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Von Mann zu de Man

  • Jennifer Lorenzen-Peth: Erzählperspektive und Selbstreflexion in Thomas Manns Erzählungen. Sinnkonstitution und Sinndestruktion. Kiel: Ludwig 2008.
    ISBN: 978-3-937719-74-0.
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Die Kieler Dissertation (2007) von Jennifer Lorenzen-Peth befasst sich mit der »Erzählperspektive in ausgewählten Erzählungen Thomas Manns« und ihrem »integrativ[n] Zusammenhang mit der Selbstreflexion dieser Texte« (S. 11). Dabei sollen »wichtige Konstituenten der Verfahrensweise und Strukturen in Thomas Manns Texten« erhellt werden (ebd.). Bei den Erzählungen handelt es sich um Der Weg zum Friedhof, Der Kleiderschrank, Enttäuschung, Gefallen, Die Betrogene, Die vertauschten Köpfe, Der Tod in Venedig und Das Gesetz.

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Aufbau und Argumentation

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Die Arbeit untergliedert sich in zwei Teile. Teil I bietet »Vorbereitende Betrachtungen« (S. 15–110), Teil II sodann die »Analyse ausgewählter Erzählungen von Thomas Mann« (S. 111–341). Die Arbeit endet mit »Abschließenden und weiterführenden Schlussbetrachtungen« sowie dem Literaturverzeichnis. Die Verfasserin bedient sich, wie sie bereits einleitend erläutert, der »phänomenologischen Methode«, weil diese es ermögliche,

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›Perspektive‹ im Text nicht nur als Beschreibung des Erzählers zu verstehen, sondern das Augenmerk auf die Konstitution der Sachverhalte und Gegenstände, letztlich des Sinnes des Textes zu legen (S. 12).
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Damit aber rücke das Wie? des Erzählens in den Mittelpunkt und nicht »(nur) das Wer? des Erzählers« (S. 12). »Somit« werde die »Perspektive des Textes« nicht als eine »Bestimmung des Erzählers« aufgefasst, sondern rezeptionsästhetisch:

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Die Darstellung bestimmter Sachverhalte und die Ausblendung anderer konstituieren oder destruieren den Sinn im Leser. Somit strebt diese Untersuchung eine Verbindung von Rezeptionsästhetik und der durch Paul de Mans Allegorien des Lesens geprägten Dekonstruktion an (S. 12),
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so die Verfasserin. ›Perspektive diene »somit« als Vehikel, Rezeptionsästhetik und Dekonstruktion zu vereinen (ebd.).

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Die »Vorbereitenden Betrachtungen« setzen mit einem »Exkurs« über »Theorien der Erzählperspektive« ein (S. 16–34). Hier werden »in lockerer chronologischer Reihenfolge […] ausgewählte Konzepte« (S. 16) vorgestellt, nämlich diejenigen von Käte Friedemann, Kate Hamburger, Eberhard Lämmert, Franz K. Stanzel und Gérard Genette sowie »weitere Positionen: Weimann, Füger, Schober und Lindemann« (S. 26). Dabei solle gezeigt werden,

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dass die Bestimmung der Erzählperspektive bei den meisten Forschern eng an die Klassifizierung der verschiedenen Erzählsituationen gekoppelt ist und dabei nur als ein Kriterium unter anderen fungiert (vor allem bei Stanzel wird dies deutlich werden) (S. 16).
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Bei Friedmann erscheint der Verfasserin besonders wichtig,

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dass sie die Perspektivität [!] als conditio sine qua non erzählender Texte begreift, aber zugleich auch als Bedingung aller Erkenntnis und ihrer sprachlichen Vermittlung. Damit scheint sie Perspektivität grundlegend im Erzählvorgang der gesamten Erzählung zu verstehen und nicht nur als ein zusätzliches Kriterium in der Klassifikation der Erzählsituation – in diese Richtung zielt auch die Argumentation dieser Untersuchung auf der Basis der rezeptionsästhetischen Phänomenologie. (S. 17)
[12] 

