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Der Hainbund ein Autorenkollektiv?

Zu Paul Kahls Edition des Bundesbuchs
des Göttinger Hains

  • Paul Kahl: Das Bundesbuch des Göttinger Hains. Edition, historische Untersuchung, Kommentar. (Exempla Critica 2) Tübingen: Max Niemeyer 2006. VI, 579 S. Broschiert. EUR (D) 108,00.
    ISBN: 978-3-484-29802-6.
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Die Edition des Bundesbuchs des Göttinger Hains galt als eines der »dringendsten Desiderate der Hainbundforschung.« 1 Sicherlich ist es eines der interessantesten Dokumente zur deutschen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Die Mitglieder des Hainbundes trugen eigenhändig die nach ihren Zusammenkünften besprochenen, überarbeiteten und approbierten Gedichte ein. Seit 1926 befinden sich das zweibändige Bundesbuch, das dazugehörige Protokollbuch und das von Johann Heinrich Voß geführte Bundesbuch im Bestand der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.

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Mit Paul Kahls Edition erfüllt sich ein über zweihundertjähriges Bemühen um dessen Publikation. Wie der bibliographische Anhang der Edition dokumentiert, kann sich der Herausgeber mit allein sechzehn Einzelpublikationen zum Göttinger Hain als fundierter Kenner der Materie ausweisen. In seiner Einführung gibt er eine Zusammenfassung der ebenso langen wie ergebnislosen Vorgeschichte der Bundesbuch-Edition (S. 1 f. und S. 305–307). Denn schon die Mitglieder des Hainbunds planten 1773/1774 selbst eine Veröffentlichung ihrer Gedichtsammlung, die im eindrucksvollen Quartformat erscheinen sollte (S. 306). Dem ambitionierten Publikationsprojekt entsprach die ursprüngliche Anlage des Bundesbuchs als Reinschrift – dem Erscheinungsbild nach »beinahe eine Prachthandschrift«, wie Kahl anmerkt (S. 1). Jedoch ließen Klopstocks Einspruch, die Veröffentlichung der Göttinger Musenalmanache und eigene Gedichtbände mehrerer Hain-Dichter die Pläne für das Editionsprojekt bald scheitern. Im 19. Jahrhundert verschwand das von Johann Heinrich Voß gehütete Bundesbuch gar aus dem Gesichtsfeld der Öffentlichkeit, als es ein Rudolstädter Gymnasialprofessor aus dem Besitz der Familie Voß erwarb. Das Editionsprojekt eines der späteren Besitzer des Bundesbuches, Heinrich Klußmann, kam aus unbekannten Gründen nicht zustande. Seit 1926 befindet sich das Bundesbuch in öffentlicher Hand, erst jetzt hat Paul Kahl die nicht nur für die Hainbundforschung wichtige Quelle veröffentlicht. Seine Arbeit ergänzt die kritischen Editionen Sauers, Michaels und Hettches 2 um einen wichtigen Textzeugen.

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Doch Kahl legt weit mehr vor als nur einen diplomatischen Abdruck der handschriftlichen Gedichtsammlung: Zur Gänze ediert er das zweibändige Bundesbuch und das dazugehörige Protokollbuch, das die Treffen der Bundesbrüder und die dabei besprochenen Gedichte verzeichnet. Ergänzt wird der Textbestand durch jene Gedichte aus Voß‘ separat angelegtem Bundesbuch, die im ›kollektiven‹ Bundesbuch fehlen. Denn es enthält die meisten der Gedichte, die aus dem Bundesbuch durch Ausriss verloren gingen. Kahl kann so den ursprünglichen Textbestand des Bundesbuches bis auf wenige Seiten rekonstruieren.

