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»Good fences make good neighbors«:

Fabio Durão rettet die Literatur vor ihren Interpreten

  • Fabio Akcelrud Durão: Modernism and Coherence. Four Chapters of a Negative Aesthetics. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2008. 157 S. Paperback. EUR (D) 30,20.
    ISBN: 978-3-631-56949-8.
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Vergegenwärtigung:
Zur gesellschaftlichen Relevanz von Dichtung

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»Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist, sie in unsere(m) Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen. (So tut der Sammler, so auch die Anekdote.)« 1 An dieses Aperçu Walter Benjamins erinnert der Beginn des dritten Kapitels von Fabio Akcelrud Durãos Studie Modernism and Coherence. Four Chapters of a Negative Aesthetics (2008). Der brasilianische Komparatist berichtet in Form einer Anekdote von einem persönlichen Erlebnis bei der Ausreise aus den USA in seine Heimat. In der Folge des 11. September 2001 wurden die US-amerikanischen Sicherheitsbestimmungen verschärft und so die bereits unterschwellig präsente Vorverurteilung von Passagieren aus Entwicklungs- und Schwellenländern offiziell sanktioniert. Der Zollbeamte am Flughafen behandelt Durão dementsprechend mit der Herablassung, wie sie offiziellen Staatsbeauftragten eignet. Die Situation ändert sich jedoch schlagartig, als der Beamte im Gepäck des reisenden Wissenschaftlers eine Reihe von Büchern über den amerikanischen Dichter Robert Frost findet. Diese Entdeckung kommentiert der Zöllner mit einem der bekanntesten Zitate aus Frosts Dichtung: »Good fences make good neighbors«. Diese als einheitsstiftend gemeinte und doch zutiefst trennende Geste, mit der sich der Beamte auf das gemeinsame kulturelle Kapital zu berufen und über Nationalgrenzen hinweg eine Verbindung zu schaffen sucht, wird von Durão hellsichtig gedeutet: Sie verfehlt ihr Ziel, die beiden durch unterschiedliche Machtpositionen getrennten Individuen auf dem vermeintlich neutralen und gemeinsamen Terrain der Weltliteratur zu vereinen, und zeigt stattdessen ironischerweise, dass das Frostsche Ideal des Trennens und gleichzeitigen Verbindens gerade an diesem Ort des Übergangs nicht praktiziert wird. Literatur und gesellschaftliche Lebenswelt klaffen auseinander, und zwar genau in jenem Moment, wo anhand eines Zitats deren Zusammenspiel postuliert wird.

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Vergegenwärtigung heißt bei Durão, ganz im Sinne Benjamins, die Bedeutung eines ästhetischen Objekts für die Gegenwart aufzuzeigen, seine Aktualität als plötzlichen Einbruch zu verstehen. Dieser Gestus ist nicht auf persönlich motivierte Anekdoten wie die oben skizzierte beschränkt, sondern durchzieht seine Lektüren: Texte im Allgemeinen und Gedichte im Speziellen werden in der vorliegenden Studie nicht als autonome Wortspielereien gesehen, sie sind keine sprachlichen Gebilde, die von gesellschaftlicher Realität losgelöst sind, sondern werden in ihren vielfachen Verflechtungen mit den herrschenden sozialen Verhältnissen verstanden. Das ist der deutlich von einem Marxismus à la Fredric Jameson inspirierte Grundansatz von Durãos Studie. Dass Durão es hierbei schafft, die literarischen Kunstwerke im Gegenzug nicht als bloße Illustrationen wie auch immer gearteter sozialer Strukturen zu lesen, ist das große Verdienst seiner Untersuchung. Durãos Lektüren überzeugen stets dort am meisten, wo der Blick auf das einzelne Kunstwerk gelenkt wird, »the poem ahead of you«, wie es in seinem Kapitel zu Frost heißt. Denn, in den Worten von Durão, »a single poem can be more encompassing, can swallow and thereby become bigger, than everything that was written on it, its author and his or her œuvre« (S. 10; Hervorhebung im Original).

