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Wirklichkeitsverankerung oder Illusionsverstärkung?

Über Funktionen von Fotos in intermedialen Texten

  • Thomas von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. (Lettre) Bielefeld: transcript 2007. 346 S. EUR (D) 33,80.
    ISBN: 978-3-89942-654-0.
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Die Wiederbelebung des
Genrebegriffs ›Foto-Text‹

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Was von Steinaecker unter dem in der Forschung uneinheitlich verwendeten ›Foto-Text‹ versteht, erklärt er in seiner nicht nur für die Fachleserschaft geschriebenen Einleitung: Er übernimmt den von Wright Morris in den 1940er Jahren geprägten Begriff, dessen Vorteil gegenüber dem ›Bilder-Text‹ in der Spezifizierung des Bildmediums liegt, das eine eigene Ästhetik und Geschichte kennzeichnet. Um rein dokumentarische Literatur sowie bildkünstlerische Collagen auszugrenzen, bezeichnet er seinen Gegenstand als ›literarische Foto-Texte‹. Charakteristisch sei für diese ein ausgewogenes, »dialogisches« Verhältnis von Text und Bild (S. 13), das heißt, dass beide unverzichtbare Bestandteile des bimedialen Werks sind. Dadurch unterscheidet sich der Foto-Text zum einen von der verzichtbaren Illustration, die im Dienst des Textes steht, sowie von Comic und ›Fotoroman‹ – letzteres Genre wäre im Rahmen der Abgrenzung definitionsbedürftig gewesen –, in denen das Bild den Text dominiert. Als Vorbild für ein ausgewogenes Text-Bild-Verhältnis stellt von Steinaecker das Emblem vor und suggeriert dessen Verwandtschaft mit dem Foto-Text (S. 10–12).

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Fototheorie

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Dem textanalytischen Teil stellt von Steinaecker einen Überblick über die Fototheorie des 19. und 20. Jahrhunderts voran, in dem er die unterschiedlichen Bewertungen der naturgetreusten Wirklichkeitsabbildung kontrastiv darlegt. Für die Frühphase des neuen Mediums hebt er die kunsttheoretische Kritik hervor, die das Fehlen der Signatur eines menschlichen Schöpfers beklagt. Eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung literarischer Foto-Texte ist laut von Steinaecker jedoch, neben den technischen Reproduktionsmöglichkeiten, eine positivere Evaluation des Mediums, die sich nur langsam durchsetzt. Die bekanntesten Positionen in der Debatte über Vorzüge und Nachteile der Fotografie (von Walter Benjamin über Siegfried Kracauer bis Roland Barthes und Susan Sontag) lässt er Revue passieren. Die Literatur ist davon vor allem dann betroffen, wenn die fotografische Präzision in der Wirklichkeitsabbildung zum Vorbild erklärt wird.

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Forschungsstand,
Zielsetzung und Korpus

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Das Kapitel »Zur Auswahl der Autoren« beinhaltet einen Forschungsbericht zum Verhältnis zwischen Fotografie und Literatur, der hier zwar etwas zu knapp geraten ist, aber klar macht, dass von Steinaecker eine echte Forschungslücke entdeckt hat. Grundlegende Vorarbeiten, die sich mit Fotos in literarischen Texten beschäftigen, nennt er nur wenige und grenzt sich davon ab, indem er Literatur, »die lediglich vermeintliche Versprachlichungen fotografischer Techniken enthält«, ausschließt. Die bisherige Forschung wolle er durch genauere Werkanalysen sowie die Berücksichtigung »der neuesten Entwicklung der Montage von Fotos in Texten« ergänzen und aktualisieren (S. 27). Abkürzen kann man die Abgrenzung mit der Information, dass die Mehrzahl der Texte von Brinkmann, Kluge und Sebald, die von Steinaecker auswählt, erst nach Publikation der früheren Studien erschienen.