Die sehr knappen, auf ausgewählte Einzelaspekte konzentrierten Referate zu Friedmann und Hamburger bieten der Verfasserin die Gelegenheit, überraschend »eine differenziertere Gliederung des Textes durch Hannelore Link« vorzustellen (S. 19):

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Sie unterscheidet drei Kommunikationsebenen bzw. Beziehungen in der Erzählung. Dadurch werden zugleich Fachtermini in unsere Untersuchung eingeführt, die schon den impliziten Leser und seine Rezeption des Textes einbeziehen. (ebd.)
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Es handelt sich dabei um die bekannte Unterscheidung zwischen (1) Autor und Leser als reale Personen, (2) abstraktem Autor und implizitem Leser sowie (3) fiktivem Autor bzw. Leser im Text. Bei Hannelore Link 1 geht es um Komponenten schriftlicher Kommunikation und um schriftliche Texte im Allgemeinen, nicht jedoch um »Beziehungen in der Erzählung« im speziellen, wie die Verfasserin nahe legt. Die Ausführungen zu dem Modell von Link nehmen jedenfalls die Hälfte des Raumes in diesem fünfseitigen Kapitel über Friedmanns und Hamburgers Auffassungen zum Thema »Erzählperspektive« in Anspruch. Hier stimmt die Gewichtung offenkundig nicht. Ähnlich ‚locker‹ wie in dem Kapitel über Friedmann und Hamburger fallen die weiteren Referate aus. Lediglich das Unterkapitel über die Position Gérard Genettes ist etwas ausführlicher (fünf Seiten) und führt zu der kritischen Bemerkung, Genette verstehe ›Perspektive‹ nicht als ein Element »in der Konstitution des Textes im Leser« (S. 34), sowie zu der Entscheidung, Genettes Terminologie zur Klassifizierung des Erzählers zu verwenden.

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Auf den einleitenden »Exkurs« folgt die Darstellung zweier »Beispiele zum Verständnis der ›Erzählperspektive‹ bei Thomas Mann« (S. 35ff.). Es handelt sich dabei zum einen um Wolfgangs Kaysers Ausführungen in seinem Aufsatz »Wer erzählt den Roman?« (1957) und einzelne Beiträge, die sich mit diesem Aufsatz auseinandersetzen, sowie um Eberhard Lämmerts Aufsatz »Doppelte Optik. Über die Erzählkunst des frühen Thomas Mann« (1970) und Helmut Koopmanns »Die Entwicklung des ›intellektuellen‹ Romans bei Thomas Mann« (1980). Schon früh habe die Forschung auf »den perspektivischen Charakter der Erzählkunst Thomas Manns aufmerksam gemacht« (S. 38; Kaysers Stichwort: »Geist der Erzählung«), »›Perspektive‹« in Manns Texten sei aber zumeist »unter dem Begriff der ›doppelten Optik‹ gefasst« (ebd.) worden – so bei Lämmert oder auch bei Koopmann.

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In einem nächsten Schritt befasst sich die Verfasserin mit Roman Ingardens »Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes« (S. 42–61), mit Wolfgang Isers »Der Akt des Lesens« (S. 61–71) sowie mit Dieter Wolfgang Adolphs Heidelberger Dissertation »Literarischer Erfahrungshorizont. Aufbau und Entwicklung er Erzählperspektive im Werk Thomas Manns« (1985; S. 71–79). Die Verfasserin thematisiert hierbei zunächst Ingardens ›Unbestimmtheitsstellen‹-Theorie und kritisiert dessen Auffassung, dass ein literarisches Werk »richtig konkretisiert oder auch missverstanden« werden könne, als ›normativ‹. Nur »durch die Unterscheidung von impliziten und empirischen Leser (!)«könne man es vermeiden, »von einer ›richtigen‹ bzw. ›falschen‹ Rezeption sprechen und dafür Kriterien finden zu müssen. Die Verfasserin postuliert:

