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Methodologie

  • Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodologische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. (Historia Hermeneutica. Series Studia 5) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2007. VII, 557 S. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 978-3-11-019272-8.
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Gegenstand und Ziel

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Carlos Spoerhase hat ein fundamentales Buch vorgelegt. Es handelt sich um eine Studie zur Analytischen Philosophie der textinterpretierenden Disziplinen, sie betrifft nicht allein die Literaturwissenschaft, sondern z.B. auch die Philosophie, die Theologie, die Geschichtswissenschaft und die Rechtswissenschaft. Spoerhase selbst bezeichnet seine Studie als einen Beitrag zu dem Projekt einer weiteren Systematisierung und Ausdifferenzierung der philologischen Interpretationsmethodologie, die anhand einer Untersuchung des Autorbegriffes den kategorialen Voraussetzungsreichtum der philologischen Auslegungspraxis erweisen solle (S. 6). Ausgangspunkt wie Endpunkt der Studie sind literaturwissenschaftliche Zusammenhänge – nämlich die Autorschaftsdebatte in der Literaturwissenschaft dort und Fragen der Interpretation literarischer Texte oder Sachverhalte hier.

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Die Verknüpfung von Autorschaftsdebatte und Interpretationsproblem steht deshalb im Zentrum des Buches, weil Spoerhase vermutet, dass hinter der Problematisierung des Autors vielfach die Problematisierung der Interpretation von Texten überhaupt stehe. Ausgehend von dieser Annahme, konzentriert sich Spoerhase weiter auf zwei hermeneutische Phänomene,

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die als Minimalfunktionen philologischer Autorschaft gelten können. Der Rückgriff auf den Autor erweist sich dort als notwendig, wo erstens die Historizität und zweitens die Normenkonformität literarischer Artefakte im hermeneutischen Prozess eine Rolle spielen. (S. 6)
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Die Analyse dieser beiden Phänomene mache deutlich, dass die literaturwissenschaftliche Methodologie »stark« von dem bislang angehäuften methodologischen Wissen in anderen Disziplinen profitieren könne. Dabei wird der Aspekt der Historizität anhand der Analyse des sogenannten hermeneutischen Anachronismus untersucht. Den zweiten Aspekt, dass nämlich eine Interpretation literarischer Artefakte auf die Normenkonformität des Artefaktes Bezug nehme und dieser Bezug immer einen Rückgriff auf Autorschaft impliziere, untersucht Spoerhase am Problem der hermeneutischen Billigkeit. Das Ergebnis seiner Untersuchungen ist,

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dass Autorschaft erstens eine maßgebliche Funktion bei der Vermeidung und dem Ausschluss von anachronistischen Interpretationen hat. Die Autorkategorie dient hier der raumzeitlichen Fixierung der Bedeutungskonstitution und der Ausgrenzung historisch unplausibler Interpretationen; die Bezugnahme auf den empirischen Texturheber dient der historischen Fixierung eines Textes. Hier ließe sich von einer historisierenden Funktion von Autorschaft sprechen. Autorschaft hat zweitens dort eine maßgebliche Funktion, wo die Normkonformität von hermeneutischen Artefakten thematisiert wird, wie etwa überall dort, wo im Interpretationsvorgang auf Prinzipien hermeneutischer Billigkeit rekurriert wird. Wie sich im Rahmen der Untersuchung herausstellt, ist das Phänomen der Normativität der Interpretation, das immer auch einen Rückgriff auf Autorschaft impliziert, viel weiter verbreitet als gemeinhin angenommen wird und erstreckt sich bis hin zur Interpretation metaphorischer oder ironischer Rede. (S. 7)
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Aufbau und Inhalt

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Spoerhases Studie umfasst zwei große Teile (S. 11–228 sowie S. 229–438), einen »Ausblick« und ein umfangreiches, über einhundert Seiten dickes Literaturverzeichnis. Der erste Hauptteil mit dem Titel »Autorschaft und hermeneutischer Präsentismus« bietet vier Kapitel. Zunächst behandelt Spoerhase den (1) »›Tod‹ des Autors und seine ›Rückkehr‹ als Autorfunktion«, im zweiten Unterkapitel folgt (2) eine Untersuchung des »Hermeneutischen Intentionalismus«, drittens (3) eine Darstellung des »Hermeneutischen Präsentismus«, und im vierten Unterkapitel bietet Spoerhase (4) einige sogenannte »Problemszenarien«.

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Der zweite Hauptteil mit dem Titel »Autorschaft und hermeneutische Billigkeit« umfasst ebenfalls vier Unterkapitel, und zwar eines (5), das »Philologische Szenarien« behandelt, eines, das (6) »Theoretische Reflexionen« anbietet, ein weiteres, das (7) eine »Kritik des Billigkeitsprinzips« vorträgt, sowie ein letztes (8), das »Philologische Billigkeitsprinzipien« darstellt.

