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»Der Operntext soll ein Carton sein,
kein fertiges Bild«

Ein Supplement-Band zum Goethe-Handbuch beschäftigt sich mit Musik und Tanz in den Bühnenwerken

  • Gabriele Busch-Salmen (Hg.): Goethe-Handbuch. Supplemente Band 1. Musik und Tanz in den Bühnenwerken. Hg. unter Mitarbeit von Benedikt Jeßing. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2008. 562 S. 94 Abb. Gebunden. EUR (D) 89,95.
    ISBN: 978-3-476-01846-5.
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Im Mai dieses Jahres wird im Rahmen der »Schwetzinger Festspiele« im Rokokotheater des Schwetzinger Schlosses die Uraufführung einer neuen Oper stattfinden: Proserpina. Monodram für Sopran, Frauenchor und Orchester. Musik von Wolfgang Rihm. Text von Johann Wolfgang von Goethe. Bei einer nicht geringen Zahl von Festspielbesuchern dürfte diese Konstellation Verwunderung auslösen, denn schon dass Goethe überhaupt einen solchen Text geschrieben hat, ist wenig bekannt; dass es sich dabei um ein Libretto handelt, mit dem er einen nicht ungewichtigen Beitrag zur einst hochaktuellen musiktheatralischen Gattung des Melodramas geliefert hat, ist so gut wie unbekannt; und dass Rihm keineswegs der erste Komponist ist, der dieses Libretto vertont hat, dies dürften wirklich nur Spezialisten wissen. Doch die Reihe der Proserpina-Kompositionen reicht zurück bis in das Jahr 1778. Die erste Vertonung des Textes stammt von dem Weimarer Kammerherrn Carl Siegmund Freiherr von Seckendorff, der die Musik zur Uraufführung von Goethes »dramatischer Grille« Triumph der Empfindsamkeit im Jagdschloss Ettersburg geliefert hatte, in die Proserpina noch als Spiel im Spiel eingefügt war. Die Reaktionen waren gespalten. Während einige das »schöne Melodram« als »ein Meisterstück in Text, in der Composition und Theaterspiel« lobten (zitiert nach S. 227), äußerte Herder, es sei ein »Mischspiel, das sich nicht mischt, ein Tanz, dem die Musik hintennach, eine Rede, der die Töne spähend auf die Ferse treten« (zitiert nach S. 229, Anm. 32). Die zweite Vertonung der Proserpina, die Goethe aus ihrem ursprünglichen dramatischen Kontext nunmehr herausgelöst hatte, besorgte gut 35 Jahre später der Kammermusikus und Leiter der Goetheschen Hauskapelle Franz Carl Adelbert Eberwein. Seine Vertonung war wesentlich erfolgreicher. Goethe selbst schrieb in einem nach der Weimarer Aufführung entstandenen Aufsatz, die Musik sei

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hier ganz eigentlich als der See anzusehen […], worauf jener künstlerisch ausgeschmückte Nachen getragen wird, als die günstige Luft, welche die Segel gelind, aber genugsam erfüllt und der steuernden Schifferin, bei allen Bewegungen nach jeder Richtung willig gehorcht. (Zitiert nach S. 231.)
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Zu diesen beiden vollständigen Vertonungen kommen noch die 1804 in London uraufgeführte Version in italienischer Sprache des Münchner Hofkapellmeisters Peter von Winter sowie Teilvertonungen von Seckendorffs, Johann Friedrich Reichardts und, 1948, Erich Sehlbachs. Rihm stellt sich mithin in eine Tradition, die zwar keine großen Namen aufzuweisen hat, die aber nichtsdestotrotz geprägt ist von zahlreichen ambitionierten Versuchen, eine Musik zu schreiben, die Goethes anspruchsvollem Text angemessen wäre; und dass der so geschichtsbewusste wie literaturaffine Komponist – er hat immer wieder deutsche Literatur vertont, von Büchner bis Grünbein – sich dessen bewusst ist, davon wird man ausgehen können. Auf seine Neuvertonung der Proserpina – die erste im 21. Jahrhundert – darf man also gespannt sein.

