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Justizkritik - ohne »Juristenherz«:

Literatur und Recht in der Weimarer Republik

  • Thorsten Miederhoff: »Man erspare es mir, mein Juristenherz auszuschütten.« Dr. iur. Kurt Tucholsky (1890-1935). Sein juristischer Werdegang und seine Auseinandersetzung mit der Weimarer Strafrechtsreformdebatte am Beispiel der Rechtsprechung durch Laienrichter. (Rechtshistorische Reihe 369) Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang 2008. 301 S. Kartoniert. EUR (D) 51,50.
    ISBN: 978-3-63157581-9.
  • Reiner Scheel: Literarische Justizkritik bei Feuchtwanger, Musil, Wassermann und A. Zweig. (Düsseldorfer Schriften zur Literatur- und Kulturwissenschaft 5) Essen: Klartext 2008. 252 S. Paperback. EUR (D) 26,00.
    ISBN: 978-3-89861-919-6.
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1. Reiner Scheel über literarische Justizkritik

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Ob »ein großer Teil der Geisteswissenschaftler das wegen seiner Abstraktheit, seiner Komplexität und seines spezifischen Fachjargons nur schwer zugängliche Rechtssystem« tatsächlich »für ein Sammelsurium wirklichkeitsferner oder willkürlicher Regelungen« hält, wie Reiner Scheel in seiner Düsseldorfer Dissertation behauptet (S. 14)? Die Äußerung suggeriert schließlich, dass ›Abstraktheit‹, ›Komplexität‹ oder gar ›spezifischer Fachjargon‹ den so genannten Geisteswissenschaften fremd seien – was durch einen Blick auf den aktuellen Forschungsstandard leicht zu widerlegen ist. Die theoretische Problematisierung hermeneutischer Verfahrensweisen zum Beispiel, wie sie in der traditionellen Textinterpretation gleichermaßen zum Tragen kommen wie in der Rechtsauslegung, dürfte innerhalb der Germanistik erheblich weiter getrieben worden sein als innerhalb der Jurisprudenz. Das heißt ja nicht, dass hermeneutisches Arbeiten seine Legitimation verloren hätte. Reiner Scheel praktiziert es, auf einen methodisch-theoretischen Vorspann verzichtend, in ebenso hergebrachter wie ergiebiger Weise: Er trägt ein juristisches Fach- und Kontextwissen an vier bedeutende Romane heran, um bestimmte Teilaspekte besser zu verstehen, Zusammenhänge aufzuzeigen und »das diesen Texten zugrunde liegende spezifische Rechtsverständnis« (S. 7) herauszuarbeiten.

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Vier justizkritische Romane

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Die Auswahl der Romane ist schlüssig begründet. Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa, Jakob Wassermanns Der Fall Maurizius, Lion Feuchtwangers Erfolg und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften erschienen in einem schmalen Zeitfenster von nur drei Jahren, zwischen 1927 und 1930. Alle vier Werke enthalten mindestens einen Handlungsstrang, in dem eine justizkritische Perspektive dominiert. Dabei gehen sie ausnahmslos exemplarisch vor: Probleme und Fehlleistungen der Justiz, moral- und rechtsphilosophische, kriminologische und psychologische Grundsatzfragen werden jeweils an einem einzelnen, besonders komplexen Rechtsfall illustriert; was von der abstrakten Ebene des Rechtssystems gesteuert wird, zeigt sich dem Leser in seinen ganz konkreten Auswirkungen auf die Betroffenen. In der historischen Lokalisierung der Handlung und in der jeweiligen Intention der vier Werke sind freilich auch wichtige Unterschiede festzustellen.

