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Die Germanistik entdeckt die Spannungsforschung

  • Ingo Irsigler / Christoph Jürgensen / Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München: edition text + kritik 2008. 307 S. Paperback. EUR (D) 27,00.
    ISBN: 978-3-88377-915-7.
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Seit den 1980ern wird die als ›Spannung‹ bezeichnete Medienwirkung in Psychologie und Kommunikationswissenschaften intensiv erforscht 1 , wobei versucht wird, über empirische Analysen von Film- und Textausschnitten verschiedene Wirkungen systematisch zu unterscheiden. Interesse an diesen Forschungsergebnissen haben in Deutschland bisher vor allem die Anglistik und punktuell auch die Romanistik gezeigt, während die Germanistik die empirisch arbeitenden Medienwissenschaften eher wenig beachtete. So orientierte sich noch Thomas Anz’ Artikel zur Spannung im Reallexikon der Literaturwissenschaft (2003) an den traditionellen, eher intuitiven Unterscheidungen von ›Wie-Spannung‹ oder ›Was-Spannung‹. Obwohl Anz sich bewusst ist, dass für die »Defizite der literaturwissenschaftlichen Erforschung von Spannung […] auch Berührungsängste vor psychologischen Forschungen verantwortlich« seien, ignorierte er sie selbst auf breiter Linie und warf sein Fach auf diesem Gebiet gleich um zwei Jahrzehnte zurück. Umso erfreulicher ist es, dass sich eine Gruppe jüngerer Germanisten dem Thema angenommen hat und in einem Sammelband mit 15 Aufsätzen den Versuch unternimmt, die Spannungsforschung auch in ihrer Disziplin zu etablieren.

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Aufarbeitung bestehender Spannungstheorien

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Die Aufarbeitung der bisherigen Forschungsergebnisse nimmt daher eine besonders wichtige Stellung ein. Daniela Langer, die ebenso wie die Romanistin Kathrin Ackermann bestens mit Spannungstheorie vertraut ist, kommt das Verdienst zu, einen grundlegenden und lesenswerten Überblick über die verschiedenen Ansätze, ›Spannung‹ theoretisch zu bestimmen, vorgelegt zu haben (S. 12–32). Sie teilt diese Versuche einerseits in eine handlungsorientierte und andererseits eine nicht-handlungsorientierte Spannungsforschung. Die handlungsorientierte basiert in erster Linie auf dem Studium von populärer Literatur und hat strukturell eindeutige Kategorien erarbeitet, mit denen sich das Phänomen literarischer Unterhaltung in dieser Hinsicht gut bestimmen lässt.

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Wenn die handlungsorientierte Spannung als gut erforscht angesehen werden darf, lässt sich dies für andere Arten der Spannung nicht behaupten. Hier schlägt sich die Offenheit des Spannungsbegriffs deutlich nieder, zu der sich überraschenderweise so gut wie alle Autoren des Bandes bekennen. Problematisch ist daran, dass sie den Terminus austauschbar macht, weil er nicht mehr meint als das attentum facere der antiken Rhetorik und schlichtweg alle Möglichkeiten der Aufmerksamkeitserregung umfasst. Damit wird er terminologisch unscharf und für die Praxis unbrauchbar, wenn es nicht gelingt, spezifische Formen zu isolieren. Daniela Langer fordert dementsprechend für zukünftige Forschungen eine stärkere Verquickung von Erzähltextanalyse mit Medienpsychologie (S. 32). Genau daran arbeiten die Medienwissenschaften aber schon seit den 1980ern 2 , und deshalb ist es erstaunlich, dass viele der Autoren diese Forschung kaum beachten und lieber mit einem vagen Terminus operieren.

