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Joseph Vogls Über das Zaudern als Entwurf einer »Methodenlehre der Kontingenz«

  • Joseph Vogl: Über das Zaudern. (Reihe Solitäre) Zürich: Diaphanes 2007. 128 S. Broschiert. EUR (D) 12,00.
    ISBN: 978-3-03734-020-2.
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Joseph Vogl hat aus seiner Antrittsvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität ein Buch gemacht. Ein bemerkenswertes Buch. Über das Zaudern liest sich als Versuch in sechs Abschnitten über ein Phänomen, das philosophisch ebenso relevant wie bisher unbeachtet geblieben ist: weit mehr als nur oberflächliche Störung erweist sich das Zaudern als Manifestation der ›gebrechlichen Einrichtung der Welt‹ (Kleist). Als solche hat es heuristischen Wert, den es im philosophischen Fragen nach der Bedingtheit des Menschen methodisch nutzbar zu machen gilt. Das scheint die eigentliche, große Pointe dieses kurzen Textes zu sein. Dass Vogl seinen Essay dabei als »kursorische Sichtung« (S. 117) angelegt hat, anstatt ihn als erschöpfende Darstellung zu konzipieren, ist dem Thema dabei nur angemessen.

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Moses und Orestes

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Am Detail der Verwicklung von Zeigefinger der rechten Hand und Bartgirlande entwickelte Freud seine These, dass der ›Moses des Michelangelo‹ sich nicht in einer positivistisch erfassbaren Gegenwart erschöpfe, sondern um eine Leerstelle kreise, einen Moment der Unterbrechung, der Irritation manifestiere.

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Im Anschluss an diese Überlegungen sieht Vogl die Skulptur als eine Art Filmstill, als den »verbleibende[n] Rest einer zuckenden Bewegung hin und her, vor und zurück.« (S. 11). Sie referiert kein statisches Bild, öffnet vielmehr ein Intervall, »in dem sich nichts als gehemmte Bewegung und gestaute Aktion manifestiert« (S. 13). Moses ist nicht schlicht das Medium Gottes, der uneigensinnige Überbringer der Gesetze; irritiert durch die um das goldene Kalb tanzenden Israeliten zuckt er vor der Ausführung seines Auftrages zurück. Er hält inne, er zaudert. Eine Geste, die mehr ist als nur Zeichen einer Verhinderung. Eine »Geste, die an die Aufhebung des Gesetzes heranführt«, deren Grundton »im Kontingenzgrund von Gottes Zorn und Gesetz besteht.« (S. 20). Diese fundamentale Wendung einer zunächst lediglich als Unentschiedenheit erscheinenden Körperbewegung gibt das Paradigma für Vogls Analyse des Zauderns vor. Mit ihm öffnet sich als Synkope jener Raum innerhalb des Erwartbaren, in welchem die Bedingtheit des Gewohnten sich selber zeigt. Im Zaudern wird der Boden, »auf dem überhaupt sich eine Welt, ein Weltverhältnis konstituiert« (S. 25) aufgewühlt.

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Wie grundlegend Vogls kulturwissenschaftliche Reflexion in die Philosophie drängt, wird hier bereits deutlich. So bestimmt sein Text den Anspruch eines systematisch ausgearbeiteten Beitrags zur akademischen Tradition zurückweist, so deutlich wird doch schon in dieser ersten Annäherung an das Zaudern, dass hier ein Phänomen besichtigt wird, das die Vorstellung einer die philosophische Frage sicher zu ihrer Antwort führenden Methode überhaupt als irrig erweist. Die Schwierigkeit, Einsicht in die eigene Bedingtheit zu erlangen, die Schwierigkeit, welche die Philosophie von den Anfängen als ihr methodisches Problem begleitet hat, wird in Richtung einer überraschenden Lösung gelenkt: Nicht das souverän gebaute Argument – die Irritation, der Bruch, die Krise schafft den Moment, in welchem sich die das eigene Weltverhältnis sichernde Basis selbst zeigt.