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Der Fall Grischa Paprotkin

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Verhaftung und Hinrichtung des russischen Sergeanten Grischa vollziehen sich im Jahr 1917 unter den Bedingungen des Kriegsrechts im besetzten Teil Russlands. Unmissverständlich macht Arnold Zweig klar, dass die deutsche Militärjustiz »als hocheffizientes Instrument zur Unterdrückung individueller Freiheit und Würde« (S. 59) fungiert hat. Die Träger des Systems sind immer korrumpiert: Selbst wenn sie guten Willens sind, selbst wenn sie versuchen, Härten zu mildern und ethisch verantwortungsvoll zu handeln, müssen ihre Bemühungen angesichts der grundfalschen Verhältnisse wirkungslos bleiben. Justiz- und Kriegskritik sind nicht zu trennen, so wie das Kriegsrecht nicht vom Krieg zu trennen ist; Abhilfe, so der Pazifist, Sozialist und Zionist Arnold Zweig, wäre nur in einer tiefgreifend veränderten Zivilgesellschaft möglich.

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Der Fall Martin Krüger

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Wie sehr die Realität der Weimarer Republik hinter solchen Erwartungen zurückgeblieben ist, zeigt Lion Feuchtwangers Gesellschaftspanorama Erfolg. Der dubiose Prozess um Dr. Martin Krüger, ehemals Subdirektor der staatlichen Kunstsammlungen München, wird unter den Bedingungen einer Republik geführt, die in ihrer eigenen Provinz nie wirklich angekommen ist. Die Vertreter der bayerischen Justiz (besonders drastisch der zeitweilige Minister Otto Klenk) missachten die Gewaltenteilung, instrumentalisieren die Rechtsprechung für ihre politischen Ziele, begrüßen die völkischen Ideen der ›wahrhaft Deutschen‹ bereits als die neuen überpositiven Rechtsquellen, zu denen sie dann im Nationalsozialismus avancieren sollten. Wo Zweig Justiz- mit Kriegskritik parallel führt, verknüpft Feuchtwanger Justiz- und Politikschelte. Martin Krüger, selbst nicht frei von hedonistischen Zügen, fällt einem skrupellosen Interessen- und Intrigenspiel zum Opfer, in dem jeder nur seinen persönlichen Erfolg im Auge hat und alle dem Diktat des Wirtschaftskapitalismus unterliegen.

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Der Fall Leonhart Maurizius

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Noch fundamentaler scheint die Justizkritik in Jakob Wassermanns Der Fall Maurizius. Wieder, wie schon bei Feuchtwanger, geht es um einen verurteilten Kunsthistoriker (den die Haftbedingungen, auch dies eine interessante Parallele, in ähnlicher Weise innerlich zerstören). Hier allerdings fällt der Prozessverlauf in die Vorzeithandlung des Romans: Fast zwei Jahrzehnte ist es her, dass der Oberstaatsanwalt von Andergast seine Karriere mit dem spektakulären Mordprozess begonnen hat; nun interessiert sich sein sechzehnjähriger Sohn Etzel für das damalige Geschehen. Maurizius, so findet er heraus, ist zu Unrecht inhaftiert – den Justizirrtum wesentlich herbeigeführt haben behördliche Fehler und Versäumnisse, Vorurteile und Vorverurteilungen, persönliche Interessen und beleidigte Eitelkeiten der beteiligten Funktionsträger.

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Dramaturgisch und psychologisch geschickt verknüpft Wassermann die Rekonstruktion des Rechtsfalls mit dem Vater-Sohn-Konflikt im Hause Andergast. Stück für Stück muss sich der Oberstaatsanwalt sein juristisches, emotionales und familiäres Versagen eingestehen, doch er kommt darüber nicht zur Einsicht, sondern verliert den Verstand. Dadurch wird das bittere Fazit nur unterstrichen: Das starre Rechtssystem hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun; es dient der Etablierung und Erhaltung gesellschaftlicher Einrichtungen und der Repression, keinesfalls dem Schutz des Individuums. Eine solche Pauschalkritik allerdings wirke sich, so Scheel, in historischer Perspektive allzu nivellierend aus: Indem Wassermann keinerlei Unterschiede zwischen rechtsstaatlichen und diktatorischen Verhältnissen mehr bestehen lasse, werde der von Etzel Andergast formulierte Gerechtigkeits- und Wahrheitsanspruch »zum hohl tönenden Pathos« (S. 123) degradiert.

