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Interdisziplinäre Labyrintherkundung

  • Hans Richard Brittnacher / Rolf-Peter Janz (Hg.): Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos. Göttingen: Wallstein 2007. 272 S. 30 Abb. Broschiert. EUR (D) 26,00.
    ISBN: 3-89244-933-3.
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Der semantische Reichtum des Labyrinths

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Das Labyrinth, das sich seit dem kretischen Mythos um Daedalus, Theseus, den Minotaurus & Co. als Bild und als Narrativ durch die Kulturgeschichte bewegt, ist der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Wendy B. Faris zufolge eine »dominant figure of thought in the twentieth century«. 1 Die komplexe künstliche Raumstruktur des Irrgartens mit ihrem Verwirrpotential, ihren Sackgassen und Wahlmöglichkeiten inspiriert auch im 21. Jahrhundert den Film, wie etwa die kanadische Cube-Trilogie (1997, 2002, 2004) und den spanisch-mexikanischen Fantasy-Film Pans Labyrinth des Regisseurs Guillermo del Toro (2006), die Ernste Musik, zum Beispiel Jörg Widmanns Labyrinth für 48 Saiteninstrumente (2005) und sein Zweites Labyrinth für Orchestergruppen (2006) sowie Harrison Birtwistles Oper The Minotaur (2008), die Bildende Kunst, etwa den Russen Dmitry Rakov mit seinem Werk Labyrinth (2003), und die Literatur, darunter The Helmet of Horror. The Myth of Theseus and the Minotaur (2006) des russischen Schriftstellers Victor Pelevin.

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Die künstlerische Beschäftigung im Allgemeinen und die literarische im Besonderen macht sich das Labyrinth für die Verhandlung intellektueller und spiritueller Sinnsuchen, mentaler Grenzzustände (wie Verliebtsein, Todesangst, Wahnsinn) und räumlicher Verirrungszustände zunutze. Das Labyrinth als abstrakte Struktur kann ganz unterschiedlich semantisch besetzt werden, was es für eine künstlerische Umsetzung besonders attraktiv macht. 2 In der Literatur wird das Labyrinth ab dem 19. Jahrhundert zu einem »zentralen Raummotiv«. 3 Das Handbuch Themen und Motive in der Literatur macht vier Themenfelder aus, auf die das Labyrinthmotiv angewandt wird:

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(1) den Orientierungsverlust des Menschen im Dschungel der Städte [...] und das Unvermögen, zum sinngebenden Zentrum der gesellschaftlichen Struktur vorzudringen [...]; (2) die Wegsuche, Einweihung, erotische Erfahrung und Stufen der geistigen Entwicklung [...]; (3) die Irrfahrten in Versuchen einzelner, ihr Dasein frei zu bestimmen [...]; (4) Auflösung und Neukonstitution durch den labyrinthischen Diskurs. 4
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In der semantischen Pluralität des Labyrinths enthält der Aspekt der Wegsuche, der als doppelte Klimax den Vorstoß ins Zentrum wie auch den Austritt aus dem labyrinthischen Raum beinhaltet, unter anderem eine spielerische Qualität. In der Nachfolge der Heckenlabyrinthe der Renaissance machen sich in der heutigen Zeit Maislabyrinthe, Brett-, Rollen- und Computerspiele den ludischen Reiz des Labyrinths zunutze. Der 2007 erschienene Sammelband Labyrinth und Spiel will die Interferenzen der beiden Konzepte untersuchen. Hervorgegangen ist der von den Berliner Germanisten Hans Richard Brittnacher und Rolf-Peter Janz herausgegebene Band aus einer interdisziplinären Tagung, die im Herbst 2004 am Comer See stattfand. Er beinhaltet Beiträge aus der Kunstgeschichte, den klassischen und neueren Philologien, der Theaterwissenschaft und der Philosophie.