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Orestes’ Innehalten, seine die schon angesetzte Bewegung zur Tötung der Mutter unterbrechende Frage ›Was tun?‹ ist nicht einfach Aufschub, sondern präsentiert die Tat »einen Moment lang unter dem Aspekt ihrer bloßen Möglichkeit« (S. 28). Orestes hat das Vermögen zum Unvermögen, die Option, nicht zu handeln. Sein Mord ist Wahl, eine bedingte Handlung, deren Bedingtheit jedoch erst dann aufscheint, wenn sie sich vor dem Hintergrund der Möglichkeit im Moment des Zauderns zeigt.

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Das Zaudern wird so ›Zäsur‹ in Hölderlins Sinn, »eine Aktivität, die den Akt deaktiviert« (S. 37), gegen den Rhythmus geht und diesen gerade hierin als Folge einer bestimmten und bedingten Wahl aufzeigt. Das Gesetz wird als Setzung erkennbar und Vogls Thema als auch in Bezug auf die großen Fragen des Urteils, der Singularität, der nicht verallgemeinerbaren Allgemeingültigkeit relevant.

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Vom Willen zum Nichts zum Nichts an Willen

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Damit aber ist klar, dass die hier durchgeführte grundlegende Art, das Phänomen zu befragen, notwendig über dessen enges Verständnis als Körpergeste hinausführt.

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Die erratische Verhandlungsstrategie von Schillers Wallenstein, sein unverständliches Stillhalten zwischen den Fronten versteht Vogl als auf Permanenz gestelltes Zaudern. Gerade der eher ereignislose Mittelteil der Trilogie, Die Piccolomini, präsentiert einen Wallenstein ›für jeden Geschmack‹, einen Heerführer, der sich in keiner Hinsicht auf nur eine Rolle festlegen lässt, »stets von sich selbst abweicht [...] und ganz kurz zu einem ›Ich möchte lieber nicht‹, zu einem ›I would prefer not to‹ eskaliert.« (S. 43). Verweigerung als Provokation des Moments reiner Potentialität, wie es Giorgio Agamben an Melvilles Bartleby ausgearbeitet hat. Geradezu ostentativ belässt es Vogl bei der Anspielung, nimmt aber den Gedanken implizit auf. Der fundamentale Charakter dieses Zauderns ergibt sich nicht aus der Situation des Wählens zwischen zwei Weisen des Handelns, sondern zwischen Wahl und Nicht-Wahl »und rührt damit an das Problem eines Willens, der sein Prinzip verloren hat und von verschiedenen Wählbarkeiten über einen Willen zum Nichts schließlich zu einem Nichts an Willen voranschreitet.« (S. 44).

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Damit ist auch der konstellative Fokus, die Hervorhebung des Zauderns als Kräftediagramm zu Beginn des Essays um eine genuin zeitliche Dimension erweitert. Eine Zeitlichkeit, die sich dem Nacheinander chronischer genauso wie dem Punktgenauen kairologischer Zeit (dem nicht auf linearer Entwicklung beruhendem plötzlichen, einfachen Passen) verweigert. Stattdessen hat sich »im angehaltenen Augenblick der Wahl zwischen Wählen und Nicht-Wählen« der »Ereignispunkt [...] zu einer erratischen Fläche zerdehnt« (S. 46), dessen unausgesetztes Hin und Her, seine »fortlaufende Setzung und Zurücknahme von Bestimmungen« (S. 50) sich grundlegend von der leeren Statik bloßer Unbestimmtheit unterscheidet.

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Dass Vogl diese außergewöhnliche Möglichkeit, im Zaudern sozusagen über den eigenen Schatten zu springen und sich in eine »Zwischen-Zeit [zu versammeln, FG], in der sich die Kontingenz des Geschehens artikuliert« (S. 57) methodisch wenden will, ist nach dem bisher Entwickelten nur konsequent. Die Andeutung, dass im Zaudern eine Lösung der Schwierigkeit des philosophischen Fragens nach der eigenen Bedingtheit liegen könnte, muss weiter ausgeführt werden. Der von Vogl auffällig unauffällig gehaltene Martin Heidegger hatte philosophische Strenge von wissenschaftlicher Exaktheit getrennt. Vogl verfolgt in Bezug auf das literarische Zaudern eine ganz ähnliche Strategie. Die Unzulänglichkeit nach wissenschaftlichem Maßstab ist nicht mit Beliebigkeit gleichzusetzen. Mit »dem Zaudern formiert sich eine analytische Methode im Innern der Literatur« (S. 61).