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Der Fall Christian Moosbrugger

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Wie der Fall Maurizius wird auch der Fall des Prostituiertenmörders Moosbrugger in Musils Mann ohne Eigenschaften noch unter den Bedingungen kaiserzeitlicher (diesmal habsburgischer) Justiz verhandelt. Musil integriert in seinen ›intellektualen Roman‹ eine Fülle juristischer, rechtsphilosophischer, moralischer, sprachskeptischer, psychiatrischer und medizinischer Spezialdiskurse, doch alle Kategorien, die an Moosbrugger herangetragen werden, erweisen sich als untauglich zur Erfassung von Tat und Täter: Binäre Schematisierungen müssen die komplexe Wirklichkeit verfehlen. Vom Ausnahmefall Moosbrugger her entwickelt Musil eine radikale, teils satirisch zugespitzte (und deutlich von Nietzsche inspirierte) Wissenschaftskritik, die über Theorie und Praxis des Rechts weit hinausgreift und sich gegen die gesamte wissenschaftliche Heuristik wendet; dass eine subjektivistische ›Moral des anderen Zustands‹ nicht als tragfähige Alternative taugt, stellt Scheel am Ende seines Musil-Kapitels heraus. Abschließend und resümierend kann er sein Textkorpus in zwei gleich stark besetzte Gruppen unterteilen: Während die Justizkritik Zweigs und Feuchtwangers im Wesentlichen auf die zeitgenössischen historischen Umstände bezogen bleibt (und damit eine Verbesserung der Lage zumindest nicht ausschließt), stellen Wassermann und Musil das Recht prinzipiell in Frage.

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Die Vorzüge klarer Fokussierung

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Angesichts des Umfangs der vier Romane und der bereits vorliegenden Sekundärliteratur besteht die Qualität von Scheels Arbeit vor allem in der strikten Konzentration auf das gewählte Thema; der Autor stellt die in Dissertationen heute keineswegs mehr selbstverständliche Fähigkeit unter Beweis, aus seinen überaus komplexen und gut erforschten Gegenständen genau diejenigen Aspekte herauszufiltern, die seinem Erkenntnisinteresse entsprechen. Die rigorose Selbstbeschränkung bewährt sich als Grundlage einer transparenten Argumentation, auch wenn sie gelegentlich zu lapidar formulierten Schlüssen führt (etwa in den Zusammenfassungen der jeweiligen Kapitel) und manchen Würdigungsversuch ein wenig floskelhaft ausfallen lässt:

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Aufgrund einer differenzierten Persönlichkeit, eines breit gefächerten intellektuellen Hintergrundes und einer enormen schriftstellerischen Produktivität kann Robert Musil zu den Koryphäen der Weltliteratur gezählt werden. (S. 161)
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Juristische Problemstellungen der analysierten Romane werden durch die Einbeziehung von Vorschriften aus dem Völker-, Verfassungs-, Straf- und Strafprozessrecht erhellt; auch die fallweise Berücksichtigung intertextueller Bezüge, etwa zwischen Wassermann und Dostojewski oder Musil und Nietzsche, sorgt für ein vertieftes Textverständnis. Die Innovationskraft seiner Arbeit betont Scheel etwas aufdringlich, wenn er in der Einleitung das Wort »erstmals« gleich sechzehn Mal auf nur vier Seiten verwendet, um auf Erkenntnisse sehr unterschiedlicher Reichweite und Relevanz zu verweisen: Dass Feuchtwangers Justizminister Klenk und Heinrodt »erstmals« mit zeitgenössischen Rechtsauffassungen und Rechtsterminologien in Verbindung gebracht werden, ist für das Verständnis von Erfolg sehr förderlich, aber den Namen General Schieffenzahns aus Zweigs Streit um den Sergeanten Grischa »erstmals mit dem Schlieffenplan« (S. 9) zu assoziieren, verspricht nur marginalen Erkenntnisgewinn.

