung, die flankiert wird von einer fünfzigseitigen filmanalytischen Betrachtung inklusive selbst erstelltem Sequenzenprotokoll (Kapitel 4.6, S. 243–93). Deftig formulierte, wenn auch in der Sache zutreffende Schlüsse wie der einer durch implizite Schuldzuweisung an Hitler entstehenden kollektivapologetischen Anlage der Serie –»dass Knopp [...] den Führerbefehl [zur „Endlösung der Judenfrage«] zwar nicht gefunden, aber audiovisuell erfunden hat“ (S. 284) – überspielen dabei letztlich nicht, dass der Argumentationsgang mit einer gewissen Verve vorgebracht wird, die sich im Endeffekt kontraproduktiv auswirkt. Damit verschenkt nicht nur die Arbeit, sondern auch der Verfasser intellektuelles Potential, das insbesondere in den Ausführungen zur Kritischen Theorie und ihrer nach wie vor gegebenen Passung auf den Gegenstand ansonsten wunderbar ausgestellt wird.

[18] 

Bedauerliches bias

[19] 

Im Ganzen setzt sich der Eindruck durch, dass hier eine ausgesprochen wohlinformierte, in der Einzelanalyse der filmischen Dokumente von Holocaust-Zeugenschaft überzeugende und insbesondere bei der Anwendung kritisch-theoretischer Schablonen auf den Gegenstand ungemein reflektierte Arbeit vorliegt. Die in ihr vorgenommene Unterscheidungen in filmische Dokumente, die ins Töpfchen gehören, und solche, die im Kröpfchen landen, wird allerdings nicht immer ausreichend mit den fachlichen Standards und Methoden derjenigen Disziplinen belegt, die neben den sehr gut referierten einschlägigen Wissenschaften aufgerufen werden. Neben der bereits erwähnten Historiografie bzw. Geschichtswissenschaft sind dies die Medienpädagogik und – vor allem in Abgrenzung zu den filmdidaktischen Modellen – die wissenschaftlichen Flankierungen im Bereich der Bildungspolitik. Schließlich verfällt die Argumentation recht vorschnell in ein Schwarz-Weiß-Muster in der Bewertung der auf Zeugenschaft basierenden filmischen Beispiele, so dass man kaum von einer sich aus den Ausführungen ergebenden Unterscheidung sprechen kann, sondern diese vielmehr a priori festzustehen scheint. Und dies sorgt eben für jenen Scheffel, unter den sich die Arbeit (un?)freiwillig stellt: den eines nicht immer gegenstandsadäquaten und sicherlich nicht der intellektuellen Brillanz des Verfassers angemessenen bias.

 
 

Anmerkungen

Dori Laub: An Event without a Witness: Truth, Testimony and Survival. In: Dori Laub / Shoshana Felman (Hg.): Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History. New York, London: Routledge 1992, S. 75–92.   zurück