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Die kulturhistorisch bisher insbesondere mit Blick auf die Dissoziation zwischen großer Vernunft des Leibes und kleiner Vernunft des Geistes (Nietzsche) bzw. in Bezug auf das Motiv des kranken Körpers in der décadence oder die Grenzen des Sagbaren in der Sprachkrise um 1900 beobachtete »Willens-Pathologie« des fin de siècle sieht Vogl nun in Verbindung mit der Herausbildung eines solchen literarischen Zauderdiskurses.

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In einer knappen, in ihrer Zugespitztheit aber sehr genaue Lektüre einiger Grundcharakteristika von Musils Der Mann ohne Eigenschaften wird die dem »pedantische[n] Verfahren« der »Wiederholung des Einzelnen im Allgemeinen« entgegen gesetzte genuin literarische, auf, wie Musil es nennt, ›phantastische Genauigkeit‹ gerichtete Analyse herausgearbeitet. Der Fall Moosbrugger erweist sich als jene Blockade im eingefahrenen und exakten juristischen Denken, der das »Unterscheidungs- und Urteilssystem [...] seine eigenen Unbestimmtheiten und Paradoxien« erzeugen lässt (S. 70). Der unter keine Regel fallende Moosbrugger zwingt zur genauen Betrachtung seiner konkreten Person, seines konkreten Falls. Diese genaue Betrachtung aber führt zur Auflösung des zu beurteilenden Gegenstandes in einer endlosen Menge an Informationen, an Motiven, Seitenmotiven bis hin zum unauflösbaren Komplex des psycho-physischen Apparats. Die ›phantastische Genauigkeit‹ ersetzt mithin die auf Allgemeinheit zielende pedantische durch eine endlos sich verzweigende Betrachtung des individuellen Falls. Sie »fährt in die Falten der Tatsachen« und löst »eine Unterscheidungskunst aus, die sich [...] als Kritik nur so begreifen lässt, dass sie eine Krise, einen Sturz von Urteilssystemen auslöst.« (S. 71). Die hier operierende ›paradoxe Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit‹ (Musil) sieht Vogl »als das intellektuelle Substrat der Zauderfunktion.« (S. 71). So wird das Zaudern Teil einer »Methodenlehre der Kontingenz« (S. 73).

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Zaudern methodisch

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Damit aber rehabilitiert Vogl das Defizitäre des Zauderns nicht nur, sondern macht es zum eigentlich Gewollten. Bleibt die Einsicht in die Kontingenz der Welt auf theoretischer Ebene unexplizierbar oder aber banal, so führt das literarische Zaudern gerade als Paradox und performativer Widerspruch zur ganz sinnlichen Einsicht in diese Grundbedingung menschlicher Existenz. Hier zeigt sich, was nicht mehr gesagt werden kann.

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Damit aber kann die Irritation, die Störung und Unterbrechung auch nicht mehr auf die Seite des Protagonisten beschränkt bleiben, wird nicht in erster Linie er, sondern der Leser selbst in die Synkope, die Suspension gezogen, die den Boden seines Weltverhältnisses aufwühlt. Dieser Proliferation des Zauderns auf unterschiedlichen Ebenen des Werkes, der Produktions- wie Rezeptionsprozesse müsste noch genauer nachgegangen werden. Dann erst würde in vollem Umfang klar, was es bedeutet, Kafkas literarisches Zauderverfahren in philosophischer Nähe zum Hankel’schen Paradox und zu Alan Turings Überlegungen zur Entscheidungsmaschine als weiteren Versuch, »Willens- und Entscheidungsmetaphysik am Leitfaden des Labyrinths auf ihren mysteriösen Ungrund zu beziehen« (S. 95) zu verstehen.

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Das »Aushalten einer Schwellenwelt« (S. 104), nicht deren Auflösung, wird entscheidend, die literarische Praxis, welche Autor wie Leser Zaudern macht. Die gezielt provozierte Krise, in welcher unsere Anästhesierung im Alltag durch die automatisierten Handlungszusammenhänge für einen Moment aufgebrochen wird, birgt den sinnlichen Mehrwert, der das Zaudern philosophisch relevant macht.