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Insgesamt jedoch ergibt sich aus der dichten Zusammenschau der vier Werke eine deutliche Schärfung der justizkritischen Perspektive, die die Unterschiede zwischen diesen bedeutenden Prosatexten genauso bewusst macht, wie sie auch auf überraschende Gemeinsamkeiten verweisen kann. Druckfehler sind in der großzügig gesetzten Arbeit selten, aber dafür hat sich einer an exponierter Stelle eingeschlichen, nämlich auf dem Buchrücken (wo es »Literatirsche [!] Justizkritik« heißt).

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2. Thorsten Miederhoff über Kurt Tucholsky als
Jurist und Schriftsteller

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Lion Feuchtwanger war promovierter Germanist, Robert Musil (unter anderem) examinierter Maschinenbauer, Arnold Zweig hat sein Lehramtsstudium nie beendet und Jakob Wassermann gar kein Studium aufnehmen können – keiner der vier Verfasser justizkritischer Romane jedenfalls ist selbst Rechtswissenschaftler gewesen. Ihr Zeitgenosse Kurt Tucholsky dagegen kann einen Platz beanspruchen in der langen Reihe derer, die früher gerne (und mit einem problematischen Terminus) als ›Dichterjuristen‹ 1 oder zumindest als ›Schriftstellerjuristen‹ bezeichnet wurden: Goethe und Kleist, Hoffmann und Eichendorff, Heine und Lenau, Hebbel und Storm, Hofmannsthal und Kafka sind nach und neben einem Jurastudium als Autoren hervorgetreten; mit Heine teilt Tucholsky (unter anderem) den Berliner Studienort. Das Berufsziel Jurist hat Tucholsky zwar schon vor der Promotion aufgegeben, doch seine Beziehung zur Jurisprudenz verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihr in der Forschung bislang zuteil wurde.

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Biographische Exaktheit

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Thorsten Miederhoffs rechtshistorische Dissertation rekonstruiert Tucholskys Studienverlauf genauer als die bisherigen Biographien; insbesondere verzichtet Miederhoff darauf, Überlieferungslücken durch Projektionen zu füllen, die schon den jungen Jurastudenten zur linken Ikone stilisieren wollen – von solchen Momenten sind selbst die verdienstvollen und quellengesättigten Arbeiten Michael Hepps keineswegs frei. 2 Ein Beispiel: Tucholsky verbrachte das Sommersemester 1910 in Genf – laut Hepp »wollte er wohl der wilhelminischen Pracht- und Machtentfaltung während des Universitätsjubiläums entfliehen« 3 . Miederhoff legt sachlich dar, dass es damals durchaus üblich war, bereits das zweite Semester an einer anderen Universität zu verbringen und dass gerade unter den meist gut situierten Berliner Jurastudenten eine alljährliche ›Sommerflucht‹ (meist Richtung Heidelberg, Freiburg oder München) einzusetzen pflegte; Tucholsky kehrte darüber hinaus schon Ende Juli 1910 nach Berlin zurück, wo das 100jährige Jubiläum der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität zwischen dem 10. und dem 12. Oktober feierlich begangen wurde – dass er sich erst zum Beginn des Wintersemesters am 25. Oktober 1910 wieder einschrieb, war selbstverständlich und nicht etwa ein Akt innerer Distanz, wie Hepp suggeriert. Bei einem monatlichen Unterhalt von etwa 160 Mark (was dem Einkommen eines einfachen deutschen Beamten entsprach) hatte der Student Kurt Tucholsky ein Gastsemester an einem exklusiven Schweizer Studienort absolviert, juristische Vorlesungen gehört und seine Französischkenntnisse vervollkommnet – mehr ist nicht belegbar.