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Als kluge Ergänzung zur Spannungstheorie lässt sich Christoph Deupmanns Phänomenologie der lektürebezogenen Langeweile lesen, die Gedanken aufwirft, auf die man kaum stößt, wenn man einseitig über Spannung nachdenkt (S. 103–122). So stellt er zu Recht die Frage, ob Spannungsphänomene in literarischen Texten nicht unvermeidlich seien. Weiterhin kommt er zu dem Ergebnis, dass Spannung und Langeweile zwar konträre, aber nicht kontradiktorische Begriffe seien:

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Aus der Gegebenheit von Langeweile ist zulässig auf die Abwesenheit von Spannung zu schließen, aus der Abwesenheit von Langeweile die Gegebenheit von Spannung abzuleiten wäre dagegen unzulässig. (S. 112 f.)
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Methodische Probleme des offenen Spannungsbegriffs

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Die methodischen Probleme eines offenen Spannungsbegriffs sollte man nicht unterschätzen. Vorgezeichnet sind sie bereits in Thomas Anz’ Eingangsdefinition von Spannung, an der sich viele Autoren des Bandes orientiert haben: »Spannung: Wirkungsdisposition von Texten, die mit Techniken verzögerter Wunscherfüllung gemischte Lust- und Unlustgefühle der Ungewißheit hervorruft.« 3 Hatte sich die Medienpsychologie darum bemüht, zwischen einem textbezogenen und einem rezeptionsbezogenen Spannungsbegriff zu unterscheiden, so versteckt Anz den Leser einfach in den vagen Terminus der »Wirkungsdisposition« und betont ansonsten die strukturellen Merkmale des Textes. Auch ist die einseitige Betonung der Ungewissheit als Rezeptionswirkung fragwürdig. Abgesehen davon, dass dies laut Iser sowieso allen Texten eignet und den Akt des Lesens allgemein kennzeichnet, und damit nicht genuin den Spannungsprozess, sehen dies viele Spannungsforscher aus der Medienpsychologie ganz anders. Spannende Filme werden vom Publikum nämlich mehrmals geschaut. Die Tatsache, dass Spannung empfunden wird, obwohl man den narrativen Verlauf bereits kennt, wird in der Forschung als das sog. Spannungsparadox bezeichnet und scheidet die Ungewissheit als Hauptfaktor weitgehend aus. (Diesem Phänomen ist in dem Band ein Aufsatz von Tilmann Köppe gewidmet, der sich allerdings eher auf grundsätzliche Überlegungen konzentriert, S. 68–81.)

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Die Ungewissheit als Achse der Spannung zu setzen, führt methodisch leicht in eine Suche nach offenen Fragen und Leerstellen, die sich in der Praxis als eine müßige Paraphrase des Inhalts erweist. Das close reading unter Wirkungsaspekten reproduziert den Prozess der Leerstellenbildung, was ein aufmerksamer Leser nicht benötigt, da er ihn an sich selbst beobachten kann.

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Nicht allen Autoren gelingt es, dies zu umgehen. Während Martin Maurach sich bei der Analyse von Erzählanfängen bei Kleist bereits mit Paraphrasen aushelfen muss (S. 189–207), arbeiten Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen stark inhaltsbezogen an den Leerstellen von E.T.A. Hoffmanns Unheimlichem Gast (S. 208–224) und stellen dabei sogar leichtfertig die These auf, dass die Rätselspannung sich mit jedem Erzählfaden vermehre (S. 211). Ein solches Messverfahren, das jede offene Frage als additive Steigerung der Spannung versteht, wurde bereits von Fónagy und Fónagy angewendet 4 , lässt sich auf der Seite des Rezipienten aber kaum plausibel nachweisen.

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Vorteile des offenen Spannungsbegriffs bei der
Analyse von Gattungen

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Der offene Spannungsbegriff erweist sich bei der Auseinandersetzung mit den Spannungsformen bestimmter Gattungen wiederum als Vorteil, weil hier trotz verallgemeinernder Terminologie spezifische Formen beschrieben werden können. So extrapoliert Rüdiger Singer aus Lessings Anmerkungen über das Epigramm verschiedene Phasen des Erwartungsaufbaus im Epigramm und ergänzt diese durch Spannungsphänomene in der Metrik (S. 140–164). Auch wenn die Terminologie dabei relativ allgemein bleibt, bestechen die Ausführungen durch die genaue Textanalyse, der es in überzeugender Weise gelingt, Lessings Thesen zu veranschaulichen.