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Deutungsmuster für die Welt

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In ihrer kurzweiligen Einleitung führen Hans Richard Brittnacher und Rolf-Peter Janz in den griechischen Labyrinthmythos ein, reflektieren die Eigenschaften des Labyrinths und fragen nach der Aktualität des Mythos für heutige Adaptionen. Diese Aktualität sehen sie vor allem in der Komplexität der heutigen Welt begründet: »Nach wie vor bietet sich die Architektur des Labyrinths als Deutungsmuster für die Welt an, die mehr denn je als unüberschaubar, unentwirrbar und rätselhaft erfahren wird.« (S. 10) Auch Brittnacher und Janz heben auf das eingangs beschriebene Potential der Bedeutungsvielfalt des Labyrinths ab:

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Es gilt als Ort des Schreckens, der Ein- und Ausschließung, als Gefängnis, in dem das Verbotene (der Minotaurus) den Blicken entzogen wird, ebenso aber auch, seit der Renaissance, als »Irrgarten«, als Schauplatz des so lustvoll wie ängstlich erlebten Selbstverlusts, als Ort der Bewegungen zwischen Orientierung und Desorientierung etc. (S. 8)
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Eine ähnlich breit gefächerte Polyvalenz bescheinigen die Autoren auch dem Spiel, dessen Typologie »den Zeitvertreib so gut wie den Kampf auf Leben und Tod« erfasse (S. 10). Mit Blick auf die Überschneidungen von Labyrinth und Spiel sind die Leitfragen des Bands für Brittnacher und Janz somit:

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Welche Momente des Spiels sind im Labyrinth bereits angelegt? Inwiefern benötigen oder veranlassen labyrinthische Räume den, der sie betritt, zu spielerischem Verhalten? Inwieweit profitieren bestimmte Spiele von Bewegungsmustern im labyrinthischen Raum? (S. 13)
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Brittnacher und Janz konstatieren zutreffend, dass sowohl der Idee des Labyrinths als auch jener des Spiels in einigen Disziplinen seit längerem viel Beachtung geschenkt werde, dass jedoch die Interferenzen der beiden Konzepte »bislang kaum untersucht wurden« (S. 7). Bedauernswerter Weise bietet der Sammelband wenig Überblick über (und Anschluss an) die jeweils umfangreiche Forschungsliteratur zum Labyrinth und zum Spiel. 5 Auch klammert er vollständig jene ›kaum‹ vorhandenen (aber immerhin doch vorhandenen!) Untersuchungen aus, die sich bereits mit den Parallelen und der gegenseitigen Befruchtung der beiden Konzepte befasst haben. Eine Engführung von Labyrinth und Spiel findet sich etwa in R. Rawdon Wilsons spiel- und erzähltheoretisch ausgerichteter Studie In Palamedes’ Shadow. Explorations in Play, Game & Narrative Theory 6 . Wilson stellt im vierten Kapitel das Konzept des narrativen godgame 7 vor und postuliert, ihm liege die Struktur des Labyrinths zu Grunde. 8 Wilson rekurriert unter anderem auf Texte von Borges und Pynchon, die explizit das Konzept des Labyrinths verhandeln.

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Alice im Labyrinth

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Monika Schmitz-Emans von der Ruhr-Universität Bochum stellt an den Beginn ihres dreißigseitigen Beitrags über Lewis Carolls Alice-Bücher und seinen Roman Sylvie and Bruno (1889) in bündiger Form einige heuristische Überlegungen zur desorientierenden Natur des Labyrinths und zu den verschiedenen Labyrinthtypen – mit dem in diesem Kontext gemeinhin üblichen Verweis auf Umberto Ecos Unterteilung von Einweglabyrinth, Irrgarten und Rhizom (vgl. S. 138 f.). Ausgangspunkt ihrer Analyse ist die Beobachtung, dass Alice’ »Körper- und Raumerfahrungen« (S. 139) im Wunderland sowie im Spiegelland ›labyrinthisch‹ im Sinne von ›desorientierend‹ seien. Es handele sich in der Tat »um Modellgeschichten zum Thema Desorientierung« (S. 142).