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Goethes Musiktheater:
Zum bisherigen Stand der Forschung

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Es sind Zusammenhänge wie diese, die man sich mit Hilfe eines gerade erschienenen Supplement-Bandes zum Goethe-Handbuch vor Augen führen kann: Der von Gabriele Busch-Salmen und Benedikt Jeßing herausgegebene Band widmet sich »Musik und Tanz in den Bühnenwerken« Goethes und reagiert damit auf Entwicklungen in der jüngeren Goethe-Forschung. Denn musste Markus Waldura am Ende seines »Singspiel«-Artikels im zweiten, Goethes Dramen gewidmeten Band des Goethe-Handbuchs von 1996 noch einen »insgesamt unbefriedigende[n] Stand der Forschung« konstatieren, den er »zum einen aus der Rezeptionsgeschichte des Forschungsgegenstandes, zum anderen aus der Geschichte der mit ihm befassten Disziplinen« erklärte, 1 hat sich die Situation in dem seither vergangenen Jahrzehnt erfreulicherweise grundlegend verändert. Dazu haben unter anderem die Arbeiten Jörg Krämers, 2 Tina Hartmanns 3 und Beate Agnes Schmidts 4 beigetragen, die aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt haben, dass Goethes Libretti nicht, wie es lange geschehen ist, von der Warte der Autonomieästhetik aus betrachtet und somit als bloße Nebenwerke abgetan werden dürfen, sondern dass sie in den Kontexten der Gattung Libretto und der unterschiedlichen musiktheatralischen Traditionen, an denen sie partizipieren, gesehen werden müssen. Vor diesem Hintergrund konnten die Libretti Goethes als ehrgeizige und zum Teil durchaus erfolgreiche, größtenteils aus verschiedenen Gründen aber letztlich gescheiterte Arbeiten eines Autors gewürdigt werden, der sich Zeit seines Lebens intensiv mit dem Musiktheater auseinandergesetzt hat. Insgesamt kann der Librettist Goethe mittlerweile als rehabilitiert gelten.

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Nahezu einen blinden Fleck – zum Teil auch in den genannten Untersuchungen – stellten bislang jedoch die Vertonungen der Goetheschen Libretti dar, denn das umfangreiche, heterogene und häufig schwer zugängliche Notenmaterial war bislang noch nicht im Zusammenhang aufgearbeitet worden, sieht man von einer unvollständigen tabellarischen Übersicht in der Studie Benedikt Holtbernds 5 und einigen wenigen Einzelbeiträgen einmal ab. 6 Mithin sind inzwischen zwar die literarischen Textsubstrate des Goetheschen Musiktheaters ausgiebig (wenn auch noch nicht erschöpfend) analysiert und interpretiert worden, in der Regel aber eben nicht die vollständigen, d.h. vor allem um die dazugehörige Musik ergänzten Werke und ihre Aufführungen. Dass dies methodisch problematisch ist, liegt auf der Hand, denn innerhalb des multimedialen Gesamtkunstwerks Oper ist der Text schließlich deutlich weniger privilegiert als im Sprechtheater. Goethe selbst war sich – trotz seiner hohen literarischen Ansprüche an das Libretto – über dessen funktionalen Status vollkommen im Klaren und hätte gegen eine sich auf die Untersuchung des Textes beschränkende Herangehensweise daher sicherlich protestiert. Dies belegt unter anderem ein Brief, den er aus Rom an Charlotte von Stein schrieb:

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Erwin und Elmire kommt mit diesem Brief, möge dir das Stückchen auch Vergnügen machen! Doch kann eine Operette, wenn sie gut ist, niemals im Lesen genugtun; es muß die Musik erst dazu kommen, um den ganzen Begriff auszudrücken den der Dichter sich vorstellte. (Zitiert nach S. XIII.)
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Und in einem Brief an Zelter aus dem Jahr 1812 kleidete er diesen Gedanken in ein Gleichnis, wobei er dem Komponisten nun allerdings schon eine größere Autonomie zugestand. Unverkennbar handelt es sich bei dieser Passage um ein poetologisches Credo des Librettisten Goethe:

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[…] ich halte davor, der Dichter soll seine Umrisse auf ein weitläuftig gewobenes Zeug aufreißen, damit der Musikus vollkommenen Raum habe seine Stickerei mit großer Freiheit und mit starken oder feinen Fäden, wie es ihm gutdünkt, auszuführen. Der Operntext soll ein Carton sein, kein fertiges Bild. (Zitiert nach S. 56.)
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Mit der Erforschung nur der Libretti Goethes – der »Carton[s]« also und nicht der »fertige[n] Bild[er]« – konnte man sich darum keinesfalls zufriedengeben.