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Adornos negative Ästhetik
und die Frage nach der Kohärenz

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Ausgehend von einer negativen Ästhetik im Sinne Adornos geht es in seinen Lektüren, die den drei anglophonen Schriftstellern Wallace Stevens, Robert Frost und James Joyce gewidmet sind, um die Bedeutung von coherence als genuin modernistischer Kategorie. Bereits die Übersetzung des Begriffs erweist sich als unablösbar von den hier verhandelten Problemen. Neben der eindeutigen Übertragung von coherence ins Deutsche als ›Kohärenz‹ lässt sich coherence auch auf den adornitischen Begriff zurückführen, dessen englische Übersetzung er ist: »Stimmigkeit«. Coherence trägt demnach stets die Referenz auf den Bereich der Musik in sich; und dies ist die zweite Kunstform, auf die sich Durão neben der Literatur in seinen Interpretationen bezieht und so seine geistige Verwandtschaft mit Adorno bekräftigt.

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Konsequent verweigert wird jedoch jegliche ein für allemal feststehende Definition dessen, was sich unter Kohärenz verstehen lässt. Als übergreifender Terminus ist coherence Durão zufolge zugleich eng und offen genug, um als Übersetzung von Adornos dialektischem Impetus in ein eher linguistisch-semiologisches Register zu dienen. Er versteht diesen Begriff nicht als umfassendes Erklärungsmuster, sondern vielmehr als Ausgangspunkt seiner Analysen, die stets auf den Zusammenhalt durch Form abzielen. Es geht Durão nicht darum, ein Konzept namens Kohärenz zu etablieren und dieses dann auf die jeweiligen Gedichte und Texte zu applizieren, vielmehr setzt er sich gerade von einer solchen Arbeitsweise ab, die theoretische Ausgangspositionen zunächst paraphrasiert und dann auf den jeweiligen Gegenstand anwendet. Durão will die Geste der Negativität dahingehend ernst nehmen, dass sie sich jeweils nur am einzelnen Gegenstand beweisen kann, und das heißt in der singulären Lektüre.

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Im Zentrum von Durãos Untersuchung steht die Frage, wie es gelingen kann, zwischen umfassenden Theorieentwürfen und close readings zu vermitteln. Vermittlung versteht er nicht als einen grauen Mittelgrund ohne genaue Konturen, sondern plädiert im Gegenteil für eine radikale Position: »expecting […] that a total submersion in the inside of texts may finally afford a glimpse of that which lies outside of them« (S. 12). Kunstwerke denkt er daher weder als autonome, in sich geschlossene Entitäten noch als bloßen Ausdruck von symbolischem Kapital. Vielmehr sind sie stets mehr als das, was über sie gesagt werden kann. Sie widersetzen sich der Reifizierung und der Subsumierung unter den neuesten Theorietrend. Dementsprechend ist »aesthetic negativity […] the enactment of determinate refusal of predication on the part of artworks« (S. 12).

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An diesem Kunstverständnis zeigt sich, dass Durão (zumindest teilweise) die ästhetischen Prämissen des Modernismus zu seinen eigenen erhebt. Das Kunstwerk bleibt für ihn in letzter Instanz unergründlich, es widersetzt sich fixierender Analysen. Eine mögliche Absolutsetzung des Kunstwerks als in sich geschlossener Kosmos jedoch relativiert er durch eine starke Auffassung von Interpretation: Im Prozess der Sinnstiftung, der die eigentliche Aufgabe von Literaturwissenschaft ist, kann es nur darum gehen, einzelne sprachliche Kunstwerke zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt auf ihre Bedeutung hin zu befragen. Das Material seiner Untersuchung sind daher nicht nur die literarischen Texte seiner vier Autoren, sondern auch eine Auswahl an bereits geleisteten Lektüren eben dieser Texte. Nicht nur die Kunstwerke, auch die Kunstkritik agiert somit den performativen Widerspruch aus, mit sich selbst nicht identisch zu sein, den Adorno als tour de force der Kunst bezeichnet hat.

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Durãos Wahl von vier modernistischen Autoren (zu denen er auch Adorno zählt) ist motiviert durch die mittlere Distanz, die der heutige Interpret zu diesen Kunstwerken hat: Modernismus »is still close enough to allow for an immediate experience of itself. Many of its themes, such as mechanization, urbanization, alienation, individualism, or social conflict remain at the core the same ones we face today […]. On the other hand, literary modernism is already old enough to have solidified in a movement and to have accumulated a rich and already uncontainable critical history on it« (S. 16f.).