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Versprechen Schmitz-Emans’ gut informierte Prolegomena zum Labyrinth eine Analyse, die die untersuchten Texte zwingend an die Labyrinthstruktur rückbindet, stellt sich enttäuschenderweise heraus, dass Schmitz-Emans in der Tat mit einem breiten Labyrinthverständnis arbeitet, das ins Beliebige ausufert. Sie unterscheidet etwa als »Labyrinthe erster Ordnung« (S. 152) die bei Carroll inszenierte Desorientierung und als »Labyrinthe zweiter Ordnung« die »denkend erschaffenen Labyrinthe […], mit denen konstruktiv auf eine als unüberschaubar, desorientierend und chaotisch erfahrene Welt reagiert wird« (S. 152). Denken, Schreiben, Lesen als Labyrinth – diese Denkfiguren funktionieren immer. In der literaturwissenschaftlichen Analyse machen sie jedoch nur Sinn, wenn eine literarische Figur beziehungsweise eine Erzählinstanz das Denken, Schreiben oder Lesen als ›labyrinthisch‹ beschreibt, oder der Text anderweitig explizit den Bezug zum Labyrinth aufmacht. Für Schmitz-Emans aber dient der Rekurs auf Labyrinthe zweiter Ordnung dem Brückenschlag zu einem Exkurs über Alice-›rewritings‹ und die Verwendung der Alice-Figur in (populär-) wissenschaftlichen Kontexten (vgl. S. 152 ff.). Die Dienstbarmachung der literarischen Figur Alice im naturwissenschaftlichen Diskurs mag ein durchaus interessantes Feld sein – der Zusammenhang mit dem Labyrinth ist beim besten Willen aber nicht mehr nachvollziehbar.

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Klarer wird der Labyrinthbezug in dem PC-Spiel American McGees Alice (2000), auf das Schmitz-Emans zum Ende ihres Beitrags eingeht (vgl. S. 166 ff.). In diesem Spiel bewegt sich ein Alice-Avatar durch die für Computerspiele prototypische Topographie (»labyrinthische, unüberschaubare, vor allem aber mobile imaginäre Räume«, S. 166) und trifft auf andere Carroll-Figuren. Allerdings bleibt einzuwenden, dass aus der Beschreibung des Spiels nicht zwingend hervorgeht, warum sich ausgerechnet Alice durch ein Labyrinth bewegt und nicht irgendeine andere Romanfigur der Literaturgeschichte. Alice’ Labyrinth ist in diesem Fall wohl weniger durch den Carroll’schen Prätext denn durch das Genre ›PC-Spiel‹ zu erklären. Nichtsdestotrotz ist diesem Beispiel zugute zu halten, dass es die ludische »Lust an desorientierenden Erfahrungen« (S. 166) veranschaulicht und die titelgebenden Konzepte ›Labyrinth‹ und ›Spiel‹ zusammenführt.

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Zum Vorwurf, Schmitz-Emans’ Labyrinthbegriff sei zu breit, sei abschließend erklärt: Zwar ist Alice’ Welt eine verwirrende, was Schmitz-Emans anhand der in den Texten inszenierten Identitätskrisen und Orientierungsverlusten in Raum und Zeit belegen kann, doch macht eine solche Verwirrung noch kein originäres Labyrinth aus. 9 Im Gegensatz zu den nachfolgend zu besprechenden Beiträgen von Buono, Janz und Schmeling weist Schmitz-Emans in ihren Primärtexten keine explizite Labyrinththematisierung nach. Da die Labyrinthstruktur jedoch äußerst implikationsreich ist, ist sie mit etwas Geschick auf eine Vielzahl von Themen und narrativen Verfahren metaphorisch übertragbar. Mit gutem Grund aber beschränkt sich etwa Wendy B. Faris in ihrer Studie zu den strukturellen und symbolischen Eigenschaften literarischer Labyrinthe ausdrücklich auf Texte, in denen das Labyrinth oder eine verwandte mythologische Referenz explizite Erwähnung findet. 10 Auch der polnische Literaturwissenschaftler Michal Glowinsky betont in einem umfangreichen Kapitel über Labyrinthe in seiner Studie Mythen in Verkleidung (2005), der labyrinthische Diskurs wolle die Thematisierung des Labyrinths, um als solcher erkannt zu werden. 11 Die literaturwissenschaftliche Labyrinthforschung sollte sich nach den Vorbildern von Faris, Glowinsky und anderen auf das Korpus jener Literatur beschränken, die das Labyrinth auf der story-Ebene verortet und bei der zu erwarten ist, dass der Text versucht, die strukturellen Eigenschaften des Labyrinths auf der discourse-Ebene abzubilden, bzw. vielleicht zusätzlich selbstreflexiv über das Labyrinth spricht.