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In ähnlicher Weise sind die in der biographischen Literatur verbreiteten Aussagen zu relativieren, Tucholsky sei kein ernsthafter Student gewesen und habe das Studium »auf die leichte Schulter« genommen. Zu Recht zitiert Miederhoff aus einem späteren Feldpost-Brief Tucholskys an Mary Gerold:

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Und das mit der Literatur an der See – ein alter Traum. Ich hätte mit dem Geld, das mir mein Vater hinterlassen hat, das machen können, aber ganz knapp und dürftig, und dann hätte ich nicht studiert, hätte kein Examen gemacht, wäre nichts geworden und hätte da in einem Häuschen an der See geklebt. Das bißchen, was ich weiß, habe ich in meinen Studienjahren zusammengesammelt. Mich reut es nicht. 4
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Tucholsky, Sohn eines früh verstorbenen Bankiers, Neffe eines Anwalts und Notars, wollte ein Studium abschließen, strebte einen akademischen Grad an, und war bereit, das dazu erforderliche Maß an Arbeit zu investieren. Seine Studienwahl war typisch für gut situierte Bürgerssöhne: Neben Tucholsky gab es im Winter 1909/10 rund 1300 Erstsemester an der Berliner Juristischen Fakultät (darunter sieben Frauen). Dass Tucholsky auch fachfremde Vorlesungen besuchte (von Nationalökonomie bis Germanistik) und schon 1911/12 eine beträchtliche Anzahl von Zeitungsartikeln publizierte, sagt nichts über die »Ernsthaftigkeit« bzw. »mangelnde Ernsthaftigkeit« seines Studiums aus – zumal die Annahme höchst zweifelhaft scheint, »die ›richtigen Juristen‹ hätten mit mehr Hingabe studiert als der angehende Schriftsteller« (S. 57). Tucholsky hat in sechs Semestern ein reguläres Rechtsstudium absolviert; danach belegte er private Repetitorien, um sich auf das Examen vorzubereiten. Einen dieser Repetitoren, Martin Friedländer, warb er als Beiträger für Siegfried Jacobsohns Schaubühne (die spätere Weltbühne) an, in der Tucholsky seit 1913 regelmäßig publizierte; von dem anderen, dem früh verstorbenen Walter Pollack, übernahm er bekanntlich die »Alliterationstiere« Peter Panter und Theobald Tiger – Phantasienamen, die Pollack für seine juristischen Übungsfälle erfunden hatte und die Tucholsky als Pseudonyme adaptierte.

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Promotion in Jena

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Dass Tucholsky 1913 vom Berliner Staatsexamen zurücktrat, hatte wahrscheinlich taktische Gründe; da er eine Karriere im Justizdienst oder als Rechtsanwalt für sich zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschlossen hat, musste ihm die Möglichkeit einer Promotion ohne vorherigen Abschluss attraktiv erscheinen, und die Voraussetzungen dafür waren in Jena ungleich günstiger als in Berlin. Die Umstände rekonstruiert Miederhoff unter genauem Bezug auf universitätshistorische Gegebenheiten; nach einem Scheitern im ersten Anlauf wurde Kurt Tucholsky im November 1914 mit einer Arbeit über das Hypothekenrecht promoviert. Da die Universität Jena erst um 1936 mit der von den Nationalsozialisten geforderten Aberkennung von Doktorgraden begann, ist der 1935 verstorbene Tucholsky übrigens, entgegen anders lautender Überlieferungen, zu Lebzeiten nicht offiziell depromoviert worden – angesichts seines und vieler anderer Exilschicksale allerdings kaum mehr als eine biographische Marginalie.