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Den Zusammenhang zwischen Kohärenz und Modernismus fasst er hierbei als Spannung: »The two parts form a field of tension: modernism represented a supreme effort to articulate new kinds of coherence by means of an unprecedented investment in narrative technology in a world it deemed out of joint; coherence recalls that what we have today under the label modernism is not an obvious object, but has passed through a series of mediations, including of course the institutionalization that solidified it into a definition« (S. 33–34).

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Die vier Kapitel seines Buches sind jeweils einem Autor gewidmet. Ihnen entsprechen vier Arten von Schwierigkeit: Das erste Kapitel zu Adorno ist einer theoretischen Komplexität verschrieben. Durãos Diskussion von Wallace Stevens nähert sich diesem Dichter als einem exemplarischen Fall von idiosynkratischer Schwierigkeit; Robert Frost hingegen stellt den eher ungewöhnlichen Casus der täuschenden (deceptive) Schwierigkeit dar. Mit James Joyce schließlich befasst sich das vierte Kapitel mit einem in seiner Diffizilität bereits kanonisch gewordenen Autor.

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Allen vier Autoren, die hier zur Diskussion stehen, wurde bereits eine Vielzahl von literaturwissenschaftlichen bzw. philosophischen Studien gewidmet. Die Sekundärliteratur zu Joyce und Frost ist kaum noch überschaubar. Doch was für Autoren wissenschaftlicher Arbeiten oftmals eher eine Belastung als eine hilfreiche Basis darstellt, nämlich das Vorhandensein eben dieser unüberschaubaren Menge anderer Texte, wird von Durão im Sinne einer negativen Ästhetik in seine Lektüren hineingeholt: Indem er systematisch durch die Sekundärliteratur hindurchgeht und diese selbst als Ausdruck gesellschaftlicher und ästhetischer Positionen ausdeutet, nimmt er ausgewählte Texte über ›seine‹ Autoren als testing ground seiner eigenen Analysen, bevor er sich den Dichtungen der zu diskutierenden Autoren widmet. Eine solche Vorgehensweise ist also von Durãos Ausgangsthesen gedeckt und somit in der inneren Logik des Buches kohärent. Das führt dazu, dass für Durão Selbstzeugnisse wie Briefe und (Auto-)Biographien – Genres, die in der eher theoretisch ausgerichteten Literaturwissenschaft in den letzten Jahren eher vermieden wurden – wieder ins Zentrum des Interesses geraten.

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Dennoch muss als einziges Manko dieser äußerst lesbaren Untersuchung angemerkt werden, dass die Diskussion der Sekundärliteratur, insbesondere zu Robert Frost, gelegentlich Längen aufweist und für den nicht genuin amerikanistisch interessierten Leser etwas ausufert. Hier wären gezielte Kürzungen dem Lesefluss durchaus zuträglich gewesen.

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Wallace Stevens und der Druck der Wirklichkeit

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In seinen Ausführungen zum amerikanischen Dichter Wallace Stevens geht Durão von Negativbefunden der Literaturkritik aus. Stevens, so scheint es, verkörpert den Prototyp des bourgeoisen Schriftstellers:
Als Versicherungsfachmann in relativer finanzieller Sicherheit schreibt er in seiner Freizeit Gedichte. Folgt man der Sekundärliteratur, so deckt sich seine soziale Position mit seinen Überzeugungen: Stevens’ Verhältnis sowohl zu Frauen als auch zu den Kategorien von Rasse und Raum entsprechen dem Klischee des misogynen und exotistisch inspirierten Dichters der weißen Mittelklasse, der es sich am heimischen Herd wohlig warm macht.

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Durão geht von diesen vermeintlich offensichtlichen, vielerorts kritisierten sozialen und ästhetischen Einstellungen des Dichters aus und macht sie zum zentralen Punkt seiner dialektischen Wendung: »the falsity of these truths must be recognized and the truth of Stevens’ falseness recuperated« (S. 65). Stevens’ Gleichsetzung vom Dichter mit einem männlichen Subjekt und des weiblichen Gegenpols mit einem Objekt erläutert Durão im Rückgriff auf Frank Lentricchia (neben Fredric Jameson sein wichtigster Gesprächspartner in den Theoriediskussionen der Gegenwart) als genuin modernistisches und daher kapitalistisches Phänomen: Nur, wer nicht im Zirkel der Warenproduktion gefangen ist, hat die nötige Muße, sich der Dichtung zu widmen, daher liegt die Assoziation vom effeminierten Dichter nahe. Um sich hiervon abzusetzen, betonen die Modernisten stets ihre Virilität; Wallace Stevens stelle hier keine Ausnahme dar. Den Rassismus bei Stevens verbucht Durão als eine Spielart des Exotismus, der wiederum als Sehnsucht nach dem Ausbruch aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen verstanden wird.