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Indem im Supplement-Band »sämtliche musiktheatralische Werke [Goethes] in den Blick genommen [werden]« (S. XIII), und zwar mit einem Schwerpunkt auf der Musik, wurde dieses Desiderat nun zum ersten Mal in vollem Umfang in Angriff genommen. Und um es gleich vorwegzunehmen: Mit diesem Band liegt der Goethe-Forschung – und nicht nur dieser – jetzt ein Hilfsmittel vor, das nicht nur, wie es betont bescheiden in der Einleitung heißt, die Möglichkeit »weitergehender Studien« eröffnet (S. XV), sondern den Forschungsstand im Grunde auf eine völlig neue Stufe hebt.

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Aufbau

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Eingeleitet wird der Band von drei größeren Überblicks-Artikeln, die sich mit der »Theaterpraxis in Weimar« (Gabriele Busch-Salmen), »Goethes Bezeichnungsvielfalt musiktheatralischer Genres« (Bodo Plachta) und der »Rezeption von Goethes Singspielen« (Jörg Krämer) beschäftigen. Hier kann sich der Leser zusammenhängend über diese wichtigen Aspekte informieren. Darauf folgt der Hauptteil mit »Goethes Bühnenwerken und Entwürfen in Einzeldarstellungen« – und dass dies nicht weniger als 58 sind, die mit Die Laune des Verliebten aus den 1760er Jahren beginnen und mit dem »improvisierten Opernplan« Moses von 1828 enden, zeigt noch einmal, welch großen Stellenwert das Musiktheater in Goethes Dramatik tatsächlich einnimmt. Die Einzeldarstellungen, für die zwanzig Verfasserinnen und Verfasser aus Germanistik, Musik-, Tanz- und Theaterwissenschaft verantwortlich zeichnen, folgen – sofern es das Material zulässt – einem schematisierten fünfteiligen Aufbau: der erste Abschnitt gilt dem »Text« des jeweiligen Stückes, der zweite dessen »Inhalt«, der dritte der »Musik« und der vierte der »Bühnenrealität«; der fünfte Abschnitt schließlich enthält noch einen »Kommentar«, in dem das Stück zusammenfassend interpretiert wird. Ein Literaturverzeichnis schließt jede Einzeldarstellung ab. Diese Gliederung erweist sich als übersichtlich und die Artikel somit als sehr gut benutzbar. Positiv hervorzuheben ist außerdem die reiche Bebilderung des Bandes unter anderem mit selten zu sehenden zeitgenössischen Titelkupfern, Theaterzetteln, Ballankündigungen, Porträts und Partiturauszügen. Diese Abbildungen tragen wesentlich mit dazu bei, die reiche Welt des Goetheschen Musiktheaters vor den Augen des Lesers anschaulich wiedererstehen zu lassen.

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Das Naturtheater von Tiefurt: Die Fischerin

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Die Leistung des Bandes, der sich als »Ergänzung und Erweiterung« zu dem Dramen-Band des Goethe-Handbuches versteht (S XIII), wird im Vergleich zu jenem besonders deutlich. Um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen: Während der bereits zitierte ›Singspiel‹-Artikel Walduras über das wahrscheinlich am 22. Juli 1782 im Tiefurter Park uraufgeführte »Wald- und Wasserdrama« Die Fischerin lediglich einen knappen Absatz enthält, 7 bietet der Supplement-Band eine umfangreiche Darstellung dieses Stückes auf nicht weniger als 22 Seiten. Die Fülle an Informationen und Materialien ist beeindruckend: So wird etwa Goethes Widmung des Librettos an Johann Gottfried und Caroline Herder abgedruckt – ein in vieler Hinsicht aufschlussreicher Paratext, da Goethe in ihm Herder, dessen Sammlung Volkslieder ihm als wesentliche Quelle gedient hatte, geradezu zum Mitautor erklärt; Hintergrund dieser Widmung war wohl die zunehmende Entfremdung zwischen Herder und Goethe, der dieser entgegenwirken wollte. Weiterhin werden die verschiedenen Drucke des Librettos samt ihrer Standorte und Signaturen angegeben. Wie genau diese Quellen ausgewertet wurden, zeigt sich unter anderem daran, dass ein weiterer Paratext, nämlich eine einzelne Fußnote aus einem der Libretto-Drucke, zitiert wird. Sie erweist sich als äußerst hilfreich bei der Rekonstruktion der Uraufführung:

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Auf dieses Moment [nach dem Stichwort »Und Feuer an!«, F.v.A.] war eigentlich die Wirkung des ganzen Stücks berechnet. Die Zuschauer saßen, ohne es zu vermuthen, dergestalt, daß sie den ganzen schlängelnden Fluß hinunterwärts vor sich hatten. In dem gegenwärtigen Augenblick sah man erst Fackeln sich in der Nähe bewegen. Auf mehreres Rufen erschienen sie auch in der Ferne; dann loderten auf den ausspringenden Erdzungen flackernde Feuer auf, welche mit ihrem Schein und Widerschein den nächsten Gegenständen die größte Deutlichkeit gaben, indessen die entferntere Gegend rings umher in tiefer Nacht lag. Selten hat man eine schönere Wirkung gesehen. Sie dauerte, unter mancherley Abwechslungen, bis an das Ende des Stücks, da denn das ganze Tableau noch einmal aufloderte. (Zitiert nach S. 295.)
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Einen Eindruck von der Szenerie vermittelt auch ein Aquarell von Georg Melchior Kraus aus dem Jahr der Uraufführung, das in dem Artikel – wie auch die Titelseite des ersten Librettodrucks und der Theaterzettel – abgebildet wird. Welcher Aufwand bei der Vorbereitung der Uraufführung betrieben wurde, erfährt man ebenfalls:

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Die Fischerhütten wurden aus Brettern und Latten gezimmert und das ans Ufer gelegte Szenario machte Bauarbeiten am Ufer nötig. Kähne mußten verankert werden; zur Illumination wurden große Mengen an Pech, das man in Pfannen entzündete, Fackeln, Lampen, sowie Brennholz herbeigeschafft und Brennstellen errichtet. (S. 307)
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Insgesamt wird sehr deutlich erkennbar, mit welchem Einfallsreichtum der »natürliche Schauplatz« des Tiefurter Parks in die Inszenierung des Stückes miteinbezogen wurde. Die Uraufführung der Fischerin muss ein echtes event gewesen sein. Die Weimarer Hofdame Luise von Göchhausen jedenfalls schrieb danach in einem Brief, »der schöne Abend, die Musik u. Beläuchtung« hätten »das Ganze zu einem sehr artigen Divertimento« gemacht (zitiert nach S. 313).

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Und damit zur Musik, die, wie dieser Brief andeutet, zum Gelingen des »schöne[n] Abend[s]« einen entscheidenden Beitrag geleistet haben muss. Die erste Vertonung der Fischerin stammt von der Sänger-Schauspielerin Corona Schröter und ist in Form einer in der Anna Amalia-Bibliothek aufbewahrten Particell-Abschrift überliefert. Offenbar verfügte Schröter auch als Komponistin über eine breite Ausdruckspalette: So griff sie für Dortchens Auftrittslied – den Erlkönig – auf das Modell der Kunstballade und für ihre Ariette auf die »[d]reiteilig angelegte Cavatine nach Art der Leipziger Singspiele Johann Adam Hillers« (S. 298) zurück; sie zeigt aber auch »Vertrautheit mit dem musikalischen Vokabular der Schreckensszenen im zeitgenössischen Singspiel« (S. 299). Über die einzelnen Nummern erfährt man darüber hinaus Ton- und Taktarten, formale und instrumentatorische Charakteristika sowie manchmal sogar Details des musikalischen Satzes. Im Ganzen ergibt sich das Bild einer durchaus gekonnten Komposition, die eine erstaunliche Nähe zu der Gattung des Liederspiels aufweist, die – allerdings erst zwanzig Jahre später – von Johann Friedrich Reichardt definiert wurde und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts dann durchaus beliebt war. Es ist bedauerlich, dass Schröter danach keine Gelegenheit mehr hatte, ihre zweifellos vorhandene musiktheatralische Begabung zu pflegen.