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Sein Ziel sei es, die historische Entwicklung des Genres ›Foto-Text‹ nachzuzeichnen – und zwar anhand von drei neu ernannten Hauptvertretern, in deren Werk die reproduzierten Fotos die Poetologie entscheidend präge (S. 28). Gemeinsam ist den drei Autoren, dass es sich bei deren Foto-Texten nicht um einmalige Experimente handelt, was zwangsläufig viele interessante Versuche – zum Beispiel von Man Ray, Wright Morris, Arno Schmidt und Rainald Goetz – ausschließt.

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Die Eigenleistung der Studie liegt vor allem im Vergleich der drei deutschen ›Hauptvertreter‹ des Genres, den die vielen Einzeluntersuchungen, die als Ausgangsbasis dienen, nicht bieten. Während die Mehrzahl der Beiträge zu Brinkmann die Montage-Techniken und die Beziehung zur Pop-Kultur behandeln und diejenigen zu Kluge das Augenmerk hauptsächlich auf die Mulitmedialität richten, werden die Fotografien bei Sebald vorrangig in ihrer Bedeutung für den Gedächtnisdiskurs untersucht. Von Steinaecker hingegen will diese Autoren »weniger mit theoretischen Konzepten verbinden, als eine Basisarbeit der genauen Lektüre und des Zusammentragens von empirischen Daten leisten«, auf die nicht nur die Forschung aufbauen könne, sondern »die auch der interessierte Laie als eine Art Nachschlagewerk zu Rate ziehen kann« (S. 30).

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Den Einzeldarstellungen geht ein informatives Kapitel »Zur Entstehung des Genres« voraus – eine Syntheseleistung, die in der Forschung längst fällig war. Hilfreich ist eine »Zeittafel«, die wichtige literarische Foto-Texte seit 1892 auflistet. Zunächst ist die Studie also international angelegt, dann fokussiert sie drei deutsche Autoren, was die Frage aufwirft, warum »das Genre auf so auffallende Weise vor allem in Deutschland seine wichtigsten Vertreter fand« (S. 28). Leider könne eine Antwort »anhand von Tucholskys und Kluges Auseinandersetzungen mit der (deutschen) Heimat und dem Hinweis […] auf die enge Verbindung des Diskurses der Fotografie mit jenem der Politik nur angedeutet werden« (S. 28).

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Rekonstruktion einer
Entstehungsgeschichte des Foto-Texts

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Das historische Panorama beginnt von Steinaecker mit George Rodenbachs symbolistischem Roman Bruges-la-Morte (1892), um zu zeigen, dass darin »aus dem damals noch jungen Medium Metaphern und Symbole entwickelt« werden, die noch bei Sebald Verwendung finden (S. 33). Geleitet von der Frage, inwiefern die Fotos eine handlungstragende Rolle spielen, zeigt von Steinaecker, dass die grauen Stadtansichten den psychischen Zustand des Protagonisten visualisieren, und plädiert dafür, sie als Illustrationen und zugleich als Symbole zu verstehen.

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Anhand von André Bretons surrealistischem Roman Nadja (1928) erläutert er die Ästhetiken von Bricolage und Collage. Die integrierten Schwarzweißfotografien unterstützen hier die Transformation des Realen ins Surreale, obwohl Fotos üblicherweise den Text durch ihre vermeintliche Objektivität im Realen verankern. Sie stellen in doppelter Hinsicht Fundstücke dar, indem sie solche abbilden und als solche in den Text eingehen. Hat sich das Prinzip Collage schon auf der Textebene durch die Kombination von semantisch heterogenen Elementen realisiert, erhält es durch die Fotos eine bimediale Dimension. Von Steinaecker dreht den Spieß um, wenn er konstatiert, das Foto erweise sich aufgrund seiner semiotischen Beschaffenheit als surrealistisches Medium per se, liege doch der surrealistischen Operation die Verdoppelung der Realität zugrunde (S. 47). Der Vergleich von Bruges-la-Morte und Nadja zeigt, dass sich die Funktion der Fotos aus der Poetologie des jeweiligen Textes ergibt.