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Als leitende Lesehypothese seines Kapitels zu Stevens, das mit »The Escape Valve of Truth« betitelt ist, fasst Durão zusammen: Stevens’ Gedichte sind Paradebeispiele für die Art und Weise, in der modernistische Dichter angesichts des herrschenden Wirklichkeitsdrucks Kohärenz zu schaffen versuchen. Wirklichkeit wird hier verstanden als »subjectless system produced by human beings in their interaction with each other and with nature, a system that feeds on exploitation and which rules those who, unknowing, maintain it« (S. 66). Der Druck, den dieses System ausübt, wird als Metapher für die diesem System zugrunde liegenden Tauschbeziehungen verstanden.

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Um den unterschiedlichen Ausprägungen des Wirklichkeitsdrucks bei Stevens nachzugehen, eröffnet Durão zunächst die biographische Arena und schildert die widerstrebenden Tendenzen des jungen Stevens zwischen einer praktischen, eher vom Vater her rührenden Seite und einer kreativen, der Mutter zugeordneten Seite. Nachdem sich der Dichter auf den Broterwerb als Versicherungskaufmann einlässt, bleibt ihm für seine schriftstellerischen Ambitionen nur die Freizeit. Seine Dichtung gewinnt so kompensatorischen Charakter, und eben dieser Kompensationsfunktion der Dichtung geht Durão im Folgenden nach. Er detektiert eine fetischistische Haltung von Stevens den eigenen Gedichten gegenüber und deutet diese als Reaktion auf den Wirklichkeitsdruck: Angesichts der grundlegenden Warenhaftigkeit der Beziehungen werden Stevens seine Gedichte zu eben solchen Produkten, denen er sich bedingungslos hingibt. In dieser Geste der Übersteigerung versucht Stevens den Warenkapitalismus zu überwinden. Stevens’ Dichtung, so Durão zusammenfassend, zeichne sich daher nicht durch reine Selbstreferenzialität aus, wie so oft konstatiert, sondern vielmehr durch ein »turning into itself«, »which culminates in performing the triple, incompatible functions of compensation for, then expression and eventually rationalization of frustrated desire« (S. 73).

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Nach der biographischen Funktion untersucht Durão als zweite Ebene der Kohärenzstiftung der Dichtung die Beziehung zwischen Gedicht und Kommentar bei Stevens. Kunstkritik, wie sie der amerikanische Dichter u. a. in seinen Briefen betreibt, wird bei Durão als Vermittlungsprozess zwischen dem Kunstwerk als geschlossener Entität und der Gesellschaft verstanden. Wenn das Kunstwerk nur sich selbst als Referenz hat, schließt die Kritik notwendigerweise an gesellschaftliche Diskurse und somit an Ideologien an. Der Prozess der Sinnstiftung durch Kritik wird so zum Mittler zwischen Werk und Gesellschaft; Kohärenz und Ideologie gehen Hand in Hand.

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Als drittes Kohärenzmoment bei Stevens diskutiert Durão die Frage, auf welche Weise einzelne Gedichte auf den Wirklichkeitsdruck reagieren. Die These lautet, dass sie ihm zugleich widerstehen und ihn in derselben Bewegung annehmen. Dies geschieht umso deutlicher, je selbstreferenzieller ein Gedicht auf den ersten Blick erscheint: »the more articulated and self-referential the poem becomes, the more it looks like an object and promises an aesthetic experience; and the more this happens, the more precise and yet ungraspable the appearance of its refusal to integration makes itself felt« (S. 82).

