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Ein Ereignis, das die Welt veränderte: Künstlerische Reaktionen auf Nine Eleven

  • Ingo Irsigler / Christoph Jürgensen (Hg.): Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 255) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008. 410 S. 66 Abb. Gebunden. EUR (D) 35,00.
    ISBN: 978-3-8253-5445-9.
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Es war ein Ereignis, das die Welt veränderte: Das erfahren wir jedes Jahr von Neuem, wenn an den 11. September 2001 erinnert wird; sei es, dass es um die wiederkehrende mediale Reproduktion der Ereignisse, um die Aufarbeitung persönlicher und weltweiter Erinnerung oder um die Skizzierung mehr oder weniger beweisbarer und oft trivialer Verschwörungsszenarien geht. Nicht nur werden bekannte und neue Bilder, gängige und neu entworfene Interpretationen diskutiert, auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Zäsurereignis 9/11 scheint nicht abzureißen.

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Bereits wenige Jahre nach den Flugzeugattentaten auf die Twin Towers entstanden vor allem im amerikanischen Raum erste Studien, wie in dem von Norman K. Danzin und Yvonna S. Lincoln herausgegebenen Sammelband 9/11 in American Culture (Walnut Creek u.a.: AltaMira Press 2003), die allerdings weniger auf eine präzise Untersuchung der Attentate, deren Folgen und die ästhetische Aufarbeitung abzielten, sondern eher eine Bestandaufnahme möglichst direkter Erklärungsversuche anstrebten. Den ersten Reaktionen folgten bald wissenschaftliche Veröffentlichungen, welche die mediale Wirkung, deren Bedeutung und die ästhetische Produktion untersuchten. In Deutschland war es der von Matthias N. Lorenz herausgegebene Sammelband Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001 (Würzburg: Könighausen & Neumann 2004), der als erster eine im weitesten Sinne kulturwissenschaftliche und interdisziplinäre Auseinandersetzung des Themas 9/11 unternahm. In dieser Nachfolge steht auch der von Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen herausgegebene Band.

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Konzeption des Bandes

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Ausgehend von Karl-Heinz Stockhausens berüchtigtem Satz – der Angriff sei das »größte Kunstwerk, dass es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos« (S. 9) – und Jean Baudrillards Analyse des medial inszenierten Ereignisses legen die Herausgeber Irsigler und Jürgensen in ihrer Einleitung die Herangehensweise ihres Bandes unmissverständlich fest. Sie stellen nicht die Frage in den Mittelpunkt, welche politischen Ursachen und Auswirkungen die Anschläge auf das World Trade Center gehabt haben mögen, sondern untersuchen ausschließlich, welche Bedeutung diese für die ästhetische Produktion hatten, bzw. ob das Thema 9/11 »eine Herausforderung dar[stellt], die neue ästhetische Verfahren provozierte« (S. 10). Es überrascht zwar, dass die politischen Konsequenzen der Ereignisse zugunsten ihrer ästhetischen Auswirkungen außen vor gelassen werden, vor allem wenn man im weiteren Verlauf bemerkt, dass eine solch strikte Trennung bei der Untersuchung bestimmter Materialien nicht immer durchgehalten werden kann. Insgesamt aber erscheint die Entscheidung der Herausgeber bei der Lektüre der 17 Beiträge legitim, vor allem weil es ihr Ziel ist,

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eine breit kulturwissenschaftlich perspektivierte Bilanz zu ziehen, in welcher Weise die Kunst auf [die Anschläge] reagiert hat, welche poetologischen Muster sich also in unterschiedlichen Kunstformen finden, welche Deutungsversuche im Medium der Fiktion angeboten wurden, wie die bildorientierten Fernsehens geantwortet haben und welche Formen die Kunst über »Nine Eleven« in verschiedenen Kulturräumen prägen (S. 13).
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Zur Beantwortung der im Vorwort gestellten Frage und Zielsetzung vereint der Band Aufsätze, die jeweils unterschiedliche Medien und insgesamt drei Darstellungsmodi untersuchen: Literarisierungen, Inszenierungen und Visualisierungen.