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Der Versuch Vogls, sein Thema abschließend unter dem Aspekt der Idiosynkrasie zu verdichten, hat auf den ersten Blick etwas Repetitives. Sätze wie: »Die Jetztzeit, die Zeit des Erleidens und Tuns öffnet sich auf eine gegenwartslose Zeit, zu der ›ich‹ keine Beziehung hat, in der es abgestorben oder ungeboren bleibt und sich apathisch, als Zeuge unmöglicher Erfahrung erfährt« (S. 107) fügen dem bisher Gesagten kaum etwas hinzu – und intensivieren doch die Vorstellung vom Zaudern als genuine und genuin philosophische Erfahrung immanent transzendierender Idiosynkrasie. Das Eigenste wird zum Allgemeinsten. Die phantastische wird zur idiosynkratischen Genauigkeit modifiziert, die sich »gegen die Festigkeit der Welt, gegen die Unwiderruflichkeit von Urteilen« wendet (S. 108/9).

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Politisches

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Und auch die auf solche Thesen wohl obligatorisch folgende Volte zur Diskussion ihrer politischen Relevanz gerät Vogl nicht peinlich. Einer noch einmal an Musils Mann ohne Eigenschaften und dessen General Stumm von Bordwehr erinnernden kurzen Reflektion über das Ziel- und Tötungsvokabular, welches die auf Schlag-Fertigkeit ausgerichtete politische Rhetorik bestimmt, stellt er das Zaudern, die idiosynkratische Standfestigkeit als »spezifischen Gefahrensinn« gegenüber (S. 111). Ein Gefahrensinn, den es heute wohl mehr denn je braucht. So scheint Vogl das Zauder-Verfahren nicht nur zum »programmatische[n] Anliegen« für die Kultur- und Geisteswissenschaften machen zu wollen, sondern auch eine Modifikation der politischen Praxis durch methodisches Zaudern zu imaginieren.

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Man kann Vogls Herangehensweise an Phänomen und Konzept des Zauderns durch die drei generellen Perspektiven beschrieben finden, die er schon nach gut der Hälfte seines Essays explizit formuliert: das Zaudern appelliert an eine systematische Ausrichtung seiner Frageweise »erstens durch eine problematische Struktur, die in allen Antworten und Lösungen weiterhin insistiert; zweitens durch den Bezug auf eine Ereignisform, die das Geschehen ins Passepartout seiner Kontingenz einrückt; und drittens durch eine Methode der Infragestellung, die das System von Gesetz und Urteil desorganisiert.« (S. 76). Eine Philosophie des Zauderns kann somit auch nicht mehr die einfache Fortsetzung klassischer Denkmuster mit ausgetauschtem Objekt sein. Vielmehr wird deutlich, dass klar formulierbare Antworten und Lösungen ausbleiben müssen, wo sich die Einsicht in die Kontingenz unseres Weltverhältnisses ereignet. Damit ist eine Philosophie des Zauderns auch nicht so sehr durch ihre neue Theorie als vielmehr durch ihre veränderte Praxis bestimmt. Eine neue Methode, die kein Algorithmus ist, ein neues Verfahren, das nicht einfach durchgeführt und zu eindeutigen Ergebnissen gebracht werden kann. Diese entscheidenden Konsequenzen für ein philosophisches Denken, das nicht auf die akademische Disziplin der Philosophie beschränkt bleibt, sondern alles Fragen nach der Situation des Menschen in der Welt angeht, sind die offenen Enden dieses explizit offen gehaltenen Essays. Hier gilt es weiterzudenken, um das Zaudern endgültig aus dem Status eines nur kulturwissenschaftlich interessanten Phänomens unter anderen zu lösen. Auf diesem Weg könnten der zum Ende des Textes halbherzig zurückgewiesene Heidegger mit seiner Idee der ›Versammlung‹ oder auch der eben nur gestreifte Agamben tatsächlichen Wert für das Thema bekommen. Doch das bleibt für später.