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Im abschließenden Abschnitt zur Lyrik von Wallace Stevens widmet sich Durão der Klangebene der Gedichte und somit der musikalischen Dimension von coherence als Stimmigkeit. Wie aufgrund der vorausgehenden Ausführungen zu erwarten, widersetzt er sich der Versuchung, Klang in Semantik zu übersetzen, wie die andere Interpreten von Stevens zuvor praktiziert haben. Klang und Bedeutung werden nicht miteinander verrechnet, vielmehr wird Klang zu einer autonomen Größe, deren Präsenz umso deutlicher vorscheint, je mehr Druck auf das Gedicht ausgeübt wird, Bedeutung zu spenden: »Lyric truth has changed its nature; no longer the content of its own discourse, it has become the refusal to integrate in the imagination what is negated in reality« (S. 89). Der unüberhörbare Verschlusslaut /st/ im Gedicht »On the Road Home« wird so in Durãos Lesart zum Klang des Entlüftungsventils, das den Wirklichkeitsdruck ablässt und so die Wahrheit spricht, ohne sie in Worte zu kleiden.

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Robert Frost: Zitierfähigkeit und local color

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Wird für Wallace Stevens der Zusammenhang zwischen dessen häufig als hermetisch bezeichneter Lyrik und dem gesellschaftlichem Hintergrund betont, so ist die Situation beim amerikanischen poeta laureatus Robert Frost grundlegend anders: Frost bemühte sich zeitlebens, seine Lyrik in den öffentlichen Raum zu tragen und das größtmögliche Publikum für seine Gedichte zu gewinnen. Hierzu arbeitete er intensiv an seiner public persona und versuchte, zwischen gesellschaftlicher Breitenwirksamkeit und ästhetischer Formvollendung zu vermitteln. Diese Vermittlungsbestrebungen führten dazu, dass in Frost das Inbild eines einfachen Dichters für das Volk gesehen wurde.

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Diese vermeintliche Simplizität von Frost macht Durão an drei Bereichen fest. Zunächst eignet sich Frosts Lyrik dank der Vielzahl an epigrammatischen Ausdrücke und Sprichworten in besonderem Maße dazu zitiert zu werden, wie bereits im oben geschilderten Zusammentreffen auf dem Flughafen zu sehen ist. Doch das Herausbrechen von Textstücken, insbesondere solcher, die eine vermeintlich allgemeine Wahrheit auf den Punkt zu bringen suchen, zerstört den Gesamtkontext des jeweiligen Frostschen Gedichts. Das Zitat wird so zu einer Ebene mittlerer Aussagefähigkeit – weder wird das Sprichwort als Entität betrachtet noch wird es im Zusammenhang des Gedichts gesehen. Die hervorstechende Eigenschaft der Frostschen Gedichte, auszugsweise zitiert werden zu können, verbindet sie mit zwei weiteren Gemeinplätzen seiner Lyrik: zum einen deren oberflächliche Einfachheit, zum anderen ihre Verwurzelung in einem geographisch spezifischen Raum, dem Nordosten der USA, Neuengland. Frost als Dichter des ruralen Landlebens wird zum Stereotyp des farmer-poet; ein Bild, das ihm in der Literaturkritik bis in die 1960er Jahre anheftet. Local color wird zum Bindeglied zwischen Wort und Region erhoben, als deren herausragender Exponent Frost gefeiert wird.

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Diesem allzu simplen Bild des Dichters hält Durão einige schlagkräftige Analysen entgegen. Zunächst verdeutlicht er, dass die Verknüpfung von Lyrik und Raum nur bis zu einem gewissen Punkt tragfähig ist und notwendigerweise scheitern muss. Der erste Prozess, der diese scheinbar natürliche Verbindung unterbricht, ist die Metaphorisierung des Raumes: Insbesondere in Bezug auf Neuengland hat man es mit einem Raum zu tun, der zu Frosts Zeit bereits literarisiert und dadurch auch zu einem metaphorischen Raum geworden ist. In seiner Lektüre der Frost-Biographie von Lawrance Thompson verdeutlicht Durão zudem, wie sehr der Eindruck der Einfachheit und des gesprochenen Wortes bei Frost das Ergebnis eines langwierigen Arbeitsprozesses sind. Der an Shakespeare geschulte Dichter studierte die Prosodie der englischen Sprache intensiv, seine Rhythmen sind weniger den Gesprächen der Menschen auf dem Land abgehört als den kanonischen Texten der Weltliteratur.