[17] 
Allein die im Text angelegten Rezeptionsstrategien (die Struktur des impliziten Lesers) sind zu untersuchen, nicht die empirisch möglichen Konkretisationen (die unendlich sind). (S. 51)
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Über ein paar weitere darstellerische Schlenker und Erwähnungen kommt die Verfasserin so zu Wolfgang Isers Bestimmung des ›impliziten Lesers‹, der „die Gesamtheit der Vororientierungen« verkörpere, »die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet« (S. 62). Wie Ingarden betone Iser den perspektivischen Charakter des literarischen Werkes, im Unterschied zu Ingarden verbinde er »Perspektivität im Text auf den Ebenen A2-L2 und A3-L3 miteinander« (S. 64), d.h. Hannelore Links Ebenen 2 und 3. »›Perspektive‹ entstehe dabei im Bewusstsein des Lesers, sie ist ›die Struktur der Vorstellungstätigkeit‹« (S. 64). Der implizite Leser aber »ergibt« sich aus der Synthetisierung der (nach Iser) vier »Innenperspektiven«, die der Text ›enthalte‹ (Perspektive des Erzählers, Perspektive der Figuren, Perspektive der »Handlung bzw. Fabel« und Perspektive der ›markierten Leserfiktion‹; S. 66). Die Darstellung des Iserschen Leerstellen-Konzeptes führt schließlich zu der Feststellung:

[19] 
[D]as Werk enthält den hermeneutischen Zirkel des Lesers als Spiel von Motivation und Demotivation in sich: einige Narrationen sind so strukturiert, dass sie den Leser dazu veranlassen, seine hergestellte Sinnkonsistenz im Laufe der Lektüre verwerfen zu müssen. Der Rezipient wird gezwungen, Ambiguitäten zu erzeugen. Wir werden jetzt sehen, inwiefern das auf Thomas Manns Werke zutrifft. (S. 71)
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Damit leitet die Verfasserin zur Darstellung der oben genannten Arbeit Adolphs über, in der die »phänomenologische, rezeptionsästhetische Methode« bereits auf einige Erzählungen Thomas Manns angewendet werde. Schon Adolph interessiere sich bei seiner Bestimmung der Erzählperspektive in Abgrenzung zu traditionellen Positionen nicht für das »Was« (wird dargestellt) oder für das »Wer« (erzählt), sondern für das »Wie« (ist etwas perspektivisch dargestellt). Dabei werde »Perspektive« als »Fluchtpunkt« der Erzählung definiert, in dem alle Erzählmomente zusammenlaufen (S. 72). Schon bei Adolphs findet die Verfasserin die Auffassung, dass ein literarisches Werk »den hermeneutischen Zirkel des Verstehens in seine Form mit aufnehmen« könne. Es heißt bei Adolphs:

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Der Erwartungshorizont steht dem Text nicht mehr äußerlich gegenüber, sondern wird von ihm [dem Text!] zunächst akzeptiert und als Moment der Darstellung begriffen. Das heißt aber, dass ein literarisches Werk den hermeneutischen Zirkle des Verstehens in seiner Form mit aufnehmen kann, um den Rezeptionsvorgang vorzustrukturieren und zu lenken; mitunter wird die Grundform des Verstehens auf diese Weise durch den Text selbst aufgezeigt und durch den Gang der Erzählung selbst reflektiert. (S. 74)
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Hierin sieht die Verfasserin die Auffassung bestätigt, dass die Grundlage der Textanalyse die textinternen Rezeptionsstrategien seien, die in ihrer Gesamtheit den impliziten Leser konstituieren. Dabei sei diese Gesamtheit, also der implizite Leser, ein Mittel, »den [tatsächlichen] Leser auf seine durch ihn selbst hergestellte Sinnkonfiguration reflektieren zu lassen« (S. 74).