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Literarisierungen von 9/11

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Den Auftakt zur ersten Sektion zu den Literarisierungen des 11. Septembers bildet der Aufsatz von Christoph Deupmann über den Ausnahmezustand des Erzählens. Ausgehend von der zeitlichen Diskrepanz zwischen einem Ereignis, das im Modus des Jetzt steht, und seiner nachträglichen schriftlichen Kodierung, die durch den Schock der Bilder und deren Nachwirkung beeinflusst wird, beschreibt Deupmann treffend, wie die Schriftsteller nach den Anschlägen der Unmöglichkeit gegenüberstanden, vom Ereignis selbst zu erzählen. Was Jacques Derrida als Paradoxon einer »unmöglichen Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen« (S. 19) bezeichnet, wird von Deupmann anhand Ulrich Peltzers Bryant Park und anderer Texte vor Augen geführt. Dabei wird in diesem wie in den anderen Aufsätzen deutlich, dass die literarische Produktion nach den Terroranschlägen im deutschsprachigen Raum weniger in einer literarischen Verarbeitung als vielmehr in einer Reflektion über die Möglichkeit, bzw. Unmöglichkeit des Erzählens selbst mündet. Folgt man den Argumentationen von Birgit Däwes und Peer Trilcke, so scheint es sich mit der amerikanischen Literatur anders zu verhalten. Dies mag darin begründet sein, dass einerseits der Schock nachhaltiger und länger wirkt, und andererseits das Hauptanliegen der US-amerikanischen Autoren zunächst in der Verarbeitung des Traumas bestand. Stärker als die deutschen Schriftsteller und Dichter befinden sich Däwes zufolge ihre amerikanische Kollegen im Dilemma »zwischen Vorstellungsbedarf und Krise der Repräsentation« (S. 70). Däwes stellt fünf Strategien der amerikanischen Autoren im Umgang mit dem »WTC image complex« fest (S. 73), wobei keine strikte Trennung zwischen ihnen auszumachen ist, da der Großteil der von Däwes untersuchten Texte sowohl stilistisch als auch formal einer realistischen Schreibweise treu bleibt. So entsteht der Eindruck, dass der 11. September zwar thematisch zu einer Wende in der Literatur beigetragen haben mag, von neuen ästhetischen Ansätzen allerdings kaum die Rede sein könne. Dies wird auch durch den überaus lesenswerten Aufsatz von Peer Trilcke bestätigt, der auf der Grundlage einer umfangreichen Materialsichtung einen aufschlussreichen Überblick über die lyrische Produktion nach den Anschlägen auf die Twin Towers gibt.

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Inszenierungen

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Präsentiert die erste Sektion, wie sich deutsche und US-amerikanische Schriftsteller einerseits dem Problem der Undarstellbarkeit und andererseits der notwendigen Auseinandersetzung mit den Anschlägen gestellt und diese verarbeitet haben, so richtet die zweite Sektion den Focus auf die Produktion in Theater und Popmusik. Der Unterschied zwischen der literarischen Produktion der beiden Länder, der sich bereits in der ersten Sektion herauskristallisiert hat, wird auch hier bestätigt, wobei anzumerken ist, dass die deutschsprachige Produktion insgesamt wenig Beachtung findet. Die Gründe liegen sicherlich darin, dass im deutschsprachigen Drama das ›Weltereignis 9/11‹ kaum Spuren hinterlassen hat, so dass man von einer »Zäsur ohne Konsequenzen« sprechen kann, wie Tom Kindt in seinem Aufsatz lapidar feststellt (S. 126). Wie man dem Aufsatz von Anneka Esch-van Kan entnehmen kann, stellt sich hingegen das US-amerikanische Theater zumindest anfangs die Aufgabe, durch die Betonung persönlicher Zeugenschaft und – durch die Nachrufe auf Verstorbene – Aufbewahrer und Sprachrohr der kollektiven Trauer zu sein und so »eine Gemeinschaft der Trauernden zu stiften« (S. 128). Nach dem Moment der Wortlosigkeit und nach dem Theater der Zeugenschaft zeigt die Autorin in der US-amerikanischen Theaterszene ein stark wachsendes politisches Engagement gegen den Krieg in Afghanistan und Irak auf. Gerade dieser Aspekt, der in der Ökonomie des Aufsatzes wenig Raum einnimmt, hätte gern mehr Aufmerksamkeit erfahren können, was jedoch wahrscheinlich nicht in das Konzept des Bandes hineingepasst hätte. Doch jenseits dieser Kritik bietet der Aufsatz von Esch-van Kan eine überaus empfehlenswerte Lektüre. Ebenso lohnend ist Sascha Seilers Untersuchung der Reaktionen auf 9/11 im Bereich der amerikanischen Popmusik.