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Labyrinthisches in Enzensbergers Mausoleum
und Benjamins Passagen-Werk

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Franco Buono von der Universität Bari in Italien setzt sich in seinem Beitrag mit Hans Magnus Enzensbergers Mausoleum. 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts (1975) und mit Walter Benjamins Passagen-Werk (1983, posthum) auseinander. Als tertium comparationis zieht Buono Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen« (1941) heran. In dieser Geschichte zieht sich die Figur Ts’ui Pen zurück, um ein Labyrinth zu schaffen und ein Buch zu schreiben, doch schließlich stellt sich heraus, dass es sich bei dem Labyrinth und dem Buch um denselben Gegenstand handelt. Ebenso verhalte es sich mit Enzensbergers Mausoleum und Benjamins Passagen-Werk, erklärt Buono, und untersucht die beiden Werke im Folgenden auf ihre ›Labyrinthizität‹ (vgl. S. 170). In der Tat erkennt Buono in den beiden Texten nicht nur Labyrinthisches auf der Diskursebene, sondern macht auch explizite Labyrinththematisierungen aus. So wird in Mausoleum ein Bezug zwischen einem Labyrinth und dem Bewusstsein des Lesers hergestellt (vgl. S. 173) und im Passagen-Werk das Pariser Métro-System als Labyrinth beschrieben (vgl. S. 176). Nach der vergleichenden Lektüre der beiden Texte erlaubt sich Buono augenzwinkernd, ›biographische‹ Parallelen zu ziehen zwischen dem fiktiven Ts’ui Pen und dem realen Walter Benjamin, was ihm durchaus überzeugend gelingt.

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Bedauernswert an Buonos ansonsten interessantem Beitrag ist, dass er sich auf keinen einzigen Sekundärtext aus der literaturwissenschaftlichen Labyrinthforschung bezieht. Es gibt in der internationalen Literaturwissenschaft zugegeben eine Fülle von Aufsätzen zu Labyrinthen in der Literatur – oder oft nur zu irgendwie gearteten ›labyrinthischen‹ Strukturen in Texten, ohne dass Labyrinthe auf der thematischen Ebene eine Rolle spielen würden. 12 Es gibt aber auch jene einschlägige Fachliteratur (in Deutschland haben Schmeling 13 und in den USA Faris 14 Maßstäbe gesetzt), welche das von Buono in den Blick genommene »labyrinthische Wesen« (S. 172) von literarischen Texten, die über Labyrinthe sprechen, untersucht. Diese literaturwissenschaftliche Labyrinthforschung konzentriert sich, wie bereits ausgeführt, auf jene Texte, in denen das Labyrinth sowohl auf der Struktur- als auch auf der Handlungsebene eine Rolle spielt. So schreibt Schmeling über diese Literatur: »Das erzählte Labyrinth spiegelt das labyrinthische Erzählen und vice versa.« 15 Entsprechend äußert sich auch Faris: »The labyrinths of the novels match the labyrinths in the novels.« 16 In Buonos Primärtexten erfahren Labyrinthe sowohl eine explizite Thematisierung als auch eine strukturelle Umsetzung, so dass Schmelings und Faris’ Vorarbeiten für ihn ein wichtiger Bezugspunkt gewesen wären. Wenn sich Wissenschaftler wie Schmeling, Faris und andere die Mühe machen, über die Attribute literarischer Labyrinthe nachzudenken und terminologische Klärungen zu erarbeiten, sollte die Anschlussfähigkeit ihrer Arbeiten auch genutzt werden.