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Die Edition enthält allerdings nur zum geringen Teil Unbekanntes. Viele Gedichte wurden in ihrer langen Editionsgeschichte aus dem Bundesbuch, anderen Handschriften und in anderen Fassungen bereits veröffentlicht. So erschienen sowohl in den Göttinger und Vossischen Musenalmanachen als auch in Einzelausgaben der beteiligten Dichter schon ein großer Teil der Texte. 3 Dies macht eine Edition des Bundesbuches jedoch nicht überflüssig; immerhin finden sich einige bisher ungedruckte Gedichte, bzw. einige bisher ungedruckte Gedichtfassungen, zudem können alle Gedichte nun in ihrem entstehungsgeschichtlichen Kontext studiert werden. Ergänzt wird Kahls Edition durch eine ausführliche historische Abhandlung zur Geschichte des Göttinger Hains, die den edierten Quellenbestand auswertet und zur aktuellen Hain-Forschung in Beziehung setzt. Die Edition schließt mit einem umfangreichen Kommentar zu den Gedichten und dem Protokollbuch.

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Die Edition

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Problematisch wird die Edition von Texten aus dem Göttinger Hain durch die Vielzahl nachträglicher autorisierter und nichtautorisierter Gedichtfassungen, die von den Autoren und befreundeten Herausgebern für spätere Veröffentlichungen immer wieder umgearbeitet wurden. Gerade die Möglichkeit, anhand der Textveränderungen Einblicke in die bundinterne Poetik zu bekommen, macht die Vorgänge der Umarbeitung interessant.

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Am Beispiel Höltys hatte vor Kahl besonders Walter Hettche über die spezifischen Probleme von Editionen aus dem Hainbund nachgedacht. Hettche hatte argumentiert, die auf eine klare Autorisation abzielenden herkömmlichen Editionsprinzipien eigneten sich nicht für Dichtungen aus dem Hainbund: »All diese editorischen Prinzipien verkennen die besondere Situation, in der Höltys Gedichte geschrieben, gedruckt und rezipiert wurden.« 4 So liege laut Hettche ein »Changieren zwischen individueller und kollektiver Produktion« vor. 5 Von hier aus verallgemeinert Hettche:

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Die logische Konsequenz aus den Befunden hinsichtlich der kollektiven Produktion und Autorisation der Texte im ›Göttinger Hain‹ wäre, von einer herkömmlichen ›Autor‹-Edition abzusehen und stattdessen die Texte des ›Göttinger Hains‹ in toto zu edieren. […] Eine solche Kollektiv-Edition erweist sich freilich schon aus Umfangsgründen als praktisch undurchführbar. 6
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Zum Bundesbuch schreibt Hettche:

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Ein Indiz für die bewußt gepflegte kollektive Autorschaft in literarischen Vereinen sind die Sammlungen der gemeinsam erarbeiteten Texte. Im Falle des Göttinger Hains sind die Musenalmanache das Publikationsorgan des Vereins. Daneben gibt es aber noch die handschriftlichen Bundesbücher, zwei umfangreiche Bände, in denen die einzelnen Mitglieder die in den Versammlungen vorgelesenen und diskutierten Texte festhielten, und zwar nachdem die Änderungsvorschläge der Mitglieder eingearbeitet wurden. Wichtig ist dabei, daß die Autoren die Texte in ihrer eigenen Handschrift eintrugen: So wird zum einen – mit dem Eintrag in das Bundesbuch – die Zugehörigkeit zur gemeinsamen Produktion betont, zum andern aber – durch die eigene Handschrift – der individuelle Anteil an diesem Schreibprozeß unterstrichen. Die Gedichte werden als geistiges Eigentum beglaubigt und gleichzeitig als Bestandteil der Gruppenproduktion ausgewiesen. 7
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Kahl selbst setzt sich an mehreren Stellen kritisch mit Hettches Thesen auseinander. Er lehnt aus fundierter Quellenkenntnis vor allem Hettches Begriff der kollektiven Autorschaft ab, mit dem dieser die traditionelle auf Autorisation fixierte Editionspraxis bei Hölty-Gedichten in Frage gestellt hatte. Das Korrigieren autorisierter Texte mit nachträglichen Eingriffen von fremder Hand sind im 18. Jahrhundert allerdings nicht einzigartig, wie etwa die durch Autorisation gebilligten Texteingriffe Wielands zu Goethe oder Karl Wilhelm Ramlers zu Gotthold Ephraim Lessing und Johann Peter Uz zeigen. Sie änderten nur in wenigen Fällen etwas am Status des Werk- oder Autorbegriffs. 8 Hettche überdehnt – wie Kahl zurecht kritisiert – die Bedeutung der Kollektivarbeit, um für eine Edition einzutreten, die die gesamten lyrischen Produktionen des Hainbundes mitsamt ihrer kollektiven Verbesserungsprozesse abbilden soll – eine textgenetische Edition größeren Umfangs also und in dieser Form tatsächlich schwer durchführbar. Außerdem, so argumentiert Kahl überzeugend, könnten Bundes- und Protokollbuch selbst nur an wenigen Stellen als Zeugen für eine kollektive Autorschaft dienen, da die Gedichte in das Bundesbuch erst nach einer ersten kritischen Sichtung eingetragen wurden und damit die Textgenese im Dunkeln bleibt. Nur in wenigen Fällen lägen briefliche Äußerungen vor, an denen sich die Tendenzen der bundinternen Kritik ablesen ließe, die sonst und zur Zeit der Entstehung des Bundesbuchs vor allem mündlich verhandelt wurde.