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Die Unterkapitel bieten eine Fülle von Referaten und Rekonstruktionen, aber auch wertvolle selbständige Argumente und interessante bzw. weiterführende Beobachtungen. Im ersten Unterkapitel rekonstruiert Spoerhase zunächst das Autorkonzept bei Roland Barthes und das metaphorische Theorem vom ›Tod des Autors‹. Unter anderem stellt Spoerhase dabei heraus, dass Barthes’ dezidiertes Ausblenden des Autors bereits in dem Essayband »Sur Racine« 1 eine Konsequenz einer »präsentistischen Interpretationsstrategie« sei:

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Der Interpretation gehe es nicht darum, die Historizität des ästhetischen Artefakts herauszuarbeiten, sondern darum, das ästhetische Artefakt anachronistisch als Ausdruck der Ideen und Leidenschaften der Gegenwart verständlich zu machen. (S. 28)
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Spoerhase zeichnet von hier aus die weitere Entwicklung der Argumentation bei Barthes nach. Es wird dabei ausführlich Barthes’ in »La mort de l’auteur« 2 vertretene Auffassung von der Interpretationssystembezogenheit der Interpretation diskutiert, die darauf hinauslaufe, dass die Interpretation literarischer Artefakte grundsätzlich auf bestimmte epistemische Systeme (wie Psychologie, Psychoanalyse, Marxismus, Existenzialismus oder Phänomenologie) rekurriere und dass die Wahl eines dieser Wissenssysteme eine lediglich ›dogmatisch entscheidbare‹ Frage sei (S. 30). Die hiermit zusammenhängende Auffassung, dass die literaturwissenschaftliche Interpretation als die möglichst umfassende Applikation eines kohärenten Wissenssystems auf einen Interpretationsgegenstand konzipiert werden müsse, werde von Barthes Ende der sechziger Jahre modifiziert:

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Nun soll der Interpret nicht mehr eines der gegenwärtig verfügbaren Wissenssysteme so umfassend wie möglich auf den Interpretationsgegenstand applizieren, sondern alle. (S. 32)
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Dadurch aber werde der Interpretationsgegenstand selbst eine irreduzible semantische Pluralität, von einem externen Pluralismus der Interpretationsansätze bewegt sich Barthes also zu einem internen Pluralismus des Interpretationsgegenstandes. Dabei ist nicht ganz klar, ob es darum geht, das Vorliegen des ›Pluralen‹ im Text zu beweisen oder es als Leser allererst herzustellen. Spoerhase stellt bei Barthes Dichotomien fest, die zwischen der Differenzierung grundsätzlich verschiedener Textarten und der Differenzierung zweier unterschiedlicher hermeneutischer Strategien changierten. Es ziehe sich hier eine Unentschiedenheit durch die gesamten Dichotomien, die auch Konsequenzen für Barthes’ Autorbegriff habe:

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Je nachdem, welcher Aspekt von Barthes’ Ansatz betont wird, ist die Kritik am Autor entweder eine Kritik an bestimmten Werktypen oder an bestimmten Interpretationsstrategien; es handelt sich entweder um eine poetologische oder um eine hermeneutische Kritik. (S. 35)
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Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang Spoerhases Hinweis, dass die Frage »Qui parle ainsi?« 3 , mit der das Hauptthema von La mort de l’auteur einsetze, schon deshalb nicht beantwortet werden könne, »weil im literarischen Artefakt niemand spricht« (ebd.). Diese Einsicht hänge damit zusammen, dass Barthes das literarische Artefakt immer als Zeichensystem und nicht als Äußerungsakt konzipiere.

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Der Tod des Autors ist vor diesem Hintergrund nichts anderes als die Unterbrechung der Filiation von Autor und Artefakt, die sich unmittelbar daraus ergibt, dass das literarische Artefakt als Zeichensystem konzipiert wird.[…] Das literarische Kunstwerk ist ein historisch vollkommen dekontextualisiertes Artefakt […. Dem] Mangel an situativer Einbettung entspringe der für das literarische Artefakt charakteristische Sinnüberschuss. (S. 36 f.)
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Würde Barthes das literarische Artefakt als Äußerungsakt konzipieren, müsste er ihm auch eine Sprecherinstanz zuweisen, ein Zeichensystem hingegen benötigt eine solche Sprecherinstanz, einen Autor, eben nicht. Da nach Barthes eine Sprecherinstanz die historische Einbettung des literarischen Artefaktes gewährleiste, ergeben sich drei unerwünschte Konsequenzen für die Konzeption des literarischen Artefaktes:

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mit dem Autorbegriff werde erstens eine unidirektionale Explikationsrelation zwischen Welt und Werkentstehung installiert, er stifte zweitens eine den Einzeltext übergreifende werkmäßige Folgeordnung und führe drittens zu einer hermeneutischen Privilegierung der Autorintention. (S. 37)
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Textgenetische, werkkonstitutive und autorintentionale Aspekte des Autorbegriffes werden dann unter anderem von Foucault in Qu’est-ce qu’un auteur? 4 analysiert, weshalb sich Spoerhase in einem nächsten Schritt der Argumentation Foucaults zuwendet. Er zeigt bei seiner minutiösen Rekonstruktion noch einmal,

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dass eine entscheidende Einsicht Foucaults von allen theoretischen Transformationen unberührt bleibt: die Einsicht, dass die Autorfunktion in erster Linie eine Rezeptionskategorie ist. (S. 53)
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Insgesamt stellt Spoerhase heraus, dass der Aspekt des ›Verschwindens des Autors‹ in der bisherigen Rezeption von Qu’est-ce qu’un auteur? zu stark betont worden sei. Foucault selbst greife den ›Tod des Autors‹ als Topos auf und verweise darauf, dass es nicht genüge, diesen Topos zu perpetuieren. Foucault beantwortet die Frage »Was liegt daran, wer spricht?« allerdings positiv.