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Als eine weitere Etappe in der Geschichte der Foto-Texte stellt von Steinaecker Kurt Tucholskys und John Heartfields Deutschland, Deutschland über alles (1929) sowie Bertolt Brechts Kriegsfibel (1955) vor, die er als »politische Foto-Texte« bespricht. Die Fotografie dient Tucholsky als Mittel zur Agitation, wobei die satirische ›Textierung‹ der Bilder eine wichtige Rolle spielt. Seine Foto-Text-Satiren übertreffen ältere bimediale Formen der Sozialkritik (wie die Karikatur) in ihrer Wirkung, weil die Fotografie Objektivität suggeriert (S. 57). In diesem Zusammenhang unternimmt der Verfasser einen Exkurs zur Fotomontage.

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»[D]rei Techniken der Verknüpfung von Fotos und Texten« unterscheidet von Steinaecker in Deutschland, Deutschland über alles: die »Allegorisierung des Fotos durch den Text«, das antithetische Prinzip der Text-Bild-Gegenüberstellung und die Funktionalisierung des Fotos als Beweisdokument (S. 64 f.). Zwar sollen die Fotos als »Mittel der Aufklärung« dienen (S. 70), doch deckt von Steinaecker das Dilemma dieses »Bilderbuches« auf: dass sich die Wirklichkeitswiedergabe als manipulierbar erweist und ein Bild eben doch nicht ›mehr sagt als 1000 Worte‹ (wie es Tucholsky formulierte), sondern der Textierung bedarf (S. 71 f.). Die ›Wirklichkeit‹ der Fotos entpuppt sich als unzuverlässige mediale Konstruktion.

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Vom Bewusstsein, dass Fotos Instrumente der Verfälschung sein können, zeugen auch Brechts ›Foto-Epigramme‹, deren Textelemente Zusammenhänge aufdecken, die im Bild nicht sichtbar sind, so dass Bild und Text in dialektischem Verhältnis stehen. Von Steinaecker moniert an der Kriegsfibel, dass der Gebrauch des Massenmediums Foto »in seiner Polemik und verknappten Darstellung historischer Sachverhalte« der »von Brecht kritisierten Propaganda der Faschisten« ähnlich sei (S. 88). Auch dieses Kapitel endet mit dem erhellenden Vergleich der vorgestellten Werke: Gemeinsam ist ihnen die »Tendenz, auf Propaganda mit Propaganda« zu antworten sowie die Rekurrenz auf Epigrammatik und Emblematik (S. 89).

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Pop und Paragone in
Brinkmanns Foto-Texten

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Das Kapitel zu den Foto-Texten Brinkmanns basiert auf der Opposition zwischen dessen ›Pop-Texten‹ der 1960er und den Collagebüchern der 1970er Jahre. Als »neuen Paragone« beschreibt von Steinaecker die Beziehung zwischen Wort und Foto werkübergreifend, wobei das Wort negativ konnotiert sei, weil mit Abstraktion und Vergangenheit assoziiert, wohingegen das Foto positiv durch Sinnlichkeit und Gegenwart gekennzeichnet sei (S. 93). Dem »total blinden Begriffsfetischismus« setzt Brinkmann das Bildhaft-Oberflächliche entgegen. Von Steinaecker bindet dies an Marshall McLuhans Privilegierung des Visuellen und betont die mit dem Traditionsbruch einhergehende Begeisterung für neue Medien (S. 95). Um die Genese von Brinkmanns Text-Bild-Poetik nachzuvollziehen, werden die Theorie- und Kulturpolitikdebatten jener Zeit erhellt, die in die ›Kulturrevolution‹ des ›Pop‹ münden. Trotz basaler Gemeinsamkeiten grenzt von Steinaecker Brinkmanns Werk von der Beat- und Underground-Literatur sowie von den vorgängigen Avantgarden ab. Obwohl er durch die Affirmation des Trivialen eine Protesthaltung einnimmt, sei er gegen eine Politisierung der Kunst.

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In der Fotografie sieht Brinkmann eine Metapher für »unritualisiertes Sprechen« und experimentiert, schon bevor er Reproduktionen integriert, mit Techniken wie Zooms, Schwenks und Schnitten (S. 98 f.). Texte, die Fotos (nur) nachempfunden sind, bezeichnet von Steinaecker als »Text-Fotos«, so die ›snap-shot-Gedichte‹ (S. 108). Beginnend mit den Gedichtbänden von Le Chant du Monde (1964) bis Standphotos (1969), zeichnet von Steinaecker die Entwicklung in der Text-Bild-Kombination nach, die zunehmend von der Reklame inspiriert wird.