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Wie man einer Zeittafel entnehmen kann, wurde Die Fischerin danach noch wiederholte Male vertont und aufgeführt: so 1826 von Maximilian Eberwein, dessen Vertonung im Rudolstädter Komödienhaus und in Hauskonzerten bei Goethe sowie seiner Schwiegertochter aufgeführt wurde, und so 1939 von Rudolf Moser, dessen Vertonung konzertant in Basel aufgeführt wurde; aber auch die Vertonung Schröters wurde wiederholt wiederaufgeführt: 1857, 1910 und 1987 in Weimar sowie 2002 und 2003 in Herne und Knechtsteden.

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Es dürfte deutlich geworden sein, wie sehr der Band seinem Anspruch, »Ergänzung und Erweiterung« des Dramen-Bandes zu sein, in diesem Fall gerecht geworden ist. Hier bleiben im Grunde keine Fragen offen.

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Von den Ungleichen Hausgenossen zur Traviata:
Die Rezeption der Libretti Goethes

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Wichtige Informationen zur Rezeption der Goetheschen Libretti bis ins 20. Jahrhundert und damit auch zu Goethes Rezeptionsgeschichte generell enthält der bereits erwähnte Überblicks-Artikel Krämers, der von dem Befund ausgeht, dass »Goethes Texte mit ihrer 200jährigen Rezeptionsgeschichte […] einen Sonderfall in der deutschen Librettistik darstellen« (S. 95). Denn einerseits kann nicht übersehen werden, dass »von den zahlreichen Stücken, Fragmenten und Plänen, die Goethe für das Musiktheater schrieb, nie die Wirkung aus[ging], die er sich versprach« (S. 75), andererseits aber »ist die Rezeption dieser Texte reich an wichtigen, aufschlussreichen und signifikanten Zügen, die zudem einen Einblick in die Entwicklungsgeschichte des deutschsprachigen Musiktheaters seit der Goethezeit ermöglichen« (ebd.). Krämer unterscheidet drei Phasen, »in denen die Rezeption jeweils von spezifischen Leitparadigmen dominiert wird« (ebd.): erstens »der Zeitraum bis zu Goethes Tod«, zweitens »die Zeit der bürgerlichen Kultur bis ins frühe 20. Jahrhundert«, und drittens »die Klassische Moderne bzw. die historischen Avantgarde-Bewegungen mit ihren verschiedenen Ansätzen, sich von den Traditionen des bürgerlichen Theaters zu lösen« (ebd.). Zudem »zerfällt die Wirkung der Goethe-Texte innerhalb dieser drei Zeiträume in eine bühnenpraktische sowie in eine literarische ›Text‹-Rezeption« (ebd.). Innerhalb dieser drei Phasen stößt man immer wieder auf Bemerkenswertes: So etwa, dass der junge Richard Wagner um 1830 eine Schäferoper nach dem Vorbild der Laune des Verliebten schrieb, und dass 1895/96 Cosima Wagner eine Bearbeitung von Goethes Lila anfertigte – und zwar für Richard Strauss, der schon als 13-jähriger begonnen hatte, dieses Stück zu vertonen. Aufgrund konzeptioneller und persönlicher Differenzen mit Cosima gab er das Projekt jedoch bald auf. Nach 1900 wurden Libretti Goethes dann vorrangig von Komponisten vertont, die bemüht waren, sich von Wagner abzusetzen; Beispiele sind Othmar Schoecks Erwin und Elmire, Egon Wellesz’ Scherz List und Rache und Ernst Křeneks Triumph der Empfindsamkeit. Wie Rihms Proserpina sich zu dieser Tradition verhalten wird, und ob es im 21. Jahrhundert zu einer neuen Rezeptionsphase kommen wird, bleibt abzuwarten.