[23] 
Nur dass es nicht die ephemere Individualität des Subjekts ist, an der etwas liegt (›Egal, wer spricht‹), sondern der Ort innerhalb des Diskurses, von dem aus das Subjekt sich äußert (›es ist nicht egal, von wo aus er spricht‹). (S. 55)
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Im anschließenden zweiten Unterkapitel (»Hermeneutischer Intentionalismus«) wendet sich Spoerhase zunächst der Debatte über autorintentionale Interpretationskonzeptionen zu. Er skizziert kurz, welche institutionenpolitischen und legitimatorischen Funktionen das Konzept der Autorintention hat und dass Barthes’ Auffassung vom ›Tod‹ des Autors aus dieser Perspektive als Gefahr aufgefasst wurde. Spoerhase erstellt sodann einen Katalog der Probleme, die in der Debatte über Autorintentionalität eine Rolle spielen – von der Frage »(1) Spielen Intentionen für eine Bedeutungstheorie eine Rolle?« über die Frage »(5) Gibt es einen genuin literarischen Bedeutungstyp, der keiner intentionalen Rekonstruktion bedarf?« bis zu der Frage »(15) Welche Rolle spielen hermeneutische Kontexte, die mittels eines (gegebenenfalls impliziten) Bezuges auf die Autorintention hergestellt werden?« (S. 64 f.).

[25] 

In einer vorgreifenden Taxonomie fasst Spoerhase schließlich die (vornehmlich im Kontext angloamerikanischer Philosophie geführte) Debatte über die Autorintention folgendermaßen zusammen:

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Der (I) Anti-Intentionalismus unterteilt sich in (1) konventionalistische und (2) wertmaximierende Spielarten; der (II) Intentionalismus unterteilt sich in einen (1) faktischen Intentionalismus (»actual intentionalism«), und in einen hypothetischen Intentionalismus (»hypothetical intentionalism«), der entweder (a) konjektural oder (b) fiktional sein kann. (S. 67)
[27] 

Die Unterscheidungen werden im Verlauf der weiteren Ausführungen verdeutlicht. Zunächst wendet sich Spoerhase jedoch »Methodologischen Einwänden gegen den Intentionalismus« zu. Er setzt sich dabei insbesondere mit Wimsatts und Beardsleys Argumenten zum intentionalen Fehlschluss auseinander und erkennt hierin eine klare Präferenz für eine »intrinsische Literaturbetrachtung« (S. 74), die sich aus dem Imperativ einer Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaften ergebe.

[28] 
Laut Wimsatt und Beardsley bieten Informationen über den Autor und seine Intentionen keine Rechtfertigungsgrundlage für die Bestätigung oder Widerlegung einer hermeneutischen Hypothese. Die Begründung einer Bedeutungszuschreibung darf nur auf Textbelege zurückgreifen, die dem Interpretationsgegenstand entnommen werden können. Die Grundtendenz des Arguments gegen den intentionalen Fehlschluss zielt deshalb auf eine Beschränkung der hermeneutischen Belegquellen. Unzulässige Belegquellen sind unter anderem textgenetische Kontexte, biographische Kontexte, metatextuelle Kontexte oder Oeuvre-Kontexte. Der Rückgriff auf Autorintentionen oder andere Autorinformationen hat keinen Platz in einer Logik hermeneutischer Rechtfertigung. (S. 79)
[29] 

Im Anschluss an die Beschäftigung mit (1) methodologischen Einwänden gegen autorintentionale Interpretationskonzepte befasst sich Spoerhase mit (2) epistemologischen Einwänden gegen den Intentionalismus. Sie laufen darauf hinaus, dass sich die Autorintention nicht oder nicht mit der nötigen Gewissheit bestimmen lasse. Einen wichtigen Beleg für diese Position findet Spoerhase in der dekonstruktiven Literaturtheorie, insbesondere in der Theorie der Lektüre bei de Man und anderen.

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Schließlich befasst sich Spoerhase mit (3) ästhetischen Einwänden gegen den Intentionalismus, bevor er sich an die »Rekonstruktion des faktischen Intentionalismus« macht:

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Laut der Position des faktischen Intentionalismus ist die Bedeutung eines Textes diejenige, die der Autor bei der Niederlegung des Werks intendierte – dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es dem Autor tatsächlich gelungen ist, die intendierte Bedeutung im Werk gemäß den einschlägigen Sprachkonventionen zu realisieren. (S. 106)
[32] 

Den faktischen Intentionalismus rekonstruiert Spoerhase vor allem am Beispiel der hermeneutischen Position E. D. Hirschs. Hirschs Weg einer »responsible interpretation«, die eine Reduktion der Textbedeutung auf die ›historistische‹ Intention der Textautoren für ebenso unhaltbar hält wie eine generelle Zurückweisung einer autorintentionalen Konzeptionalisierung, führt allerdings über die Feststellung, dass diejenigen anachronistischen Zuschreibungen zulässig seien, die sich den Intentionen des Textautors zuordnen lassen (S. 116). Jedoch zeige sich dabei,

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dass sich historisierende und aktualisierende Interpretationsstrategien nicht synthetisieren lassen. Der Konflikt zwischen beiden Strategien wird letztlich zugunsten der aktualisierenden, historisch-philologischen Rationalitätskriterien widerstreitenden Strategie aufgelöst. (S. 123.)
[34] 

Spoerhases Rekonstruktion führt ihn sodann zur Position eines »hypothetischen Intentionalismus« (S. 123 ff.). Dieser grenze sich von einem faktischen Intentionalismus in erster Linie dadurch ab, dass er die tatsächlichen Intentionen des Autors für irrelevant halte. Vielmehr sei der Interpret hierbei angehalten, hypothetische Autorintentionen zuzuschreiben.