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Justizkritik eines Juristen

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Wenn die Justizkritik in Tucholskys publizistischem Werk eine zentrale Stellung einnimmt, so ist die Schärfe dieser Kritik jedenfalls nicht zu trennen von dem juristischen Fachwissen, das der Autor im Rahmen seines Studiums erworben hat. Im zweiten Teil seiner Arbeit nähert sich Miederhoff dem Justizkritiker Tucholsky exemplarisch an. Fokussiert wird die Frage nach Ausmaß und Form der Laienbeteiligung an Strafprozessen. Von einem Ausbau der Laienbeteiligung erhofften sich insbesondere die Sozialisten in der Weimarer Republik ein Korrektiv zur politisch einseitigen Rechtsprechung der Berufsrichter, die man mangels Alternative aus den Diensten der Monarchie hatte übernehmen müssen, auch wenn sie die republikanischen Verhältnisse eher als Umsturz und Rechtsbruch empfanden denn als legitimen Neubeginn.

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Rasch stellte sich allerdings heraus, dass auch Schwurgerichte dazu neigten, Gewalttäter von ›rechts‹ freizusprechen, während vergleichbare Delikte von ›links‹ hart bestraft wurden. 5 Im Prozess gegen die Attentäter auf den Publizisten Maximilian Harden beispielsweise waren es die Geschworenen, die nur auf gefährliche Körperverletzung statt auf versuchten Mord oder Totschlag plädierten. Tucholsky, der 1922/23 über den Prozessverlauf berichtete, hat das aufs Schärfste kritisiert; trotzdem ist seine Position zur Laienbeteiligung differenziert zu betrachten. Während seine Polemik gegen die ›Unabsetzbaren‹, die Berufsrichter, von Jahr zu Jahr aggressiver ausfiel, beklagte er im Fall der Geschworenen eher die mangelnde Transparenz des Auswahlverfahrens: ein »niederträchtiges Siebesystem« 6 sichere den Einfluss der Justizkaste und schließe den Arbeiter (meist auch den Intellektuellen) vom Geschworenenamt fast gänzlich aus. Außerdem monierte Tucholsky die geringe und meist zu späte Einbindung der Geschworenen in den Verfahrensablauf und sah in Fragestellung und Rechtsbelehrung Instrumente einer möglichen Manipulation der Geschworenen durch die Berufsrichter. Während die bürgerlichen und konservativen Parteien in der Weimarer Republik eher eine Abschaffung der Schwurgerichte befürworteten, teilte Tucholsky also die Anschauung der politischen Linken, dass vor allem die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Laienbeteiligung zu ändern seien.

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Entsprechend kritisch stand er der so genannten Lex Emminger von 1924 gegenüber, durch die die klassischen Schwurgerichte de facto zugunsten der Schöffengerichte abgeschafft wurden; aus seiner Sicht war die Steuerungsmöglichkeit der ›Unabsetzbaren‹ nun noch größer, fehlte das Gegengewicht des juristischen Laien zum (überschätzten) Fachmann umso mehr:

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Seine Enttäuschung über die Rechsprechung war […] so groß, dass er sich von der Intuition der Geschworenen in menschlich verwickelten Fällen mehr materielle Gerechtigkeit versprach, als von der Rechtsanwendung der Berufsrichter. (S. 223)
[33] 

Hier berühren sich Tucholskys Positionen übrigens mit denen des Karlsruher Freirechtlers Ernst Fuchs, dessen Schriften Tucholsky schon in seiner Studienzeit begeistert genug gelesen hatte, um ihn 1913 als potentiellen Beiträger für sein (nicht realisiertes) Zeitschriftenprojekt Orion vorzusehen. Tucholskys berühmtes Merkblatt für Geschworene (1929), bis heute in Informationsmaterialien für Schöffen nachgedruckt, appelliert nur noch an das persönliche Gewissen des einzelnen, verantwortlichen Individuums – und bringt damit immerhin ein Stück aufklärerischer, humanistischer, demokratischer Hoffnung zum Ausdruck, wie sie Tucholsky erst in den dreißiger Jahren endgültig abhanden kam.