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Ein Thema für sich stellt die Rezeption der Bühnenlied-Texte dar, von denen viele sehr schnell ein Eigenleben jenseits ihrer ursprünglichen Kontexte zu führen begannen; das einschlägigste Beispiel hierfür ist sicherlich der Die Fischerin eröffnende Erlkönig, der nicht nur zu einem der bekanntesten Gedichte der deutschen Literatur wurde, sondern auch immer wieder vertont wurde: Schuberts Vertonung ist nur eine von vielen, zu nennen sind etwa auch Beethoven, Meyerbeer, Spohr sowie Zelter und Zumsteeg, im 20. Jahrhundert kommt noch Hans Werner Henze hinzu. Vielen dieser Komponisten war dabei überhaupt nicht bewusst, dass der Text aus einem Singspiel stammte. Aber auch angesichts der musikalischen Rezeptionsgeschichte anderer Bühnenlieder kann man nur staunen: Von Brahms über Lehár bis Wolf reicht die Reihe der Komponisten, die diese Texte vertont haben. Auch Mozart befindet sich darunter: Seine einzige Goethe-Vertonung ist das ›Veilchen-Lied‹ aus Erwin und Elmire.

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Am Ende seines Artikels weist Krämer auf einen außergewöhnlichen Fall hin, der die besondere Rezeptionsgeschichte der Goetheschen Libretti noch einmal auf besonders anschauliche Weise verdeutlicht. Der Text eines Liedes des jungen Verdi (Chi i bei di m’adduce ancora) nämlich stellt sich bei genauerem Hinsehen als eine Übersetzung der Arie der Baronesse »Ach, wer bringt die schönen Tage« aus dem Opera buffa-Fragment Die ungleichen Hausgenossen heraus:

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Auf welchen Wegen dieser Text in Übersetzung zu Verdi gefunden hat, ist unklar; daß Verdi um den ursprünglichen musikdramatischen Kontext wußte, ist zu bezweifeln. Dennoch schließt sich auch hier ein eigener Kreis: Verdi hat die Musik dieses Liedes später in La Traviata an hervorgehobener Stelle (Liebesthema der Violetta am Ende des I. Aktes) übernommen und damit der Bühne zurückgegeben. (S. 96)
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Resümee

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Die Verdienste des Bandes sind so groß, dass einige Kritikpunkte demgegenüber nicht schwer ins Gewicht fallen. Unbefriedigend ist jedoch, wie knapp die Einleitung der Herausgeber ausgefallen ist. Hier bleiben leider doch einige Fragen offen. Das betrifft vor allem den dem Band zugrunde gelegten Begriff von Musiktheater, denn dieser wird nicht expliziert; was genau darunter verstanden wird, erfährt man also nicht. Dabei besteht hier durchaus Klärungsbedarf, allein schon deshalb, weil eine kategoriale Trennung von Musik- und Sprechtheater in der Goethezeit ja gar nicht möglich ist. Damit hängt es zusammen, dass man sich fragt, warum manche Stücke nicht aufgenommen wurden: Pandora etwa, zumal Hartmann ja überzeugende Argumente vorgebracht hat, warum dieses Stück zu Goethes Musiktheater gezählt werden kann. 8 Nicht zwingend dazugehört hätte hingegen der Torquato Tasso – heißt es in dem entsprechenden Artikel doch zu Recht, dieser sei »eines der wenigen dramatischen Werke Goethes, in dem Musikalisches […] zwar reflektiert, jedoch nicht als real Erklingendes gefordert« wird (S. 363). Andererseits ist man für den Hinweis auf Reichardts Vertonung des Tasso-Monologs »Bist du aus einem Traum erwacht?« natürlich dankbar. Warum aber kein Artikel über Faust II aufgenommen wurde, obwohl an einer Stelle explizit darauf verwiesen wird, dass dieser »vom Dichter selbst als eine zum Opernlibretto mutierte Dramengestalt angesehen wurde« (S. 446), ist rätselhaft. Sicher können die Herausgeber ihre Entscheidungen in allen diesen Fällen überzeugend begründen, doch hätte man diese Begründungen eben gerne gelesen.