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Allerdings scheint ein Abdruck des Bundesbuchs ohne Hinweise auf die zum Teil komplizierte Textgeschichte der verschiedenen Fassungen ebenso problematisch. Dennoch entscheidet sich Kahl gegen einen Apparat, der alle Varianten der verschiedenen späteren Gedichtfassungen aufführt. So vermeidet er die unnötige Komplizierung des editorischen Verfahrens, wie sie aus Hettches These der kollektiven Autorschaft resultiert. Da es sich beim Bundesbuch um eine Reinschrift handelt, finden sich ohnehin nur in wenigen Fällen Spuren von Korrekturen. Den einzig schwierigen Fall stellt Johann Heinrich Voß‘ Ode An Delius dar. Kahls Transkription führt die durch Überschreibung eingetragene erste Bearbeitung in der Fußnote am Seitenende auf. Die im Bundesbuch notierte dritte Bearbeitung bildet er mittels Stufenapparat ab, denn sie enthält Entstehungsvarianten. Ein Faksimile im Anhang soll die Überprüfung seiner Transkription gewährleisten (S. 578, Transkription S. 118 f.). 9 Doch Kahl verzichtet nur auf die Abbildung, nicht aber auf die Darstellung der textgenetischen Vorgänge. Seine textkritischen Ergebnisse referiert er im Kommentar und in einer historischen Untersuchung.

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Kommentar

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Kahl trennt Variantenverzeichnis und Kommentar nicht voneinander. Im Kommentar verzeichnet sind stets der Erstdruck des Gedichts und eine Auswahl relevanter Fassungen in den verschiedenen Editionen und Handschriften des Bundes, wie etwa den Gedichtausgaben, den Musenalmanachen und der 1957 veröffentlichten Sammelhandschrift
Für Klopstock. Beigefügt ist auch das Autor-Kürzel, unter dem der Text erstmals erschien. Durch seine detaillierten Hinweise erleichtert Kahl eine textkritische Erschließung des umfangreichen Materials, ohne selbst umfangreichere Varianten aufführen zu müssen.

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Im Kommentar werden »die zu Entstehung, Wirkung und Deutung entscheidenden Zeugnisse« bereitgestellt und erläutert. Vorab stehen die Biographien der prominentesten Dichter des Bundes, zugeschnitten auf die Geschichte des Hainbundes. 10 Biographische Notizen und Literatur zu Dichtern, die nur mit einem Gedicht vertreten sind oder nicht Mitglieder des Hainbundes waren (z.B. Klopstock, Claudius, Bürger), werden im Kommentar zu ihren Gedichten angeführt. Darauf folgt ein »Gedichtgruppen« überschriebener Abschnitt, in dem die Gattungszusammenhänge der Gedichte historisiert werden. In kleinerem Schriftgrad erscheinen Anmerkungen und weitere Hinweise. Fremdsprachige Vorlagen, Quellen, Vorbilder, mögliche biographische Kontexte und geistesgeschichtliche Konstellationen werden bei Bedarf und Kenntnis skizzenhaft aufgeschlüsselt. Genannt werden auch Briefstellen, in denen zu den jeweiligen Gedichten Stellung bezogen wird. Schwierige Stellen und Anspielungen werden erläutert.