[35] 

Die Kernannahme des hypothetischen Intentionalismus im Unterschied zum faktischen Intentionalismus sei es, dass eine intentionalistische Position relativ unabhängig von einer genetischen konzipiert werden könne. Ein Problem besteht dabei jedoch in der Uneinigkeit darüber, was genau ›hypothetische Intentionen‹ sein sollen. Spoerhase zeichnet unterschiedliche Auffassungen in dieser Debatte nach (bei Nehamas, Levinson, Tolhurst und anderen), zu den wichtigsten Unterscheidungen zählt hierbei diejenige zwischen fiktionalen und einen konjekturalen hypothetischen Intentionalismus.

[36] 
›Hypothetisch‹ bezieht sich im Fall des konjekturalen Intentionalismus auf den epistemischen Status der Interpretationszuschreibungen (es handelt sich bei den Zuschreibungen um Mutmaßungen). Im Fall des fiktionalen Intentionalismus bezieht sich ›hypothetisch‹ dagegen auf die Kontrafaktizität der Zuschreibungsinstanz. (S. 133).
[37] 

Der konjekturale Intentionalismus sei grundsätzlich mit einer Orientierung an der faktischen Autorintention vereinbar, der fiktionale Intentionalismus jedoch nicht. Denn ›der‹ fiktionale Intentionalismus konstruiere zu den Bedeutungszuschreibungen, die sich aufgrund der einschlägigen Rationalitätskriterien als die am besten begründeten herausstellen, nachträglich noch eine hypothetische Autorfigur hinzu, die diese Bedeutung intendiert haben solle. Die Autorintention ist dabei letztendlich nichts anderes als die wahrscheinlichste Textbedeutung. Daran knüpfen sich zwei Probleme. Erstens sei alle Intention des fiktiven Autors damit per se erfolgreich, zweitens werde ein Autorkonstrukt vorausgesetzt, das alle Eigenschaften des Interpretationsgegenstandes, so wie es sich vom Standpunkt des Interpreten aus darstelle, auch intendiert habe (S. 136).

[38] 

Intentionalistischen Positionen stehen anti-intentionalistische Positionen gegenüber, unter denen die Position eines wertmaximierenden Anti-Intentionalismus eine in der aktuellen Theoriedebatte hoch gehandelte hermeneutische Konzeption sei. Hierbei werde die Ästhetik durch Maximierungsannahmen und daraus abgeleitete Maximierungsstrategien zur Anleiterin des Interpretationsvorganges, die Maximierung vorausgesetzter ästhetischer Eigenschaften werde zum Kriterium für den richtigen Interpretationsweg. Die literaturwissenschaftliche Interpretation habe dabei Perspektiven auf das Artefakt zu eröffnen, die den Wert des Artefaktes enthüllen und seinen Anspruch auf Aufmerksamkeit einlösen. Es geht also um die literaturwissenschaftliche Gewährleistung ästhetischer Güte im Prozess der Interpretation (S. 146).

[39] 

Die Intentionalismusdebatte in der Literaturwissenschaft drehe sich immer auch um die Frage, ob präsentistische Interpretationen legitim seien oder nicht. Spoerhase wendet sich daher in seinem dritten Unterkapitel dem »Hermeneutischen Präsentismus« zu und rückt insbesondere das Problem des Anachronismus in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Dieses Problem sei in den vergangenen fünfzig Jahren am intensivsten in der anglophonen Ideengeschichte und in der anglophonen Wissenschaftsgeschichte diskutiert worden. In Auseinandersetzung mit diesem Diskussionszusammenhang entwickelt Spoerhase eine eigene Definition von ›Anachronismus‹. Sie lautet:

[40] 
In Komplexen Darstellungen eines historischen Zusammenhangs Z, für den ein Zeitindex t wesentlich ist, finden sich einzelne Elemente E, die für einen anderen, späteren Zusammenhang Zt+n oder zeitlich früheren Zusammenhang Zt-n in der Weise charakteristisch sind, dass sie (nach einem als gegeben angenommenen Wissen), für Zt noch nicht oder nicht mehr angesetzt werden können. (S. 184)
[41] 

Vor diesem Hintergrund lasse sich der Präsentismus als ein Spezialfall eines progressiven Anachronismus bestimmen. Im Anschluss hieran und zum Abschluss des ersten Teiles seines Buches unterscheidet Spoerhase unterschiedliche, aber miteinander koordinierte »Problemszenarien«, in denen sich die Fragen nach dem Präsentismus, nach legitimen Formen des Anachronismus und nach dem Verhältnis von Autorschaft und Anachronismus stellen. Dieser Abschnitt (S. 188–225) gerät gelegentlich etwas breit nacherzählend, führt aber doch zu dem Ergebnis, dass insbesondere der hypothetische Intentionalismus gegenwärtig als die plausibelste Formulierung eines hermeneutischen Intentionalismus gelten könne. Dieser und der ihm beigeordnete Bedeutungsbegriff des ›utterance meaning‹ werde in Interpretationen bereits als entproblematisiertes Wissen verwendet.