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Nachdem auch im Kapitel zu Robert Frost zunächst epochemachende Lektüren des Dichters vorgestellt und auf die ihnen zugrunde liegenden Überzeugungen hin abgeklopft werden, kulminiert es in einer genauen Analyse des Gedichts »The Wood Pile«. Hier wie andernorts in Durãos Studie zeigt sich das Können des Autors, der eine bis in die Mikrostrukturen genaue Textanalyse mit weitreichenden Implikationen verbinden kann. »The Wood Pile« wird als ein Gedicht verstanden, das die ganze Problematik der Frostschen Dichtung exemplifiziert, nämlich »the paradoxical nature of artistic labor, which both bears in itself the guilt of the manual labor it depends upon and promises the transcendence of the world of work« (S. 112; Hervorhebung im Original). Das Gedicht wird in der Analyse Durãos zu einer Allegorie für die Dichtung Frosts, die unter dem Druck steht, einerseits ihre lyrischen Qualitäten unter Beweis stellen zu müssen und andererseits ihre vermeintliche Einfachheit zu bewahren. Und doch löst sich das Kunstwerk nicht unter dem analysierenden Blick des Leser und Interpreten auf, sondern bewahrt sich einen Rest an Widerständigkeit, an ästhetischer Negativität, der nicht einzuholen ist.

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James Joyces Ulysses als Spielplatz der Literaturtheorie

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Das letzte seiner vier Kapitel widmet Durão einem seit jeher als schwierig eingestuften Text, James Joyces Roman Ulysses. Auch hier steht ein überschauendes Urteil über die Sekundärliteratur sowie die Lektüre kanonisch gewordener Lektüren am Anfang. Ist bei den Dichtern Stevens und Frost die Sekundärliteratur immens, so erweist sich Ulysses gar als ein »small laboratory of Theory and a miniature map of its situation« (S. 118). Unter Theorie mit Großbuchstaben subsumiert Durão die Zusammenstellung von philosophischen und anderen theoretischen Grundlagentexten, die mittlerweile zu einem eigenen Forschungsgebiet und nicht zuletzt einem eigenen Wirtschaftszweig in den (nordamerikanischen) Universitäten geworden ist. Anstatt angesichts der Vielzahl von Ulysses-Deutungen zu verzweifeln, baut Durão diese vielmehr in seine Argumentation ein: »one ought to interpret this proliferation itself and the ways in which different or opposing readings, out of the very same words on the page, shaped and ultimately constituted what would seem to be different texts, thus indirectly exhibiting the concrete conditions under which particular interpretations took place« (S. 119). Gegen Lesarten, die anhand des Romans nur ihre jeweilig aktuelle Theorieströmung positionieren wollen, setzt sich Durão in der Titelgebung entschieden ab: Während es bei den meisten Texten zu Joyces Roman Usus ist, dem »in Ulysses« eine jeweils zentrale Analysekategorie voranzustellen, entscheidet sich Durão bewusst dafür, sein Kapitel »Ulysses in Four Figures of Coherence« zu nennen und zeigt somit bereits in der reflektierten Überschrift seine Vorgehensweise an.

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Vier Arten von übergreifender Sinnstiftung macht Durão in den bislang vorliegenden Interpretationen des Joyceschen Romans aus, die jeweils unterschiedliche Epochen kennzeichnen. Als erste Reaktion auf den 1922 erschienenen Roman detektiert Durão in den Kritiken die These, es handele sich hierbei um ein Werk der Dichtung, das aus reinem Chaos bestehe und keinerlei Zusammenhang präsentiere. Ulysses, so ließe sich die Meinung der in diesem Zusammenhang zitierten Kritiker zusammenfassen, weise zwar oberflächliche Verbindungen auf (Kohäsion), ermangele aber tiefergehender Verbindungen (Kohärenz). Als Gegenthese zur Ermangelung von Kohärenz steht eine zweite Sinnstiftungstendenz, die mit dem Namen T. S. Eliot verbunden werden kann: Ihr gilt Ulysses als Roman, der den Mythos wiederauferstehen lässt. Joyces Werk wird in dieser Interpretationsrichtung auf die intertextuellen Beziehungen zur Odyssee hin gelesen, als Aktualisierung des antiken Mythos für das 20. Jahrhundert. In dieser Betrachtungsweise wird der Roman von einem ungeordneten Textmonstrum zu einem Beispiel für Ordnung per se und zugleich zu einem zeitlosen Objekt stilisiert. Die Zeitlosigkeit im Inneren des Romans charakterisiert Durão hierbei als Permanenz des Mythos, die auf nicht-identitäre Weise die Zeitlosigkeit der kapitalistischen Welt spiegele, die sich in Wiederholung ausdrückt. Auch wenn die mythische Lesart des Romans, die Durão als grundlegend strukturalistisch bezeichnet, bei ihren beiden Vertretern Eliot und Pound nicht genau ausbuchstabiert wird, so stellt sie doch den ersten Versuche dar, Joyce für die Bedürfnisse der Literaturwissenschaften fruchtbar zu machen, ihm nämlich Sinn zu entlocken. Der Roman Ulysses wird im Gefolge der beiden Modernisten zu einer »novel in need of a key« (S. 124).