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Im Hinblick auf die Foto-Texte der 1970er Jahre konstatiert von Steinaecker eine ›Steigerung‹ vom ersten bis zum letzten Collagebuch: Zunächst sind die kombinierten Genres (Tagebuch, Reisebericht, Werkzitat) noch als solche erkennbar, später finden sich bei zunehmender Amalgamierung kaum mehr längere Textpassagen, während die Quantität der Reproduktionen und die Komplexität der Kompositionen zunimmt. Das zuvor positiv konnotierte Bild wird nun auch als Teil des kapitalistischen Diskurses verstanden und zur politischen Provokation verwandt.

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Kulturkritisch werden die in Rom, Blicke (1979) – ähnlich wie später in den Erkundungen (1987) – dokumentierten Streifzüge durch die Großstadt als »Non-stop-Horror-Film der Sinne und Empfindungen« (S. 129) dargeboten. Brinkmann präsentiert den ›alltäglichen Albtraum‹ und demontiert seine mediale Umgebung. Laut von Steinaecker unterscheidet sich die ironisch-zynische Kommentierung von Bildern letztlich nur durch den fehlenden direkten agitatorischen Impetus vom Verfahren von Tucholsky & Heartfield (S. 148). Der Metapher der fotografischen Wahrnehmung verleihe Brinkmann in den 70ern eine zweite Bedeutung: die des »LONG COOL LOOK«, um einen Überblick im »gespenstisch gewordene[n] Labyrinth der Gegenwart« zu gewinnen (S. 134; vgl. Schnitte, S. 73, 156).

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Hinsichtlich der Orientierungslosigkeit des ›Erzählers‹ sowie seiner pessimistischen Fokussierung von Verfallszeichen böte sich ein Vergleich mit Sebald an. Stattdessen zieht von Steinaecker andere Verbindungslinien, die nicht alle überzeugen: Da Schnitte (1988) den Untertitel »Totenbuch« trägt, assoziiert er es nicht nur mit den amerikanischen ›Books of the Dead‹ von Giorno und Burroughs (dessen Buch übrigens nicht The Wild Bunch, sondern The Wild Boys heißt, vgl. S. 155). Die These, dass Schnitte überdies »vage Analogien zu formalen und inhaltlichen Elementen der beiden bekanntesten vorchristlichen Totenbücher, dem der Ägypter und dem der Tibeter« aufweist (S. 155 f.), ist in dieser Knappheit nicht nachvollziehbar. Ähnliches gilt für die Rückführung auf »den mittelalterlichen Totentanz« (S. 156).

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Geschichte und Gefühl –
Kluges Kriegsaufklärung in Text und Bild

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In den Kapiteln zu Kluges Foto-Texten konzentriert sich von Steinaecker auf die Erzählungen Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1973), Luftangriff auf Halberstadt (1977) sowie die bebilderte (vierte) Fassung der Schlachtbeschreibung (1978), die sich alle der deutschen Geschichte widmen. Den Einzeluntersuchungen sind ›theoretische Voraussetzungen‹ vorangestellt, die Kluges Geschichts- und Realitätsbild sowie seine ursächliche Interpretation des Zweiten Weltkriegs erläutern. Daraus erklärt sich das in Geschichte und Eigensinn gesetzte Ziel: die »Produktion einer umfassenden gesellschaftlichen Veränderung«, wobei rationaler Durchblick nichts helfe, sondern das Irrationale zu befragen sei (S. 177).