[42] 

›Utterance meaning‹ müsse als das bestimmt werden, was ein Interpret ausgehend von einem Interpretationsobjekt dem Autor als rationalste Sprecherintention zuschreiben könne.

[43] 
Offenbar ist den bisherigen Rezipienten der Debatte entgangen, dass dieses Konzept des utterance meaning und die Interpretationskonzeption des hypothetischen Intentionalismus nichts anderes als eine verallgemeinernde Reformulierung des hermeneutischen principle of charity im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Hermeneutik sind.[…] Ebensowenig wurde bisher wahrgenommen, dass auch der wertmaximierende Anti-Intentionalismus letztlich als eine Spielart des ›principle of charity‹ rekonstruiert werden muss. (S. 229)
[44] 

Spoerhase setzt hier im zweiten Teil seines Buches an und skizziert in Unterkapitel 5 »Philologische Szenarien«. Die Darstellung in diesem Teil gerät allerdings etwas ins Schlingern. Spoerhase möchte bei philologischen Problemstellungen, in denen das principle of charity eine Rolle spielt, ansetzen. Dabei »soll zunächst ein intuitives Verständnis der Problemlage erworben werden« (S. 233), wie Spoerhase etwas unter seinem eigenen Niveau erläutert. »Zuvor« müsse jedoch das »Diskussionsfeld zum Begriff hermeneutischer Billigkeit« (S. 234) grob umrissen werden. Zu Recht bezeichnet Spoerhase die »Diskussionssituation« als »unübersichtlich« (S. 242). Diese Unübersichtlichkeit spiegelt sich aber auch in dem Umstand wider, dass seine Darstellung des »Diskussionsfeldes« insbesondere in Fußnoten, also als leserunfreundliches ›Augenfutter‹, stattfindet, die sich im Extremfall (S. 238) bei einer einzigen Zeile Haupttext über die gesamte Seite erstrecken. Die Darstellung erreicht dann aber mit den angekündigten philologischen Problemfällen wieder ihr hohes Niveau. Es sind dies das ›Problem des unvollkommenen Textes‹ (greifbar z.B. im Spannungsverhältnis zwischen der Autorität der Heiligen Schrift und ihrem Mangel an rhetorisch-literarischen Vorzügen), das ›Problem der Bedeutungsübergänge‹ (bei Metapher und Ironie), das Problem der Vermischung von Hermeneutik und Sachkritik (»das kann der Autor unmöglich gemeint haben«, die Möglichkeit, dass auch Aristoteles einmal ein ›Nickerchen‹ gemacht hat), oder das Problem der ›Akkomodation‹ (Interpretation nach aktuellen Interessen und Maßstäben). Es zeigt sich hier:

[45] 
Das fundamentale hermeneutische Problem, auf das das Billigkeitsprinzip verweist, ist das einer Bestimmung der Rolle der Normativität für den Interpretationsvorgang: Inwieweit richten sich die Interpretationen von textuellen Artefakten an normativ imprägnierten Interpretationsprinzipien und -kategorien aus? Die Interpretation des Artefakts gestaltet sich aus der Perspektive des Prinzips hermeneutischer Billigkeit grundsätzlich so, dass es mit bestimmten Normen harmonieren muss. Ausgangspunkt des Billigkeitsprinzips ist deshalb zunächst immer die Situation, dass das Interpretationsobjekt scheinbar nicht mit Normen harmoniert, die der Interpret hinsichtlich des Interpretationsobjekts für einschlägig hält (S. 291),
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so Spoerhase, der weiter betont, dass ästhetische Artefakte insofern ›normative Gegenstände‹ seien, als der Interpret von ihnen die Realisierung bestimmter Werte fordern dürfe bzw. müsse, die von ihm selbst vertreten werden. Die normative Haltung des Interpreten bestehe darin, dass er die Einlösung eigener Normen von ästhetischen Artefakten fordere und weder bloß den von Autor und Zeitgenossenen geteilten Normenhintergrund noch allein rezeptionshistorisch ästhetische Normen rekonstruiere, die vorangehende Interpreten im Umgang mit dem Artefakt herangezogen haben. Die Geschichte ästhetischer Artefakte sei deshalb nur dann mehr und anderes als Kulturgeschichte, wenn sich der Interpret nicht die Bezugnahme auf ästhetische Normen ersparen könne, wenn er sich also nicht die Frage ersparen könne, ob der ästhetische Gegenstand seinen ästhetischen Normen entspreche oder nicht. Dort aber, wo das ästhetische Artefakt als ein in diesem Sinn normatives wahrgenommen werde, finde eine partielle Auflösung der strikten Trennung von historisch-philologischer Rekonstruktion und literaturkritischer Evaluation statt – und dies mit präsentistischen Implikationen. Die sukzessive Transformation aktueller ästhetischer Normen ziehe die unablässige Umarbeitung der Geschichte ästhetischer Artefakte nach sich. Die Geschichte von in diesem Sinne normativen Gegenständen (gemeint ist wohl: ihre Historiographie) unterscheide sich von der Geschichte nichtnormativer Gegenstände darin, dass sie nicht abgeschlossen werden könne, weil Veränderungen des aktuellen normorientierten Diskurses Reformulierungen der Geschichte dieses Diskurses vom Standpunkt der aktuellen Normen hervorbringe. Wie jedoch der historische Standpunkt unter diesen Umständen sein Eigengewicht behalten könne, d. h wie verhindert werden könne, dass das Interpretationsobjekt je nach dem jeweils vom Interpreten vertretenen Normen zugerichtet werde, sei bisher kaum untersucht worden.