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Als dritte Kohärenzfigur, die in der Sekundärliteratur Einheitlichkeit im Kunstwerk stiftet, benennt Durão den postmodernen Ulysses. Nun wird die unerschöpfliche Textualität des Joyceschen Romans beschworen, die unendliche Produktivität im freien Spiel der Signifikanten. Eben jene Auffassung von innen heraus zu kritisieren, macht sich Durão zur Aufgabe, denn: »If textual pleasure is not posited as an escape from the real, but becomes theorized as its very core, the critic’s task must be to investigate how Ulysses responds to the promise of abundance, which, one might suppose, it can only maintain by not fulfilling« (S. 133).

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Wie auch bereits andere Kapitel zuvor endet Durãos Lektüre von Joyce beim Klang. Im Kapitel »Sirens«, so Durão, vollzieht sich ein ähnlicher Prozess wie in Stevens »On the Road Home«: Klang wird zur wichtigsten Kategorie, Sinn und Bedeutung treten in den Hintergrund. Reine Klanglichkeit wird zum bestimmenden ästhetischen Eindruck. Und in dieser Hervorhebung des Klanglichen bzw. hier genauer: des Musikalischen gehen Schreiben und Interpretation simultan. Die vierte Form der Kohärenzstiftung – eindeutig diejenige, die Durão nicht nur präsentiert, sondern auch favorisiert – ist diejenige einer Selbstlektüre, Ulysses wird zu einem Text, der sich selbst im Akt der Interpretation zugleich hervorbringt: »›Ulysses‹ can be viewed as the first interpretation of itself; it is the first reading of something that does not preexist it. The act of naming and of coming into being of what is named happen rigorously together« (S. 141).

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Fazit: Rettung der Literatur vor ihren Interpreten

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Durãos Studie bietet keine Einzelanalysen einer gemeinsamen Bewegung mit dem Namen »Modernismus«. Das macht der Autor bereits in seinem Vorwort deutlich, wenn er seine Studie als Versuch kennzeichnet, Argumente anhand vierer Gesten –»sucking-in, spurting, stepping ahead and folding« (S. 11) – vorzustellen, und sich somit davon distanziert, allgemeingültige Aussagen über eine literarische Epoche, eine Gruppe von Dichtern oder ein ästhetisches Konzept wie Kohärenz bieten zu müssen. Das Ziel ist vielmehr um einiges höher und zugleich niedriger gesteckt, nämlich der Frage nach der Bedeutung der Literatur nachzugehen, ja diese gar zu »retten«: »A negative aesthetics asks very little. It tries merely to salvage the signifier ›literature‹ to name that which cannot be predicated« (S. 147). »Literatur« soll davor geschützt werden, lediglich als Beleg für eine theoretische Position zu dienen; literarische Texte somit vor ihren Gebrauch durch ihre Interpreten gerettet werden.

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Diesen Anspruch kann man vermessen nennen, zumindest entbehrt er nicht einer gehörigen Portion an Pathos. Ob er einzuholen ist, mag dahingestellt sein. Denn vor allem besticht Durãos Buch in seiner eigenen Praxis, dem Lesen und Interpretieren von Texten. Selten werden insbesondere lyrische Dichtungen einer solch genauen Lektüre unterzogen, ohne dass die Interpretation zum ästhetischen Selbstzweck oder zur Konturierung vorgefasster theoretischer Konzepte wird. Durão führt vor, wie das eingangs geforderte Zusammenspiel von close readings und Theorie, von ästhetischem Artefakt und sozialen Fragestellungen aussehen kann. Und das Beste daran: Es macht Freude, diese Analysen zu lesen.

 
 

Anmerkungen

Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften V: Das Passagen-Werk. Frankfurt/M. 1982, S. 273.   zurück