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Ein kleiner Mangel mit Blick auf die implizite interdisziplinäre Leserschaft des Bands ist, dass Buono nicht die Erscheinungsjahre seiner Primärtexte angibt (zugegeben ist dies bei Benjamins fragmentarischem Passagenwerk schwierig) – es ist von Kunsthistorikern oder Filmexperten schlicht nicht zu erwarten, dass sie wissen, wann die Texte von Enzensberger und Benjamin erschienen sind, seien es auch kanonisierte Autoren. Dass Buono Borges indes im 19. Jahrhundert verortet (vgl. S. 170), sei ihm als Italiener verziehen (denkt man in der italienischen Sprache die Epochen doch andersherum), nicht jedoch dem Lektorat.

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Der Minotaurus und literarische Labyrinthe
bei Robert Walser und Friedrich Dürrenmatt

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Rolf-Peter Janz nimmt ein close reading von Robert Walsers Minotauros (1926) und Friedrich Dürrenmatts Minotaurus (1985) vor. Walsers Text thematisiert sich selbst als »Gewirr« (S. 182) und als »Labyrinth« (S. 183) und entwirft somit metanarrativ sein eigenes poetisches Programm. Mit Blick auf Dürrenmatts Ballade beobachtet Janz dasselbe Phänomen: »Und doch redet diese Erzählung nicht nur vom Labyrinth, sie präsentiert sich dem Leser demonstrativ bereits seit dem ersten Satz in labyrinthischen Strukturen« (S. 190). Moderne Literatur lässt sich Janz zufolge gern vom Labyrinth-Narrativ informieren, »weil sie in ihm die Unübersichtlichkeit, die Unentwirrbarkeit gegenwärtiger Lebensverhältnisse und das Schwanken des Subjekts zwischen Desorientierung und Orientierung vorgezeichnet finden kann« (S. 188). Um die Attraktivität des Labyrinth-Mythos für die Literatur des 20. Jahrhunderts zu erklären, argumentiert Janz außerdem mit Hans Blumenbergs Erkenntnis, Mythen seien mehrdeutig und darin liege der Reiz, sie fortzuschreiben. Janz’ Behauptung, der Labyrinth-Mythos sei zweideutig, bleibt dabei etwas vage und hätte näherer Ausführungen bedurft (vgl. S. 188). Etwas zu sehr für die Zielsetzung des Bandes herbeibemüht erscheint das Moment des Spiels, das Janz bei Walser in den Wiederholungen im Text sowie in der Wegsuche des Lesers durch den Text erkennt (vgl. S. 188) – ist nicht jeder noch so sanft avantgardistische Text ein Spiel mit Sprache?

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Mit Blick auf die Darstellung des Minotaurus bei Walser und Dürrenmatt unternimmt Janz interessante Überlegungen zu den ›Korrekturen‹ (vgl. S. 192) des Mythos beziehungsweise zu seinen Aktualisierungen. Bei beiden Autoren verliert das Monster das Monströse, wobei Dürrenmatt es sogar zur Fokalisierungsinstanz macht (vgl. S. 189). In der Vermittlung der Innensicht des Minotaurus erkennt die Rezensentin eine bemerkenswerte Parallele zu Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte La casa de Asterión (1949). Auch Harrison Birtwistles eingangs erwähnte Oper The Minotaur (2008) zeichnet den Minotaurus mit Empathie und verleiht ihm das Wort, so dass sich die Frage aufdrängt, wie viel im 20. und 21. Jahrhundert noch von der Bestie im Zwitterwesen ›halb Mensch, halb Stier‹ steckt. Janz beschließt seinen Aufsatz mit einem Ausblick auf Dürrenmatts humorvolle Erzählung Der Winterkrieg in Tibet (1981).