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Kluges Strategie der »Versinnlichung« gründe, so von Steinaecker, in der Überzeugung, dass konkret ausgestaltetes Erzählen wirkungsvoller sei als der bloße Tatsachenbericht, weshalb er ›facts‹ und ›fakes‹ vermischt. Das Prinzip der Kontrastierung – Form (nüchterne Beschreibung) vs. Inhalt (›Gefühle‹) sowie subjektive vs. objektive Inhalte – ist angelegt in der »mikrostrukturellen Erzählweise«, das heißt der Aneinanderreihung von Miniaturen, die aus verschiedensten Textsorten bestehen und mit Abbildungen unterschiedlicher Art versehen sind (S. 185). Besondere Bedeutung für das Verständnis der Funktion der Fotografie in Kluges Werk besitze dessen erst nachträglich (in der vierten Fassung von 1978) bebilderte Schlachtbeschreibung, weil darin sichtbar wird, wie die Veränderungen in Kluges philosophischer Ausrichtung mit denen seiner bimedialen Poetologie zusammen hängen (S. 216).

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Aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit der deutschen Geschichte wird Kluge in der auch formal ersichtlichen Nachfolge von Tucholsky und Brecht verortet. Allerdings, so differenziert von Steinaecker, begreife Tucholsky die Fotos als »Allegorien«, Brecht als »Hieroglyphen« und Kluge als »Metaphern«, die wiederum allesamt in einem »didaktischen Text entschlüssel[t]« werden (S. 244). Hinsichtlich der ideologischen Implikationen gibt es freilich signifikante Unterschiede, die von Steinaecker auch bedenkt.

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Ein Vergleich von Kluge und Brinkmann, der als Zwischenbilanz fungiert, spitzt die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen zu: Trotz der gemeinsamen Methode der Text-Bild-Montage stellt von Steinaecker weniger inhaltliche Gemeinsamkeiten fest als man erwartet, bedenkt man, dass Brinkmann der bekannteste deutsche Vertreter des Foto-Textes war, als Kluges erstes bimediales Buch entstand. Während Brinkmann ›seine Gegenwart‹ festhält, das heißt, mit selbstgemachten und der Presse entnommenen Fotos seine subjektive Verfassung offenbart, ergründet Kluge, ebenfalls mit Hilfe von Pressefotos, aus distanzierter, kollektiver Perspektive die Vergangenheit. Aufgrund der Cut-up-Technik wirken Brinkmanns Montagen chaotisch, diejenigen von Kluge hingegen strukturiert. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Nähe zu Adornos Ästhetischer Theorie: Daher liest von Steinaecker die Werke beider als »praktizierte Ethik des Bildes, als Kritische Praxis« (S. 243).

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Dokumentation, Allegorisierung und
Medienreflexion: Sebalds Foto-Texte

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Das Sebald-Kapitel eröffnet von Steinaecker mit der Erläuterung von »Sebalds paradoxe[m] Verhältnis zur Fotografie« – gemeint sind Kritik und gleichzeitige Verwendung des Mediums. Die Analyse konzentriert sich auf Schwindel. Gefühle (insbesondere All’estero), Die Ringe des Saturn, Die Ausgewanderten und Austerlitz, wobei richtig festgestellt wird, dass sich die Bandbreite der Foto-Funktionen schon im ersten Erzählband abzeichnet und die Art der Text-Bild-Kombination kaum weiter entwickelt wird.

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»[B]ezüglich der Text-Bild-Montage fällt der nahezu fließende Übergang der beiden Medien auf«, konstatiert von Steinaecker etwas missverständlich, denn Text und Bild kommen weder direkt miteinander in Berührung noch verschmelzen sie zu einem Hybridmedium. Er meint damit, dass die Abbildung oft »unmittelbar auf das Stichwort im Text, das den Gegenstand der Illustration benennt«, folge (S. 254). ›Fließend‹ ist nur die vorgegebene lineare Lektüre von links nach rechts und von oben nach unten, die durch Bilder(betrachtung) unterbrochen wird. Solche Befunde zeigen, dass die Analyse des intermedialen Zusammenspiels begrifflich präziser sein könnte.

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Sebald selbst vergleicht sein Verfahren mit der bricolage von Lévi-Strauss. In Schwindel. Gefühle präsentiert der Erzähler Bilder als Beweise für unglaubliche Koinzidenzen, aus denen er eine Verschwörungstheorie ableitet. In von Steinaeckers Augen entsteht diese primär textuell, da der Text Fiktionen schafft, während die Abbildungen doch (scheinbare) Fakten präsentieren – wodurch eine ambivalente »Mixtur« entstehe (S. 254). Vorsicht ist nötig, um nicht Opfer des ›Schwindels‹ zu werden, den nur die Bimedialität auf diese Weise erzeugen kann.