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Die einzelnen Kommentare fallen quantitativ und qualitativ unterschiedlich aus. Ein systematischerer Zugriff hätte sicherlich geholfen, eine klare Entscheidung über das Aufzunehmende zu treffen und den zuweilen aufkeimenden exegetischen Wildwuchs zu beschneiden. So liefert der Herausgeber nach dem Voß-Gedicht An meinen Boie einen längeren Abschnitt zur Symbolik von Harfe und Leier (S. 422 f.), wobei der instrumentengeschichtliche Abriss viel zu ausführlich gerät und zum Verständnis wenig beiträgt – Digression statt Exkurs.

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Mangelnde Systematik zeigt sich auch am Umgang mit der Sekundärliteratur zu den einzelnen Gedichten. Kahls Kommentarteil nimmt in Auszügen daraus auf, »was immer weitergetragen zu werden verdient.« (S. 382). Präzisere Kriterien der Auswahl nennt Kahl nicht. So werden nicht nur Sachangaben oder Interpretationsansätze übernommen, sondern manchmal stark wertende Passagen unkommentiert angeführt. 11 Kahl enthält sich selbst auch nicht immer einer wertenden Etikettierung der Gedichte. 12

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Nicht sehr leserfreundlich ist die Verknüpfung von Gedichttext und zugehörigem Kommentareintrag. Beim schnellen Vor- und Zurückblättern in Text und Kommentar verwirrt die Konkurrenz von Zählungen im Gedichtteil (Blatt, Seite, Gedichtnummer, Datum). Leicht wäre dem durch eine typographisch stärkere Hervorhebung der Verweisnummer mit Fett- statt Kursivsatz abzuhelfen gewesen. Ähnlich ungünstig ist der nachgestellte Asteriskus bei bibliographischen Einträgen im Literaturverzeichnis, der die »einschlägigen« Briefausgaben (S. 281) kennzeichnet, 13 aber bei eingerückten Zeilenenden nicht sofort ersichtlich ist. Übersichtlicher wäre es gewesen, ihn dem bibliographischen Eintrag voranzustellen – derart einfache Lösungen hätten die Nutzung des Bandes erheblich erleichtert. Ein klares Druckbild ist gerade für Editionen unabdingbar, wobei es hier vor allem Aufgabe des Verlags gewesen wäre, den Satz des Manuskripts leserfreundlicher einzurichten. Der Ausgabe fehlen leider auch ein alphabetisches Register der enthaltenen Gedichte und ein übersichtliches Verzeichnis des Textbestands im Bundesbuch und der späteren Druckfassungen. 14

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Historische Untersuchung

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Zwischen den Text und seinen Kommentar schiebt Kahl die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchung der neuedierten Quelle. In dieser auf breite Quellenbasis und souveräne Forschungsübersicht gestützten historischen Untersuchung über »Dichter und Dichtung im Göttinger Hain« (S. 279–372) befasst sich Kahl kurz mit der Geschichte des Bundes und der Funktion des Bundesbuchs, um dann ausführlich auf die Poetik des Hainbundes einzugehen.

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Das Bundesbuch ist in Verbindung mit dem Protokollbuch sichtbares Zeugnis für die kollektive Arbeit des Dichterbundes. Da aber das Protokollbuch die mündlichen Debatten nicht verzeichnet, zieht Kahl briefliche Äußerungen heran, um die »Verbesserungsästhetik« des Bundes zu erhellen, besonders aber den brieflich geführten Austausch über Bürgers Ballade Lenore, die schließlich im Göttinger Musenalmanach 1774 erschien.