[47] 

Im Anschluss an diese erhellenden Reflexionen zur Struktur der Literaturgeschichtsschreibung und ihrer gewissermaßen unvermeidlichen Imprägnierung mit Formen der literarischen Wertung wendet sich Spoerhase im sechsten Unterkapitel »Theoretischen Reflexionen« zu.

[48] 

Hier geht es – in Auseinandersetzung mit der anglo-amerikanischen Argumentationstheorie – zunächst um die Einsetzbarkeit des principle of charity bei der Rekonstruktion von Argumenten. Die Darstellung führt in diesem Zusammenhang zum Verfahren der ›rationalen Rekonstruktion‹, für die Spoerhase mit einem Zitat betont:

[49] 
Die rationale Rekonstruktion sagt uns, was der Autor hätte sagen sollen, wenn er gewusst hätte, was wir wissen, und wenn er in höherem Ausmaß rational gewesen wäre, als er es tatsächlich war. Sie ist natürlich anachronistisch, da sie Standards und Informationen benutzt, die dem Autor des Textes nicht bekannt waren und nicht bekannt sein konnten. (S. 312)
[50] 

Nach den argumentationstheoretischen Aspekten behandelt Spoerhase Probleme der Referenz, näherhin die Rolle, die das principle of charity für die Identifikation von Einzelgegenständen spielt. Sodann wendet sich der Verfasser dem Zusammenhang von Übersetzung und principle of charity zu, weiter dem Zusammenhang von principle of charity und formaler Logik, sodann demjenigen von principle of charity und Hypothesenbildung. Die letzten drei Problembereiche erörtert Spoerhase insbesondere anhand der Position Quines, ebenso im nächsten Schritt den Zusammenhang von principle of charity und der Dimension der Evidenz und der Möglichkeitsbedingungen der Zuschreibung von Überzeugungen.

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Dabei zeigt sich, dass das principle of charity jeweils in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Funktionen und somit in unterschiedlichen Versionen auftaucht – nämlich als Identifikationskriterium für richtige Interpretationen, als Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen der radikalen Übersetzung, als Identifikationskriterium bei der Übersetzung wahrheitsfunktionaler Ausdrücke, als eine von mehreren Übersetzungsmaximen und als Regel zur Absurditätsvermeidung. Es handelt sich hierbei um philosophische Präzisierungsversuche des principle of charity, auf die Spoerhase im siebten Unterkapitel zurückgreift.

[52] 

Zunächst und das sechste Kapitel abschließend wendet sich Spoerhase der Interpretationstheorie Donald Davidsons zu, um festzustellen, Davidson gebe sein Projekt einer detaillierten Methodologie der Interpretation letztlich auf, wenn er etwa bemerke, er (Davidson)

[53] 
sehe keine Chance, den Prozess der Interpretation, also den Prozess des [sic] Entwicklung und Bewertung von Interpretationshypothesen zu regulieren oder zu lehren. Die von Davidson anfangs gesuchte Methode der Interpretation wird ersetzt durch Hinweise auf die notwendigen Kompetenzen des Interpreten, darunter ›Verstand, Glück, Weisheit‹ sowie ›Intuition, Glück, Könnerschaft‹ und ›Geschmack und Sympathie‹. (S. 342)
[54] 

Dies sei jedoch eine Position, die von derjenigen eines »erkenntnistheoretischen Esoterikers« nicht mehr zu unterscheiden.

[55] 

Im siebten Kapitel –»Kritik des Billigkeitsprinzips« – geht es darum, auf der Basis der philosophischen Präzisierungen des principle of charity eine »philologische Formulierung« zu finden. Dies geschieht über die Diskussion von acht Einwänden gegen das principle of charity. Stichwortartig verkürzt handelt es sich dabei um folgendes: (1) mangelnde Praxis-Dimension durch den Entwurf eines Beobachtungsmodells anstelle eines Kooperationsmodells der Interpretation; (2) keine oder schlechte Vereinbarkeit mit dem ›Problem des Irrtums‹; (3) das Problem, wie viele unserer Überzeugungen hinsichtlich eines Gegenstandes wahr sein müssen, damit wir sinnvoll sagen können, dass wir über ebendiesen Gegenstand sprechen; (4) die rekonstruktive Adäquatheit des principle of charity; (5) das Problem des ›Interpretationsimperialismus‹, nicht mehr wahrzunehmen, was das Gegenüber von dem Interpreten unterscheidet; (6) die Vagheit dessen, was als ›offensichtliche Wahrheit‹ gelten könne; (7) das Problem der – von Quine und Davidson empfohlenen – Strategien der Dissonanzbewältigung sowie das (8) der methodologischen Selbstverifikation.