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Postmodernes Spiel mit dem strukturellen
und ästhetischen Potential des Labyrinths

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Manfred Schmeling, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes, untersucht in seinem Beitrag die Verbindung von Labyrinth und Spiel im postmodernen Roman. Mit Undine Gruenters Roman Das Versteck des Minotaurus (2001) analysiert Schmeling im vorliegenden Band einen Text, der facettenreich mit den vielfältigen Möglichkeiten spielt, mit denen der Labyrinthmythos in einer heutigen Adaption narrativ verarbeitet werden kann. Thematisch scheint das Labyrinth bei Gruenter in der Topologie der Stadt Paris auf, sowie in dem zentralen Ort der Handlung, einem labyrinthischen Gebäudekomplex. Ebenfalls auf der thematischen Ebene befinden sich die im Roman intradiegetisch vermittelten Miniatur-Texte, wie etwa »Miniatur der Begierden, Minotauren im Labyrinth« sowie die

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Anspielungen […] auf die Taten der einzelnen mythologischen Gestalten, die den Protagonisten wie Schatten aus einer mythischen Vorzeit bzw. wie Figuren des Archetypischen und Unbewußten zur Seite stehen: Minos, Pasiphae, Minotaurus, Daidalos, Ariadne, Theseus, Dionysos etc. (S. 258).
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Auf der erzähltechnischen Ebene weist Schmeling die »kombinatorisch-fragmentarische Gesamtstrategie des Erzählens« (S. 258) in Gruenters Text den strukturellen Eigenschaften des Labyrinths zu. Die Verknüpfung des Labyrinths mit dem Spiel erkennt Schmeling bei Gruenter in den surrealen Miniaturtexten sowie im Spiel mit Signifikanten, Bedeutungen und symbolischen Formen (vgl. S. 262 f.).

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Neben die ausführliche Lektüre von Gruenters Versteck des Minotaurus stellt Schmeling kurze Erläuterungen zu den Romanen Die dritte Rochade des Bernhard Foy (1986) von Lars Gustafsson und Felix Philipp Ingolds Letzte Liebe (1987). Neben der Labyrinththematik haben die drei Texte gemein, dass sie »intellektualistisch und hochgradig reflexiv« (S. 261) sind. Ihre theoretische Informiertheit verwundert kaum, haben doch alle drei Autoren Literaturwissenschaft und Philosophie studiert. Dies führt zu dem amüsanten hermeneutischen Kurzschluss, dass Schmeling meint, Gruenter neben ihren intertextuellen Referenzen, u. a. auf Jorge Luis Borges und Umberto Eco, auch die Lektüre seiner eigenen Studie Der Labyrinthische Diskurs (1987) nachweisen zu können (vgl. S. 261). Es muss für Schmeling wie eine mise en abyme gewirkt haben: Der Literaturwissenschaftler stößt in dem Roman, den er analysiert, auf seinen eigenen wissenschaftlichen Text (mithin baut Schmelings Beitrag im vorliegenden Sammelband auf seiner 1987 veröffentlichten Monographie über literarische Labyrinthe auf).

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Schmeling gelangt in seinem Beitrag zu der Synthese, dass heute das »strukturelle, ästhetische Potential des Labyrinthischen […] vielleicht noch mehr – oder wieder neu – ausgeschöpft« werde und sich im postmodernen Roman »die Labyrinth-Erfahrung noch spektakulärer als in der klassischen Moderne zur ästhetischen Erfahrung, zum Spiel mit der Zeichen-Qualität sprachlicher oder künstlerischer Konstruktionen und somit auch des Labyrinth-Zeichens selbst« (S. 266) verdichte.