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Diese textuelle ›Inklusion‹ und Funktionalisierung des »hermeneutischen Zirkels des Lesers« bezeichnet die Verfasserin als »Allegorisierung«, womit sie eine »Schnittstelle der theoretischen Ansätze von Rezeptionsästhetik und Dekonstruktion« (S. 79) erreicht zu haben meint. Dies führt sie im folgenden Kapitel (»Allegorisierung und Selbstreflexivität«, S. 80–102) weiter aus. Mit den Worten von Gunter Reiss (»Allegorisierung und moderne Erzählkunst«, 1970) hält die Verfasserin fest:

[24] 
Das heißt aber, das »allegorisierende« Erzählen bringt sich selbst zur Darstellung, indem es sein In-Beziehung-Setzen »erzählt«. Das Erzählen interpretiert sich selbst. (S. 80)
[25] 

Im Hinblick auf ihre eigene Studie betont die Verfasserin jedoch:

[26] 
In der vorliegenden Untersuchung wird uns vermehrt – das stellt eine zentrale Aussage der Studie dar – der inverse Fall begegnen: Der Allegoriecharakter der Erzählung ist zwar textintern proklamiert, wird aber zeitgleich destruiert, indem sich die anscheinend sinnkonstituierende Perspektive in Antinomien verwickelt (!). So ergeben sich […] Parallelen zu einer dekonstruktivistischen Textanalyse, da Sinnkonstitution und –destruktion als Struktur des impliziten Lesers in den Fokus rücken; die inverse Allegorisierung der Erzählung fällt in der Extremform unter Paul de Mans Terminus der Allegorie des Lesens, indem eine völlige Sinndestruktion erzielt wird. (S. 81)
[27] 

Das Stichwort »Allegorie« bietet Gelegenheit zu weiteren synthetisierenden Reflexionen über Goethes Unterscheidung zwischen Allegorie und Symbol sowie über die Allegorie im Sinn der rhetorischen Tradition, über ›das Allegorische‹ in der Deutung Gadamers und über die Allegorie bei Walter Benjamin. Als Ergebnis der Darstellung, die an jeweils kurzen Zitaten entlangführt, formuliert die Verfasserin:

[28] 
»Allegorisierung« ist damit, das ist als Konklusion festzuhalten, gekoppelt an den impliziten Leser, der im Sinne von Iser verstanden ist als die Gesamtheit der potentiellen Perspektiven, die textimmanent angeboten werden und sich aus schematisierten Ansichten konstituieren. Die Erzählung wird damit autoreflexiv, indem sie in sich selbst Rezeptionspotentialitäten von sich selbst anbietet, bewusst destruiert und aporetisch endet. (S. 85)
[29] 

Die theoretische Grundlegung der Arbeit wird abgeschlossen mit dem Kapitel »Statt eines Resümees: Exemplarische Analyse von Franz Kafkas Die Bäume« (S. 102–109). Viele der »eingeführten Begrifflichkeiten«, so die Verfasserin, könnten in einer »textgenauen Untersuchung […] illustrier[t]« werden (S. 102). Anschauung statt Explikation wird hier also zum Programm der Theoriebildung erhoben. Eigens betont wird immerhin, dass »hier, wie für die weiteren Untersuchungen« gelte, »dass unter ›Leser‹ immer die textinterne Struktur des impliziten Lesers« verstanden werde (S. 103). Fraglich ist allerdings, ob diese Festsetzung beachtet wird, wenn es zum Beispiel etwas später mit Bezug auf Kafkas (von vornherein und in einem, wie ich meine, streng genommen unzulässigen Vorgriff als ›Gleichnis‹ apostrophierten )Text heißt:

[30] 
Der Text erzeugt bewusst die Frage nach dem Warum? im Leser, dessen Rezeptionshaltung und aufgerufenes Wissenssegment der Natur sich nur ändern muß. (S. 104)
[31] 

Ähnlich ›leserempirisierend‹ und textanimistisch heißt es später:

[32] 
Der Text hat bis jetzt die durch den Titel hervorgerufene Erwartung des Lesers bewusst enttäuscht und Natur neu semantisiert. Die bleibende Leerstelle als offengelassene Anschließbarkeit (denn) spielt explizit mit der Rezeptionshaltung des Lesers, eine Begründung im Text zu suchen. (S. 105)
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Und schließlich formuliert die Verfasserin auch:

[34] 
Durch die im Leser aufgebauten Motivationen, die bis zur totalen Zerstörung der Fiktion wieder demotiviert werden, reflektiert der Text am Ende über sich selbst, d.h. über sprachliche Erkenntnis und somit über Textualität schlechthin. (S. 107)
[35] 