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»Gruppenkritik und Inspirationsvorstellung gehen eine nicht zu entflechtende Mischung ein.« (S. 345). Kahl deckt dabei auf, dass die einzelnen Mitglieder des Hainbundes keine homogene Vorstellung von Dichter und Werk entwickelt hatten und konzentriert sich dabei vor allem auf die markantesten Figuren des Bundes, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg und Johann Heinrich Voß. Stolbergs Auffassung von Dichtkunst folgt dem genieästhetischen Paradigma, das stärker autorzentrierte Kategorien wie Inspiration und Originalität vor die sprachliche und ästhetische Vollkommenheit des Werks stellt. Voß vertrat eher werkzentrierte Prinzipien, die Kahl mit Steffen Martus unter den Begriff der »Verbesserungsästhetik« subsumiert. 15 Boie und Hölty nehmen eine beide Positionen vermittelnde Stellung ein. Die chronologische Anordnung des Bundesbuchs mit zum Teil tagesgenauer Datierung zeuge zudem von einem historischen Bewusstsein angesichts der eigenen dichterischen Produktionen (S. 316–321).

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Kahls Untersuchung verknüpft so das Bundesbuch mit seinen poetologischen Grundlagen. Darüber hinaus bieten ihre Ergebnisse einen gewissen Ersatz für eine schwer zu realisierende textgenetische Edition, die über die verschiedenen Bearbeitungsweisen Rechenschaft gäbe. Anstatt die Rekonstruktion der verbesserungsästhetischen Grundlagen durch einen Variantenapparat dem Leser zu überlassen, leistet Kahl diese Arbeit selbst mit seinen Ausführungen zur Poetik des Bundes. Allerdings zeigen Kahls Befunde, dass der Detailkritik der einzelnen Gedichte keine klar zu umreißende bundesspezifischen Form der Verbesserungsästhetik zugrunde liegt – ein weiteres, wenn auch unausgesprochenes Argument für seine Editionsweise, die den textgenetischen Aspekt ausspart.

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Die Untersuchung von Autorisationsvorgängen und Gruppenkritik stützt auch Kahls Stellungnahme gegen Hettches These von der kollektiven Autorschaft des Bundes und sichert so das editorische Konzept Kahls ab. Mit der Feststellung einer im Rahmen autorschaftlichen Denkens vollzogenen Poetik kommt er zu dem überzeugenden Schluss, dass die Autorisations- und Schreibvorgänge sich immer um ein Autor-Ich gruppieren, dies zeige sich selbst bei den stark überarbeiteten Hölty-Editionen von Voß. Dieser greife in die Texte ein, aber nicht im Sinne kollektiver Autorschaft, sondern im Sinne der Einfühlung in den edierten Autor. Auch die Nichtveröffentlichung des Bundesbuches wird zum Beleg für das autorschaftliche Denken im Hainbund. Denn viele Gedichte des Bundesbuches erscheinen in den späteren autorzentrierten Gedichtsammlungen der Hainbund-Dichter. Hier ist allerdings einschränkend auf den manifestartigen Charakter besonders des Göttinger Musenalmanachs von 1774 hinzuweisen, dessen Kürzelsystem zwischen Anonymität und bekennender Autorisation changiert und damit die Überschneidung von literaturbündischem ›Kollektivdenken‹ und individueller Autorschaft dokumentiert. 16 Bei der Frage, warum die Idee der kollektiven Veröffentlichung durch autorzentrierte Einzelsammlungen abgelöst worden ist, geht Kahl leider auch auf die ökonomischen Hintergründe nicht näher ein, obwohl finanzielle Schwierigkeiten und wirtschaftliche Interessen in den Briefen der jungen Dichter durchaus immer wieder thematisiert werden. 17