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Mit Scheuklappen durchs Forschungsfeld

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Hauptkritikpunkt am vorliegenden Band ist die umfassende Vernachlässigung wichtiger Aufsätze und Studien sowohl zu Labyrinthen – und vor allem Labyrinthen in der Literatur – als auch zum Konzept des Spiels. Wird Studenten in Einführungskursen gepredigt, bei einer Seminararbeit sei zu einem eng gewählten Thema die hierzu vorhandene Sekundärliteratur möglichst vollständig aufzuarbeiten, so sollte man meinen, dass auch ›richtige‹ Wissenschaftler ihre neuen Erkenntnisse mit Bezug auf den aktuellen Forschungsstand zu formulieren hätten. Wenn die Beiträge zum Band in der Hauptsache lediglich auf Schmelings und Schmitz-Emans’ 17 vorgängige Publikationen rekurrieren (wenn überhaupt), wobei Schmeling und Schmitz-Emans im Band mit von der Partie sind, ist das wissenschaftliche System zu klein und zu selbstreproduktiv. Besonders auffallend ist das Ausklammern des angloamerikanischen Raums aus dem Forschungsbewusstsein der Autoren. Neben den bereits erwähnten Studien von Wilson, Faris und Miller haben sich vor bereits dreißig Jahren Philip West 18 und vor einem Vierteljahrhundert Angus Fletcher 19 literaturwissenschaftlich mit dem Labyrinth befasst. Vielleicht etwas zu spät für den vorliegenden Band kam 2005 die Übersetzung der ebenfalls erwähnten polnischen Studie von Michal Glowinsky auf den deutschen Markt. 20

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Vor allem mit Blick auf die divergenten Auffassungen, was unter einem ›Labyrinth‹ verstanden wird, hätten die einzelnen Autoren außerdem konkretere Arbeitsdefinitionen liefern müssen, welche Phänomene mit Blick auf ihren Gegenstand unter den Begriff des Labyrinths zu fassen sind. Schmelings Labyrinthverständnis wird gut deutlich, aber die recht weit gefassten und impliziten Labyrinthkonzepte bei Buono und Schmitz-Emans bleiben zu diffus.

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Und schließlich ist zu bedauern, dass der Leser eine Bibliographie am Ende des Bands als auch am Ende der einzelnen Beiträge vergeblich sucht – er muss sich die für ihn relevanten Literaturverweise aus den Fußnoten zusammensuchen. Ebenso hätte ein Index zur Leserfreundlichkeit beigetragen. Findet der Band nicht ausreichend Anschluss an vorangehende einschlägige Publikationen, nimmt er seinerseits nicht auf anschlusswillige Forscher Rücksicht – und die gibt es durchaus, wie jüngere und weiterhin stattfindende literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen zur Labyrinththematik bezeugen mögen. 21

 
 