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Im Hinblick auf die Bildinhalte konstatiert von Steinaecker eine »auffällige Auswahl« von »Motiven des Unglücks« und sieht darin eine »allegorische[ ] Darstellung, die, im Sinne von Benjamins ›Trauerspiel‹-Buch, dem Untergang geweiht ist« (S. 256). Überprüft man jedoch die Fotos, so zeigt die Mehrzahl Landschaften, Gebäude und Notizen, die nur zum Teil über Umwege besagte Assoziation wecken. Von Steinaecker bestimmt Sebalds Schreibweise als »Rhetorik der Allegorie«. Demnach sieht er in den Fotos mit Benjamin einen »Abgrund zwischen bildlichem Sein und Bedeuten« (S. 256). Die Beobachtung der Allegorisierung überzeugt, doch ist es notwendig, Sebald dominant durch Benjamin zu erklären? Die Berufung auf Benjamins melancholische Weltsicht sowie auf Susan Sontag, deren Verständnis des Fotos als ›modernes Äquivalent der Ruine‹ Sebald selbst übernommen hat, erlaubt freilich eine schöne These: »Die durchgehende Motivik der Zerstörung und des Todes findet damit im Foto selbst seine mediale Entsprechung: Zeigen die Fotos ja nicht nur den Verfall, sondern sind selbst […] immer schon ›Relikte des fortwährend absterbenden Lebens‹ (Logis, S. 178)« (S. 276).

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Da Sebalds Erzählband Die Ausgewanderten die Frage nach der Darstellbarkeit der Geschichte, insbesondere des Schicksals der Juden, impliziert, versucht von Steinaecker das intermediale Zusammenspiel zu beschreiben. Er erklärt Sebalds Repräsentation von Geschichte als »dreigliedrigen Bau«: »Als Basis […] dient das Dokument, das überwiegend als bildliche Reproduktion wiedergegeben ist«. Dessen »Mangel an Aussagekraft« erfordere eine Kompensation durch Fiktion. »Gleichzeitig ist den Texten eine medienreflexive, ja medienkritische Ebene zu eigen, die auf das dokumentarische bzw. fotografische Defizit, d.h. seine ›Unzuverlässigkeit‹ verweist« (S. 286). Letztlich konstatiert von Steinaecker allerdings ein »Scheitern der Fotos als Medium der Erinnerung«. Zwar ist auch in Sebalds letztem Roman Austerlitz das Fotografieren als Tätigkeit des Protagonisten »Metapher« für die Erinnerungsarbeit und Fotos vermögen Erinnerungen auszulösen, doch machen sie nur die Oberfläche der Dinge und Menschen zugänglich (S. 310 f.).

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Resümierende Gegenüberstellung
der Hauptvertreter des Foto-Texts

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Verknüpft werden die Erträge der Einzeluntersuchungen schließlich in einer aufschlussreichen Synopse. Sowohl Brinkmann als auch Sebald konzipieren fotografierende Ich-Erzähler, die ihre Umwelt befremdet wahrnehmen. Beide korrelieren die »marode psychische Verfassung« ihrer Figuren mit dem Verfallsprozess der Welt, wobei bei Sebald das Foto »zum melancholischen Objekt per se« werde (S. 316). Deutlicher als Brinkmann stehe Sebald dem Surrealismus nahe. Während bei Brinkmann die Medien allgemein den Alltag surreal erscheinen lassen, gehe bei Sebald diese Wirkung von der Fotografie aus, deren Schwarzweißkontraste und Grauzonen ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod, Einbildung und Wirklichkeit suggerieren (S. 317).