[56] 

Die Diskussion der Einwände gegen das principle of charity führt im anschließenden achten Kapitel zur Formulierung von fünf Adäquatheitsbedingungen eines philologischen principle of charity, nämlich: die (1) Forderung nach deskriptiver Adäquatheit; die (2) Forderung, dem Äußerungssubjekt oder dem Artefaktautor Irrtümer oder normwidriges Verhalten zuschreiben zu können; (3) die Forderung, dem Interpreten Irrtümer oder normwidriges Verhalten zuschreiben zu können; (4) hinreichende begriffliche Unabhängigkeit der Konzeption der richtigen Interpretation von Konzeptionen des principle of charity und hinreichend unabhängige Überprüfbarkeit der mittels des principle of charity gewonnen Interpretationsergebnisse; (5) plausible Charakterisierung der Voraussetzungen, unter denen z.B. Widersprüche oder Absurditäten, kurz: Abweichungen so indiskutabel sind, dass sie eine Interpretation mittels des principle of charity verlangen

[57] 

Bei einer Rekonstruktion des Billigkeitsprinzips geht es Spoerhase sodann um eine »tentative Typologie der Formen« des principle of charity, »die aus philologischer Perspektive interessant erscheinen« (S. 387). Dies wären die Akkomodation (auf der Ebene der Faktizität; die Rekonstruktion einer Phänomenologie des Interpretationsvorganges), die Präsumtion (auf der Ebene der Legitimation; die Rekonstruktion einer Epistemologie des Interpretationsvorganges), und drittens die Maximierung (auf der Ebene des Imperativs; die Rekonstruktion einer Deontologie des Interpretationsvorganges). Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass

[58] 
die hermeneutische Billigkeit der hermeneutischen ›Gerechtigkeit‹ unterzuordnen ist, weil die Billigkeit ihren eigentlichen Zweck immer erst aus dem Erfordernis der ›Gerechtigkeit‹ ableitet. Prinzipien hermeneutischer Billigkeit werden deshalb sinnvollerweise verwendet, weil sie, sei es im context of discovery oder im context of justification, einer sachgerechten Interpretation eines bestimmten Interpretationsobjekts dienen. Nicht alle Prinzipien hermeneutischer Billigkeit erfüllen diese Voraussetzung: die strikte Version der Maximierung definiert diejenige Interpretation als sachadäquat, die in einem Höchstmaß ›billig‹ ist; das Prinzip hermeneutischer Billigkeit wird damit von einem hermeneutischen Instrument, sachadäquate Interpretationen zu erzielen, zu einer hermeneutischen Konstruktionsanweisung, die das (ideale) Ergebnis des Interpretationsvorgangs immer schon kennt (der Interpret weiß immer schon im voraus, was das Interpretationsergebnis sein wird, die Frage ist nur, auf welchem Weg er es erreicht). Über diese ›ungebührliche‹ Anwendung des Prinzips hermeneutischer Billigkeit wird dann aber vergessen, dass das eigentliche Interpretationsziel hermeneutische ›Gerechtigkeit‹, also eine sachangemessene Interpretation ist. (S. 413)
[59] 

Im letzten Teil des achten Kapitels befasst sich Spoerhase mit dem Zusammenhang von hermeneutischer Billigkeit und Autorkonstrukten. Ansatzpunkt seiner Überlegungen ist die Beobachtung, dass literarische Text in der Regel irgendwie schwierig sind. Wie es dennoch zu einer »investitionsintensiven« und »enttäuschungsresistenten« Lektürehaltung bei Rezipienten komme, die dafür sorgt, dass die Beschäftigung mit dem ›schwierigen‹ Artefakt nicht einfach abgebrochen wird, sei kaum erforscht:

[60] 
Die Erforschung der Rolle von Prinzipien hermeneutischer Billigkeit, die hier [in Spoerhases Studie] vor allem in philologischen Verwendungskontexten erfolgte, muss auch als eine Rekonstruktion dieser Strategien [die eine investitionsintensive und enttäuschungsresistente Lektürehaltung wahrscheinlich machen] verstanden werden. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen zu Prinzipien hermeneutischer Billigkeit können Autorkonstrukte als mitunter ausschlaggebende Komponenten von Kommunikationsstrategien beschrieben werden, die einen frühzeitigen Abbruch der hermeneutischen Beschäftigung abwenden. (S. 418)
[61] 

Dies lasse sich besonders gut am Beispiel des hermeneutischen Umgangs mit Anomalien (scheinbare Absurditäten, Fehler etc.) zeigen. In bestimmten Fällen werden Anomalien nämlich nicht einfach dem Autor zugeordnet, sondern anderen Interpretationsinstanzen, so dass, nach dem Wort Gadamers, die Schrift wie die Natur ein Werk sei, an dem nur der Interpret, nicht aber der Schöpfer scheitern könne. 5

[62] 

Spoerhases »Ausblick« (ab S. 439) bietet »Drei hermeneutische Apologe über Autorschaft und Interpretation«. Sie veranlassen Spoerhases Feststellung:

[63] 
Wie es scheint ist die ›Rückkehr des Autors‹ eine fundamentale kontrafaktische Imagination: die Interpreten führen immer wieder das Schauspiel eines zurückkehrenden Autors auf, um im Modus des Gedankenexperiments zu prüfen, wie sich der Autor wohl zu ihren hermeneutischen Wissensansprüchen (ihren Bedeutungszuschreibungen) verhalten hätte; kehrt der Autor aber tatsächlich zurück oder ist er noch anwesend, so wechseln die Interpreten nicht vom Modus kontrafaktischen Imaginierens in den Modus der Tatsachenfeststellung hinsichtlich der faktischen Autorabsicht; auch wenn der Autor faktisch noch anwesend ist, so beschränkt sich seine Anwesenheit auf eine kontrafaktische Imagination, die in der Philologie der Vermeidung von Aktualisierungshermeneutiken oder Verbesserungshermeneutiken dient. Die Rückkehr des Autors, für die in dieser Arbeit auf mehreren Ebenen argumentiert wurde, erweist sich in diesem Sinne als die Rückkehr eines für die philologischen Disziplinen notwendigen methodischen Konstrukts. (S. 448)
[64] 

Kritik

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Das Buch von Carlos Spoerhase befriedigt und überzeugt durch seine geduldigen Rekonstruktionen, durch sein hohes argumentatives Niveau, durch seinen Aspektreichtum, durch seine philosophische Reflektiertheit und durch seine Gelehrtheit. Es präsentiert nicht zuletzt scharfsinnige und analytisch fruchtbare Unterscheidungen, die intellektuell bereichern.