Anmerkungen

Wendy B. Faris: Labyrinths of language. Symbolic landscape and narrative design in modern fiction. Baltimore 1988, S. 11.   zurück
Vgl. André Peyronie: Labyrinthe. In: Pierre Brunel (Hg.): Dictionnaire des Mythes Littéraires. Paris 1988, S. 884–920, hier S. 884. Vgl. auch Hans Richard Brittnacher und Rolf-PeterJanz: Einleitung. In: Labyrinth und Spiel, S. 8 und 10.   zurück
Horst S. Daemmrich / Ingrid G. Daemmrich: Labyrinth. In: H.S.D. und I.G.D. (Hg.): Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2., überarb. und erw. Aufl. Tübingen (UTB für Wissenschaft Uni-Taschenbücher, 8034), 237–238, hier 237.   zurück
Horst S. Daemmrich / Ingrid G. Daemmrich (Anm. 3), S. 237 f.   zurück
Eine löbliche Ausnahme bildet der Beitrag von Matthias Hennig – es mag daran liegen dass sich Hennig in seiner Doktorarbeit mit dem Labyrinth beschäftigt (vgl. S. 233–251).   zurück
R. Rawdon Wilson: Chapter 4: The Archetype of Bamboozlement. Godgames and Labyrinths. In: In Palamedes’ Shadow. Explorations in Play, Game & Narrative Theory. Boston 1990, S. 105–166.   zurück
Wilson definiert das godgame wie folgt: »A godgame signifies a gamelike situation in which a magister ludi knows the rules (because he has invented them) and the character-player does not. A godgame occurs in literature when one or more characters creates an illusion, a mazelike sequence of false accounts, that entraps other characters. The entrapped character becomes entangled in the threads of (from his point of view) an incomprehensible strategy plotted by another character who displays the roles of both a gamewright and a god«, R. Rawdon Wilson (Anm. 5), S. 123–124. Weiterhin betont Wilson: »Every godgame is a kind of labyrinth«, R. Rawdon Wilson (Anm. 5), S. 143.   zurück
Vgl. R. Rawdon Wilson (Anm. 5), S. 22.   zurück
Matthias Hennig hingegen problematisiert in seinem Beitrag die pauschale Verwendung des Labyrinthbegriffs als »Kennwort für alles Überkomplexe und Undurchschaubare« (S. 238, vgl. auch S. 241).   zurück
10 
Wendy B. Faris (Anm. 1), S. 12.   zurück
11 
Michal Glowinsky: Mythen in Verkleidung. Dionysos, Narziß, Prometheus, Marcholt, Labyrinth. Frankfurt / M. 2005, S. 255.   zurück
12 
Ein Beispiel für eine recht frei assozierte Engführung von Labyrinthen und Literatur ist ein Aufsatz von J. Hillis Miller, der zwar auch die thematische Verarbeitung von Labyrinthen in literarischen Texten streift, aber in erster Linie die literaturkritische Metasprache reflektieren und als ›labyrinthisch‹ beschreiben will (»the labyrinth of narrative terms«, Miller S. 72). Das Bild des Ariadnefadens, welcher das Labyrinth quasi nachzeichnet, dient Miller schließlich zur Veranschaulichung von Linearität, gebrochener Kontinuität und Repetition im literarischen Text. Vgl. J. Hillis Miller: Ariadne’s Thread: Repetition and the Narrative Line. In: Critical Inquiry 3/1 (1976), S. 57–77.   zurück
13 
Manfred Schmeling: Der labyrinthische Diskurs: Vom Mythos zum Erzählmodell. Frankfurt / M. 1987.   zurück
14 
Wendy B. Faris (Anm. 1).   zurück
15 
Manfred Schmeling: Der Erzähler im Labyrinth. Mythos, Moderne und Intertextualität. In: Evangelos Konstantinou (Hg.): Europäischer Philhellenismus. Frankfurt / M. 1995 (Philhellenische Studien 4), S. 251–269, Zitat S. 256.   zurück
16 
Wendy B. Faris (Anm. 1), S. 11.   zurück
17 
Monika Schmitz-Emans ist Mitherausgeberin eines Sammelbands über Labyrinthe: Kurt Röttgers / Monika Schmitz-Emans (Hg): Labyrinthe: Philosophische und literarische Modelle. Unter Mitarbeit von Uwe Lindemann. Essen 2000 (Philosophisch-literarische Reflexionen 2).   zurück
18 
Philip West: The Redundant Labyrinth. In: Salmagundi 46 (1979), S. 56–83.   zurück
19 
Angus Fletcher: The Image of Lost Direction. In: Eleanor Cook et al. (Hg.): Centre and Labyrinth: Essays in Honour of Northrop Frye. Toronto, Buffalo, London 1983, S. 329–346.   zurück
20 
Michal Glowinsky (Anm. 9).   zurück
21 
Vergleiche die kürzlich erschienene Dissertation von Anja K. Johannsen: Kisten Krypten Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld 2008 und einen Aufsatz der Rezensentin Melina Gehring: Vladimir Nabokovs Lolita als Rhizomlabyrinth. In: Anglia, 122/3 (2004), S. 388–403.   zurück