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Formal verbindet Sebald mit André Breton die Herstellung von Analogien mithilfe von Abbildungen und wie für die Surrealisten offenbart sich für Sebald in der »Dokumentation von Koinzidenzen und Produktion von Korrespondenzen eine höhere Ordnung« (S. 317). Brinkmann hingegen wird aufgrund von Dynamismus und Simultaneität seiner Werke mit dem Futurismus assoziiert, obwohl er den durch die Bildmontagen suggerierten Geschwindigkeitsrausch negativ erlebt.

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Im Unterschied zum gegenwartsbezogenen Brinkmann ist Kluge und Sebald die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit gemeinsam. Kluge nimmt die Rolle des Aufklärers ein, wobei die Abbildungen, trotz Fiktionalisierungen, einem dokumentarischen Anspruch dienen (S. 321). Anders als Kluge interessieren Sebald nicht die Ursachen des Geschichtsverlaufs, sondern das Problem der Darstellbarkeit, das durch die Infragestellung der Authentizität der Fotos virulent wird. Insgesamt hält von Steinaecker Sebalds »Naturgeschichte der Zerstörung« für »ungleich pessimistischer« als Kluges »Chronik der Gefühle« (S. 323).

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Trotz der genannten Unterschiede sieht von Steinaecker die Verbindung der drei Autoren im Bezug auf die Tradition der Emblematik (S. 325). In formaler Hinsicht sei dies bei Brinkmann und Kluge im dreiteiligen Aufbau offensichtlich; da dies bei Sebald nicht der Fall ist, versteht ihn von Steinaecker (wie die anderen beiden auch) »inhaltlich als Emblematiker«. Um die drei am Ende auf einen Nenner zu bringen, weist er den Fotos in ihren Werken, die alle den memento-mori-Topos variieren, die Funktion zu, die »Unmöglichkeit des Sehens als Unmöglichkeit des Erkennens« zu veranschaulichen (S. 326).

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Fazit

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Von Steinaecker bemüht sich durchweg, auch demjenigen Leser, der nicht mit den besprochenen Werken vertraut ist, das Zusammenspiel von Bild und Text anschaulich vor Augen zu führen. Dies gelingt meistens, aber nicht immer. Oft visualisiert er das ganze Ensemble so gut es geht, bisweilen jedoch druckt er nur Text oder Bild ab, beschreibt dann allerdings das nicht reproduzierte Bild beziehungsweise informiert, dass es einen für das Verständnis notwendigen Bild-Kommentar gibt (vgl. zum Beispiel S. 63). Eine einheitliche Verfahrensweise und eine konsequente Verwendung von Bildunterschriften oder Abbildungsnummern würde die Lektüre erleichtern. Ebenso böte die Verwendung von mehr (und durchnummerierten) Zwischenüberschriften eine Orientierungshilfe im klein und dicht bedruckten Buch, dessen Kopfzeilenbeschriftung wenig sinnvoll ist. Trotz des Verbesserungspotenzials im Layout überwiegt aufgrund der inhaltlichen Qualität jedoch ein guter Eindruck.

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Von Steinaeckers Urteil über Fotos – die nur die Oberfläche zeigen, während darunter abgrundtiefe Dunkelheit herrsche – trifft jedenfalls nicht auf sein Buch zu, das weitaus mehr leistet, als Oberflächen zu beleuchten. Es steht außer Zweifel, dass sich von Steinaecker gründlich mit den Hauptvertretern des Foto-Texts beschäftigt hat. Das Resultat ist eine Studie, die mit respektvoll-bescheidenem und stets sachlichem Gestus versucht, den besprochenen Werken wirklich gerecht zu werden, ohne sich durch überspitzte Thesen profilieren zu wollen. Auch wenn man Benjamin nicht als omnipräsenten Referenzautor ansehen möchte, kann man sich von der historisch angelegten und zugleich systematischen Studie überzeugen lassen, die trotz beeindruckender Detailfülle zielstrebig argumentiert. Dank der verständlichen Erläuterung komplexer Zusammenhänge wird von Steinaecker seinem eigenen Anspruch gerecht: Er liefert ein auch für ›Einsteiger‹ in die Intermedialitätsforschung gut lesbares Buch über deutsche Foto-Texte, das zugleich eine schöne Einführung in die spannenden Werke von Brinkmann, Kluge und Sebald ist.