Auffallend an dieser »textgenauen Untersuchung« ist außerdem, dass die Verfasserin immer wieder von einer »Erzählung« und von dem »Erzähler« spricht, obwohl in Kafkas Die Bäume eigentlich keine erzählende Rede vorliegt, nicht erzählt wird. Auffallend ist zudem, dass bei dieser »textgenauen Untersuchung« in keiner Weise der Umstand eine Rolle spielt, dass es sich bei Die Bäume um einen Text in einer Reihe von Texten handelt, nämlich bekanntermaßen um ein Element aus der Text-Kette in Kafkas »Betrachtung« (1912), deren aufeinanderfolgende Texte zusammengenommen durchaus eine kohärente Text-Welt konstituieren – wenn auch als pointillistische »Lichtblicke«, wie Kafkas sagt, in einem übergreifend nichtnarrativen Modus.

[36] 

Im zweiten Teil der Arbeit wendet sich die Verfasserin der »Besprechung«, »Interpretation« (S. 109) oder auch »Analyse« (S. 111) der oben genannten ausgewählten Erzählungen Thomas Manns zu. Führt die Analyse von Der Weg zum Friedhof vor allem zu dem Ergebnis, dass sich »als Perspektive des Textes« die »Reflexion seiner zwangsläufig perspektivischen Darstellung und medialen Vermittlung von Sachverhalten, somit die Bedingung des Erzählens« eröffne (S. 131), so kann Der Kleiderschrank als »Allegorie des Lesens« bezeichnet werden (S. 157). Die Erzählung Enttäuschung hebe sich »insgesamt auf«, greife »sich selbst als Ganzes an. Der Leser wird auf sich selbst zurückgeworfen; was bleibt

[37] 
ist sein durch das dialektische Destruieren des Sinnes bewirktes Absehen von Sinn, seine Aporie; der Text zwingt den Leser dazu, im Ausgang der Lektüre nur noch zu empfinden. (S. 184)
[38] 

Auch Thomas Manns Gefallen illustriere die »Unmöglichkeit des Lesens« und könne als Paradebeispiel für Paul de Mans Allegorie-Begriff »verstanden werden« (S. 203), auch hier ende »der Leser in der Aporie«, auch hier hebe sich die »Aussage des Textes insgesamt auf« (ebd.).

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Schon beinahe vorhersagbar wird für Thomas Manns Die Betrogene insgesamt festgestellt:

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Was als Konsequenz des Textes bleibt, ist die Unvermeidbarkeit der metaphorischen oder allegorischen Interpretation eines literarischen Werkes – und zugleich die Darstellung des Scheiterns genau dieser Lesart. (S. 251)
[41] 

Ganz ähnlich intendiere auch die Erzählung Die vertauschten Köpfe »die Allegorie der Unmöglichkeit des Lesens« (S. 284). Der Tod in Venedig rechtfertige sich für seine Existenz performativ im Akt des Erzählens »und destruiert dies zugleich« (S. 314), die Erzählung Das Gesetz schließlich wird ebenso

[42] 
zum Paradebeispiel einer Allegorie des Lesens, indem er die Unmöglichkeit seiner eigenen Sinnkonstitution zelebriert; doch die Reflexion der eigenen Bildlichkeit, der Primärreferenz der verwendeten Zeichen, geht einen Schritt darüber hinaus: Die intendierte Aufhebung der eigenen Stofflichkeit ist die Absage an die eigene Literarizität. (S. 341)
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Die abschließenden Überlegungen versuchen, die Befunde der Analysen zu verallgemeinern, und diskutieren unter anderen die Frage, inwiefern Thomas Mann als ein Autor der Moderne zu bezeichnen sei.