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Visualisierungen

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Angesichts der medialen Wirkung und Resonanz der Anschläge überrascht es nicht, dass die dritte Sektion – Visualisierungen – vergleichsweise breit ausfällt. Untersucht werden Dokumentar- und Spielfilme, etwa Oliver Stones World Trade Center und Michael Moores Fahrenheit 9/11 für die amerikanische, Max Färberböcks September, Elmar Fischers Fremder Freund und Markus Imbodens Auf ewig und einen Tag für die deutsche Filmproduktion. Auch Comics, Fotografien und die architektonische Auseinandersetzung mit dem 11. September werden berücksichtigt. Wenn an dieser Stelle nur auf den Aufsatz über Comics eingegangen wird, so vor allem, weil die untersuchten deutschen und US-amerikanischen Dokumentar- und Spielfilme zugespitzt den bereits für die Literatur skizzierten Unterschied aufweisen: Dem distanzierten Blick und reflektierten Umgang mit den Anschlägen in der deutschen Filmlandschaft steht die unmittelbare Rekonstruktion der Ereignisse der US-amerikanischen Produktionen gegenüber, die als Versuch verstanden werden können, Zeugenschaft für die Opfer und Trauerarbeit in einer schockierten Gesellschaft zu leisten.

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Differenzierter scheint hingegen die von Comics, bzw. Comic Poster Books geleistete ästhetische Aufarbeitung. Wie Johannes Fehrle und Rüdiger Heinze in ihrem Aufsatz präzis darstellen, gehörten diese zu den ersten USA-weiten künstlerischen Reaktionen auf den 11. September 2001, da sie sich als passendes Medium »für die Darstellung des Mondänen wie auch des Monströsen, des Traumatischen wie des Alltäglichen, bzw. deren Korrelation« (S. 220) erweisen. Der Problematik der Darstellbarkeit nicht fern, verfügen Comics zufolge Fehrle und Heinze über ein konstitutives Merkmal: Ihre Sequenzen starrer Bilder lassen »eine besondere Form der Leerstelle« (S. 225) entstehen, die vom Leser selbst assoziativ, kontrastiv und konstruktiv gefüllt werden kann. In Anlehnung auf Martin Schüwers Studie über das Erzählverfahren von Comics sehen die beiden Autoren in diesem Medium ein besonderes narratives Potential freigesetzt. Wenn Comics sich der Darstellung des Scheiterns von Superhelden, der Heroisierung von ›normalen‹ Menschen, der Homogenisierung der Stadtpunkte oder dem satirischen Angriff auf die Lethargie der amerikanischen Gesellschaft widmen, zielen sie zwar wie andere Medien auf eine Historisierung der Ereignisse ab, ihre Besonderheit aber liegt in den »ästhetischen und thematischen Strategien und in den rhetorischen Zielen, mit denen der 11. September historisiert wird.« (S. 248).

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Insgesamt präsentiert der von Irsigler und Jürgensen herausgegebene Sammelband eine lobenswerte Bestandsaufnahme der ästhetischen Reaktionen auf den 11. September 2001. Es wird sicherlich nicht der letzte Band sein, der sich mit dem Thema beschäftigt. Die Herausgeber von Nine Eleven haben sich aber sehr verdient gemacht, indem sie eine auf gutem Niveau dargebotene Auswahl der ästhetischen Reaktionen in verschiedenen Medien auf das Ereignis, das die Welt veränderte, getroffen haben.