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Aufgrund seiner umfassenden Quellenstudien kann Kahl auch einige Forschungsirrtümer korrigieren, die sich trotz früherer Einsprüche 18 nicht nur lange gehalten, sondern auch bis in einschlägige jüngere Standardwerke vorgearbeitet haben – vor allem die Auffassung, der Göttinger Hain habe sich der aufkommenden Bardendichtung verbunden gefühlt und seine Mitglieder hätten selbst unter Bardenpseudonym geschrieben: 19 »In all diesen Forschungsirrtümern wirken die zeitgenössischen Zerrbilder eigentümlich hartnäckig nach« (S. 285–289, hier S. 289). Anzumerken ist, dass zur zeitgenössischen Etikettierung der Hainbunddichter als ›Barden‹ die vielleicht direkt auf Wielands Teutschen Merkur 20 bezogene, prominente Positionierung dreier Bardengesänge aus Klopstocks Feder im Göttinger Musenalmanach von 1774 als publizistische Differenzstrategie beitrug. Von Seiten des Göttinger Hains wurde der Irrtum also durchaus in Kauf genommen. 21

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Insgesamt zeigt sich in der historischen Untersuchung und im Kommentar zuweilen die Tendenz, aufgrund der großen Material- und Textkenntnis aus der Spur zu weichen, um auf die vielfältigen Ergebnisse der jüngeren Hainbundforschung einzugehen. Die sonst gelungene und anregende Aufarbeitung des Materials hätte hier durch eine strengere Beschränkung auf die Bundespoetik an Übersichtlichkeit und Stringenz gewonnen.

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Allen kritischen Einwänden zum Trotz – sicherlich wird sich die Hoffnung des Herausgebers erfüllen: »Diese Edition soll nicht nur eine Lücke schließen, sondern ihrerseits weitere Auseinandersetzungen ermöglichen« (S. 2). Die immense Arbeit, die Kahl neben der vollständigen und sorgfältigen Transkription des nicht kleinen Textkorpus geleistet hat und die Eingang in seinen Kommentar und seine historische Untersuchung findet, verdient großen Respekt. Seine Edition wird jedenfalls nicht zu jener Leiter in einem Gedicht Stolbergs: »Mühsam klimmet der Gelehrte hinan […] und was hat der Gelehrte gesehn?« (S. 323). Dank der wahre Materialberge durchforstenden und aufbereitenden Arbeit Kahls sieht der Leser sehr viel.

 
 