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Fazit

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Die juristischen Laien Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig, Jakob Wassermann und Robert Musil wie auch der promovierte Jurist Kurt Tucholsky sehen das Verhältnis von Recht und Literatur in der Regel als eines von System und Exemplum: Ihre literarische wie publizistische Darstellung rechtlicher Zusammenhänge stellt immer das Individuum in den Mittelpunkt; das konkrete Opfer eines abstrakten, zudem widersprüchlichen, willkürlichen und skrupellosen Systems erhält im literarischen Diskurs die Stimme, die im juristischen unterdrückt wird. Verbesserungen scheinen allenfalls durch Appelle an einzelne Funktionsträger zu erreichen (wofür zumindest Tucholsky bei den Laienrichtern mehr Potential sieht als bei den Justizbeamten); nachzufragen wäre, ob die Autoren nicht zu früh und zu pauschal von einer grundsätzlichen Reformresistenz des Justizsystems ausgegangen sein könnten. Gerade in ihrer Radikalität und Schärfe jedoch beeindruckt die literarische Justizkritik der Weimarer Zeit bis heute und lädt zu einer rechtstheoretischen und sozialgeschichtlichen Kontextualisierung ein, wie sie den Arbeiten von Reiner Scheel und Thorsten Miederhoff überzeugend gelungen ist.

 
 

Anmerkungen

Vgl. z.B. Eugen Wohlhaupter: Dichterjuristen. Hg. von H.G. Seifert. Bd. 1. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1953.   zurück
Vgl. Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen. Reinbek: Rowohlt 1993, sowie Hepps wesentlich kompaktere Darstellung im Rahmen von rowohls monographien: Kurt Tucholsky. Reinbek: Rowohlt 1998. Im Ganzen liefert Hepp die besten Arbeiten über Tucholskys Vita, da sich Helga Bemmann (Kurt Tucholsky. Ein Lebensbild. Berlin: Verlag der Nationen 1990), Gerhard Zwerenz (Kurt Tucholsky. Biographie eines guten Deutschen. München: Bertelsmann 1979) und Fritz J. Raddatz (u.a. Tucholsky – ein Pseudonym. Reinbek: Rowohlt 1989) als die noch weitaus projektions- und wertungsfreudigeren Biographen erweisen und mit den Quellen oft lässig umgehen.   zurück
Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen (wie Anm. 2), S. 50.   zurück
Kurt Tucholsky an Mary Gerold, 04.09.1918. Zitiert nach Miederhoff, S. 57.   zurück
Wenn nicht für die politische Einseitigkeit von Geschworenen, so zumindest für ihre gegenüber Berufsrichtern keineswegs sensiblere Beurteilungsfähigkeit spricht übrigens auch das Bild, das die fiktiven Gerichtsurteile in den angesprochenen Romanen von Feuchtwanger und Wassermann fällen: Sowohl Martin Krüger als auch Leonhart Maurizius werden von Geschworenen für schuldig befunden und hart bestraft.   zurück
Kurt Tucholsky: Die Tabelle [zuerst in: Welt am Montag, 6.3.1922]. Zitiert nach Miederhoff, S. 184. Miederhoffs Arbeit enthält im Anhang neben einer Reihe von Dokumenten auch eine Fundstellen-Synopse, die Tucholskys Texte mit Justizbezug nach den beiden vorliegenden Gesamtausgaben nachweist. Obwohl die neue, 22bändige Gesamtausgabe Texte und Briefe (Hg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker; Reinbek: Rowohlt 1996 ff.) noch nicht gänzlich abgeschlossen ist, bleibt bedauerlich, dass Miederhoff im Haupttext grundsätzlich nach der philologisch überholten Edition Gesammelte Werke in 10 Bänden (Hg. v. Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek 1975) zitiert.   zurück