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Gegen seinen fulminanten Versuch, den vermeintlich unhintergehbaren Zusammenhang von Autorschaft und Interpretation aufzuzeigen, ließe sich aber doch wohl zu bedenken geben, dass Spoerhase eigentlich ohne weitere Diskussion, wie selbstverständlich und ganz pauschal das literarische Artefakt als einen Äußerungsakt und eben nicht als Zeichensystem betrachtet bzw. behandelt. Im Zusammenhang seiner Rekonstruktion der Position Roland Barthes kommt Spoerhase kurz auf die Alternative zu sprechen und interpretiert den ›Tod des Autors‹ sensu Barthes als ›Tod‹ einer »Sprecherinstanz, die dem literarischen Artefakt zugewiesen werden müsste« (S. 37). Später behauptet Spoerhase allquantifizierend (und im rhetorischen Gewand des Scheinargumentes), dass keine Interpretationstheorie das »formale Faktum« bestreite, »dass jeder literarischen Äußerung eine rhetorische Sprecherinstanz zugeordnet werden muss, der die Äußerung zugeschrieben werden kann« (S. 59). Und z.B. im Zusammenhang seiner Erörterungen zu hermeneutischer Billigkeit und Autorkonstrukten (S. 414) problematisiert Spoerhase selbstverständlich das literarische Artefakt als Element literarischer Kommunikation, also lediglich als Äußerung.

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Wenn Spoerhase vor dem Hintergrund seiner Argumentation kategorisch behauptet: »Autorschaft und philologische Interpretation lassen sich nicht unabhängig voneinander denken«, so provoziert das doch geradezu die Entgegnung, dass dies immerhin möglich sein könnte, wenn man eben den Zusammenhang von ›Zeichensystem und philologischer Interpretation‹ genauer betrachtete, als dies in der vorliegenden Studie geschieht. Ich habe außerdem nicht den Eindruck, dass allein die Auffassung des literarischen Artefaktes als Äußerung diejenigen des »Fachmannes« ist, über dessen Interpretationstheorie und -praxis Spoerhase schreibt (S. 2 f.). Vielmehr scheint es mir doch literaturwissenschaftlich eher so zu sein, dass (u. a. abhängig von Interessen und Zwecken) das Artefakt als Äußerungsakt oder als Zeichensystem behandelt wird und dass es allemal gute Gründe dafür gibt, mal so und mal so zu verfahren.

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Der ›Autor‹ gehört sicher zu den »normativen Aspekten professionellen Verstehens« (S. 4), aber diese Aspekte scheinen mir nicht hinreichend erfasst, wenn die optionale ›Nullposition‹ unberücksichtigt bleibt. Hier zeigt sich möglicherweise bei Spoerhase eine gewisse Horizontfokussierung auf den Diskurs der philosophischen und philologischen Hermeneutik, die auch für die nicht weiter problematisierte oder erläuterte Rede von solchen Dingen wie dem »Kriterium der hermeneutischen Wahrheit« (S. 30) oder der »hermeneutischen ›Gerechtigkeit‹« (S. 413) u. a. m verantwortlich gemacht werden könnte.

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Das sind allerdings bloße Quisquilien, die angesichts der Leistung von Spoerhase nicht ins Gewicht fallen. Sein Buch »verlangt von dem Interpreten einen hohen, aus der Perspektive der Alltagskommunikation skandalös überzogenen Aufwand hermeneutischer Ressourcen« (S. 417), die »Aushaltefähigkeit« und die »investitionsintensive und enttäuschungsresistente Lektürehaltung« (S. 418) des wissenschaftlichen Lesers wird jedoch reich belohnt – durch Kenntnisse ebenso wie durch Erkenntnis.

 
 

Anmerkungen

Roland Barthes: Sur Racine (1963). In: R. B.: Œvres complètes. Nouvelle édition revue et corrigée. Hg. von E. Marty. Tome I (1942–1961), Tome II (1962–1967), Tome III (1968–1971), Tome IV (1972–1976), Tome V (1977–1980). Paris 2000, hier Tome II, S. 51–196.   zurück
Roland Barthes: La mort de l’auteur. In: R. B.: Œvres complètes (siehe Anm. 1), Tome III, S. 40–45.   zurück
Ebd., S. 41.   zurück
Michel Foucault: Qu’est-ce que qu’un auteur? In: M. F.: Dits et Ècrits. Hg. von D. Defert u. F. Ewald. Paris 1994, Tome I, S. 789–821.   zurück
Hans-Georg Gadamer: Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewusstseins (1958). In: H.-G. G.: Gesammelte Werke. 10 Bde. Bd. 8: Kunst als Aussage. Tübingen 1983, S. 17.   zurück