Anmerkungen

Manfred von Stosch: Rezension zu Paul Kahl: Das Bundesbuch des Göttinger Hains. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2007, S. 292–295, hier S. 293. Vgl. auch Anette Lüchow: Rezension zu Paul Kahl: Das Bundesbuch des Göttinger Hains. In: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 16 (2007), S. 48–50.   zurück
August Sauer (Hg.): Der Göttinger Dichterbund. 2 Teile in 3 Bdn. Berlin u.a.: Spemann o.J. (1885–1895) (Deutsche National-Litteratur 49–50); Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Kritisch und chronologisch hg. v. Wilhelm Michael. 2 Bde. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1914 u. 1918; ders.: Gesammelte Werke und Briefe. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Walter Hettche. Göttingen: Wallstein 1998.    zurück
Siehe hierzu v. Stosch (Anm. 1), S. 293 f.   zurück
Walter Hettche: Im Hain, im Tunnel und im Teich. Autorschaft und Autorisationen in literarischen Vereinen. In: editio 13 (1999), S. 98–107.    zurück
Hettche (Anm. 4), S. 101.   zurück
Ebd., S. 102.   zurück
Ebd., S. 103.   zurück
Siehe hierzu: Hans-Joachim Kertscher: Karl Wilhelm Ramler als Herausgeber. In: Laurenz Lütteken, Ute Pott u. Carsten Zelle: Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts. (Schriften des Gleimhauses Halberstadt 2) Göttingen: Wallstein 2003, S. 95–128.   zurück
Allerdings erlaubt die Abbildung keine wirkliche Überprüfung der Transkriptionsleistung.    zurück
10 
Kahl verweist auf S. 381 ergänzend hierzu auf die einschlägigen biographischen Nachschlagewerke, ein nicht ins Gewicht fallender Irrtum ist hier zu berichtigen: Nicht nur »Stolberg und Voß haben eigene Biografen gefunden« (S. 381), auch Boie wurde durch Karl Weinhold mit einer wichtigen Monographie bedacht, die Kahl auch nicht entgangen ist – selbstverständlich ist sie im umfänglichen Literaturverzeichnis aufgeführt.    zurück
11 
Besonders gilt dies für Zitate, die aus der Sekundärliteratur zwischen 1933 und 1945 stammen; aber auch aus späterer Literatur werden manchmal Wertungen referiert, die mehr über den Interpreten als über den Gedichttext verraten. Vgl. etwa S. 417 zu Bd. 1 / Nr. 7, S. 427 zu Bd. 1, Nr. 32.    zurück
12 
Folgende Formulierungen belegen die eher wertende statt analysierende oder erklärende Haltung des Kommentators: »Minnesangversatzstücke« (S. 424), »Als Gedicht verfehlt, aber in der Gedankenführung aufschlussreich.« (S. 440), »Kleine Formspielerei« (S. 441), »das Metrum zwanglos und echt erfüllend. Später metrisch begründete Verschlimmbesserung.« (S. 454), »versatzstückhafte[] Gedichtsprache«, »die plumpere Darstellung« (beide S. 455).   zurück
13 
Kahls Entscheidung zur ›Vereinfachung‹ der Zitierweise für Briefe (S. 281, Anm. 4) vereinfacht leider nicht die Handhabung seiner Edition.    zurück
14 
Siehe dazu Irmgard Fischer: Die Handschriften der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Neuzugänge 1894–1966. Wiesbaden: Harrassowitz 1968, S. 14–22. Kahls Transkription enthält auf S. 161–165 nur das handschriftliche, nach Autoren geordnete Register des ersten Bandes des Bundesbuchs.   zurück
15 
Steffen Martus: Friedrich von Hagedorn – Konstellationen der Aufklärung. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 15, 249) Berlin u.a.: de Gruyter 1999, S. 143–172.    zurück
16 
Manfred von Stosch weist in seiner Rezension auf die bei Kahl marginale Behandlung des Göttinger Musenalmanachs hin, vgl. Stosch (Anm. 1), S. 295.   zurück
17 
Siehe z.B. Johann Heinrich Voß: Briefe nebst erläuternden Beilagen. Hg. v. Abraham Voß. 3 Bde. Halberstadt: Brüggemann 1829–1833: Voß an Boie, 24. August 1771, Bd. 1, S. 61 f.; an Brückner, 17. 11. 1774, Bd. 1, S. 179 f.; Voß an Miller, 10.3. und 11. 9. 1776, Bd. 2, S. 91 u. 92 f.    zurück
18 
Auf die Ablehnung der Bardendichtung durch den Göttinger Hain wies schon mit Belegen Hans Grantzow hin: Geschichte des Göttinger und des Vossischen Musenalmanachs (Berliner Beiträge zur Germanischen und Romanischen Philologie XXXV). Berlin: Ebering 1909, S. 41 f.   zurück
19 
So etwa auch in Band VI der einschlägigen Reihe »Geschichte der deutschen Literatur« Helmut de Boors und Richard Newalds: Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen, Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik 1740–1789. München: C.H. Beck 1990, S. 406 f.    zurück
20 
Christian Heinrich Schmid: Über den gegenwärtigen Zustand des deutschen Parnasses. In: Der Teutsche Merkur 1 (1773), 2. Vierteljahr, S. 150–168 und Christoph Martin Wieland: Zusätze des Herausgebers zu dem vorstehenden Artikel, ebd. S. 174–186. Zur Auseinandersetzung siehe Hans-Jürgen Schrader: Mit Feuer, Schwert und schlechtem Gewissen. Zum Kreuzzug der Hainbündler gegen Wieland. In: Euphorion 78 (1984), S. 325–367.    zurück
21 
Der Gedichtteil des Almanachs setzt ein mit Drey Bardengesänge aus Klopstocks Herrmann und die Fürsten, Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1774. Reprint. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, S. 1–10. Siehe auch Kahl auf S. 414, der darauf hinweist, dass einige Papierrasuren im Bundesbuch möglicherweise auf die etwas spätere Eliminierung von Bardensynonymen zurückzuführen sind.   zurück