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Etwas unbefriedigt ist man letztlich auch nach Lektüre der der Musik gewidmeten Abschnitte, obwohl man über die einzelnen Vertonungen ja oft – aber nicht immer – sehr detailliert informiert wird. Dass man sich damit dennoch nicht ganz zufrieden geben will, ist jedoch nicht den Verfassern der jeweiligen Artikel anzulasten, es ist vielmehr die Folge eines grundsätzlichen konzeptionellen Problems. Wie dargelegt, bietet der Band in der Art eines wissenschaftlichen Opernführers mehr oder weniger ausführliche Informationen und Kommentare zu den verschiedenen Vertonungen, musikalische Regesten gewissermaßen – aber eben nicht die Musik selbst. Im Unterschied zu den in herkömmlichen Opernführern enthaltenen Stücken sind die Noten der hier beschriebenen Stücke in den allermeisten Fällen freilich nur sehr schwer zugänglich; auch kann man die Stücke, da sie (mit Ausnahme der Beethovenschen Schauspielmusik zu Egmont) aus dem Repertoire herausgefallen sind, in der Regel nicht in Aufführungen oder Aufnahmen erleben. Für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung ist die Einsicht in das Notenmaterial jedoch unerlässlich. Ideal wäre es darum gewesen, wenn die Partituren – wenigstens der einschlägigsten Stücke – dem Band hätte beigegeben werden können, etwa in Form einer CD-ROM. Dass dies nicht geschehen ist, ist höchst bedauerlich, kann den Herausgebern aber nicht zum Vorwurf gemacht werden, da der Aufwand dadurch zweifellos beträchtlich gesteigert und auch die Kosten in die Höhe getrieben worden wären. Auf Dauer wird die Forschung ohne Editionen der Vertonungen aber nicht auskommen.

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Ein rein redaktionelles Problem (das möglicherweise mit dem langwierigen, von mehreren Herausgeberwechseln bestimmten Entstehungsprozess des Bandes zusammenhängt) ist hingegen, dass die einzelnen Kapitel nicht immer aufeinander abgestimmt sind. Zum Beispiel fällt auf, dass die Proserpina-Vertonung Peter von Winters zwar von Krämer erwähnt wird (S. 86), nicht aber im Proserpina-Artikel selbst; dies betrifft auch Carl Ludwig Mangolds und Engelbert Humperdincks Neuvertonungen der Fischerin (S. 91) sowie die Teilvertonung derselben von Robert Ruthenfranz (S. 93). Außerdem sind nicht alle Artikel auf dem aktuellen Stand der Forschungsliteratur, was ebenfalls mit der Entstehungsgeschichte des Bandes zusammenhängen könnte: So wurden Hartmanns Arbeit von 2004 – und damit einige bedenkenswerte Thesen – etwa im Artikel zur Fischerin nicht berücksichtigt. Und auch das Register ist nicht immer zuverlässig: Beispielsweise wird dort zwar auf von Winter als Komponist des Rinaldo verwiesen, nicht aber auf seine Vertonungen der Proserpina und auch nicht auf die von Scherz, List und Rache. Doch wie gesagt: Angesichts der Verdienste des Bandes wiegt all dies nicht schwer. Denn dass man mit seiner Hilfe jetzt endlich nicht mehr nur die »Carton[s]«, sondern tatsächlich fast schon die »fertige[n] Bild[er]« der musiktheatralischen Projekte Goethes studieren kann, ist ein bedeutender Fortschritt.

 
 

Anmerkungen

Markus Waldura: »Die Singspiele.« In: Theo Buck (Hg.): Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 2. Dramen. Stuttgart, Weimar 1996. S. 173–194, hier S. 193.   zurück
Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. 2 Bde. Tübingen 1998.   zurück
Tina Hartmann: Goethes Musiktheater. Singspiele, Opern, Festspiele, ›Faust‹. Tübingen 2004.   zurück
Beate Agnes Schmidt: Musik in Goethes ›Faust‹. Dramaturgie, Rezeption und Aufführungspraxis. Sinzig 2006.   zurück
Vgl. Benedikt Holtbernd: Die dramaturgischen Funktionen der Musik in den Schauspielen Goethes. Frankfurt/M.1992, S. 246–259.   zurück
Vgl. etwa die entsprechenden Beiträge in Andreas Ballstaedt u.a. (Hg.): Musik in Goethes Werk – Goethes Werk in der Musik. Schliengen 2003.   zurück
Vgl. Waldura (wie Anm. 1), S. 180.   zurück
Vgl. Hartmann (wie Anm. 3), S. 423–427.   zurück