[44] 

Kritik

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Die dekonstruktivistische Auffassung, dass sich alle (zu handelnden Subjekten anthropomorphisierten oder animierten) literarischen Texte subversiv zu sich selbst verhalten und dadurch ›unlesbar‹ werden, wird hier auf besondere Erzählungen Thomas Manns konzentriert und als deren charakteristisches Verfahren ausgewiesen. Insofern stehen die Untersuchungsergebnisse in einem gewissen Widerspruch zu dekonstruktivistischen Annahmen, von hier her erklären sich aber auch die recht schematischen Ergebnisse der (vielfach sehr aufmerksamen und im Detail interessanten) Einzeltextanalysen.

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Dabei wird das vermeintlich charakteristische Verfahren zugleich als ›impliziter Leser‹ aufgefasst und dieser wiederum als Synthese der Perspektiven oder Perspektivierungen des Erzähltextes. In diesem Zusammenhang wird die distanzierende Abstraktion des ›impliziten Lesers‹ allerdings durch die aufmerksame (meinetwegen ›phänomenologische‹) Lektüre der Verfasserin unterlaufen, so dass es zu einer nicht mehr zu klärenden Konfusion von ›implizitem‹ und empirischem Leser (im Zweifel: die Verfasserin selbst) kommt.

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Schon im Ansatz ist ein narratologisch nur eher vages Verständnis von ›Perspektive‹ erkennbar. Es changiert aufs Ganze der Arbeit gesehen zwischen Erzählsituation, Erzählperspektive, point of view und Fokalisierung. Die scheinbar nur stilistische Variation zwischen ›Perspektive‹ und ›Perspektivität‹ markiert überdies in allen Fällen, dass der Bereich einer strikten narratologischen Analyse verlassen und derjenige erkenntnistheoretischer Grundsatzfragen betreten wird. Diese Übergänge und Unterschiede werden jedoch von der Verfasserin nicht kenntlich gemacht, vielmehr wird über ›Perspektivität‹ gesprochen, als handelte es sich dabei um die narratologisch bestimmte bzw. bestimmbare Erzählperspektive. Bei der Diskussion der »Theorien der Erzählperspektive« fällt schließlich auf, dass sich die Verfasserin im wesentlichen auf die ältere deutschsprachige Erzählforschung konzentriert, internationale oder lediglich neuere deutsche Ansätze (z.B. bei Jean Poullion, Norman Friedman, Boris Uspenskij, Mieke Bal, Manfred Jahn, Andreas Kablitz oder vor allem auch Wolf Schmid) 2 werden nicht berücksichtigt. Der »Exkurs« über »Theorien der Erzählperspektive« fällt insgesamt auch deshalb wenig ertragreich aus, weil es hier nicht um eine systematische und kritische Klärung des Konzeptes ›Perspektive‹ bzw. ›Erzählperspektive‹ geht, sondern um eine beinahe zufällige ›Betrachtung‹.

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Alles in allem gewinnt man den Eindruck einer zwar ambitionierten, aber zugleich auch überlasteten Arbeit, deren tatsächliche Stärken, nämlich das geduldige und genaue (zudem erkennbar engagierte) ›Lesen‹ von Erzähltexten Thomas Manns, durch den theoretischen Aufputz eher verdeckt als zum Leuchten gebracht werden.

 
 

Anmerkungen

Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme. Zweite Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 1980, S. 25 ff.   zurück
Jean Pouillion: Temps et roman, Paris: Gallimard 1993; Norman Friedman: Point of view in fiction. The development of a critical concept. In: PMLA 70 (1955), S. 1160–1185; Boris Uspenskij: Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform (russ. 1970), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975; Mieke Bal: Narration et focalisation. Pour une théorie des instances du récit. In: Poétique 29 (1977), S. 107–127; Manfred Jahn: Windows of focalization. Deconstructing and reconstructing a narratological concept. In: Style 30/2 (1996), S. 241–267; Manfred Jahn: Focalization. In: David Herman / Manfred Jahn / Marie-Laure Ryan (Hg.): Routledge enceclopedia of narrative theory. London, New York: Routledge 2005, S. 173–177; Andreas Kabliz: Erzählperspektive – Point of view – Focalisation. Überlegungen zu einem Konzept der Erzähltheorie. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 98 (1998), S. 237–255; Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, Berlin, New York: de Gruyter 2005.    zurück