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Ralph Müller kombiniert geschickt Ergebnisse der Spannungsforschung mit seinen theoretischen Reflexionen zum Verhältnis von Witz und Spannung (S. 283–297). Anstatt jedoch bei der Gattung Witz zu bleiben, analysiert er den kurzen Roman Am Hang von Markus Werner, der zwar mit einer überraschenden Wendung endet, von dem sich aber insgesamt kaum Brücken zum Witz schlagen lassen.

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Innovative Fragen

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Neben den Artikeln zur Theorie und den Einzelanalysen finden sich auch Überlegungen zu insgesamt wenig beachteten Aspekten der Spannungsforschung. Die Idee, in Fachprosa nach Spannungstechniken zu suchen, ist zwar nicht eigentlich neu 5 , aber der für seinen Stil berühmte Sigmund Freud bietet dafür ein gutes Beispiel und erweist sich als ergiebiger Gegenstand der Analyse von Claude Haas (S. 247–264).

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Innovativ ist Annemone Ligensas Frage nach der Spannung beim unzuverlässigen Erzählen (S. 50–67), ein Aspekt, der in Ansgar Nünnings Standard-Sammelband zu diesem Thema weitgehend ausgeklammert wurde. 6 Ligensa kommt jedoch kaum zu greifbaren Ergebnissen, weil sie zu viele Textzeugen heranzieht. Dass es zu diesem Thema keine Studien geben soll (S. 51), wäre dahingehend einzuschränken, dass die Spannung des unzuverlässigen Erzählens in den Bereich der eher kognitiven Reizung des Lesers gehört, die im Kontext der Detektiverzählung ausgiebig erforscht ist. Das von Carlo Ginzburg beschriebene Indizienparadigma 7 lässt sich gut auf das unzuverlässige Erzählen anwenden, weil der Leser anhand der von Nünning et al. beschriebenen Inkohärenzen (ergo: Indizien) Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen ziehen kann.

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Dass Ligensa die Spannung der unreliable narration auf den Namen perverse suspense tauft, leuchtet mir terminologisch nicht ein. Es handelt sich hierbei m.E. um eine Spielart des mystery, die wie beim Detektivroman eine skeptische und abwägende Lesehaltung voraussetzt und treffender als suspicious reading bezeichnet werden könnte.

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Fazit

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Insgesamt fällt auf, dass kaum einer der Autoren sich entschließt, dezidiert strukturalistisch zu arbeiten, obwohl der Strukturalismus das Instrumentarium zur Spannungsanalyse bereithält. Gemäß geltender Paradigmen zielt die Fragestellung tendenziell auf eine kulturwissenschaftliche Kontextualisierung der Spannungsanalyse ab. Während die Herausgeber im Vorwort davon ausgehen, der Strukturalismus habe die als subjektiv verstandene Spannungsforschung verhindert (S. 8), so gilt m.E. gerade das Gegenteil: Der Strukturalismus kann mit der Rezeptionsästhetik eine sehr harmonische Bindung eingehen, wenn Form und Wirkung zusammengeführt werden, was bei den französischen Strukturalisten auch häufig der Fall war. Im Rahmen der Spannungsforschung ist eine solche Alliance konkret in der sog. structural-affect-theory geschlossen worden. 8 Dementsprechend spürt man bei einigen Autoren eine gewisse Zurückhaltung dem Thema gegenüber, was sich schon daran zeigt, dass sie sich auf das risikoarme Terrain kanonischer Autoren wie Kleist, Hoffmann oder Kafka zurückziehen, obwohl sich populäre Literatur besser für Spannungsanalysen eignen würde.

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Insgesamt ist es sehr erfreulich, dass sich die Germanistik nun endlich dem in der Rezeptionsforschung zentralen Phänomen der Spannung zuwendet und dabei auch gleich einige innovative Fragen aufwerfen. Man hätte sich bei einigen Beiträgern jedoch gewünscht, dass sie sich von den eigenen Vorläufern und den traditionellen Vorbehalten selbstbewusster lösen, denn nur dann wird sich auch in unserer größten Philologie dauerhaft eine Spannungsforschung entwickeln können.

 
 

Anmerkungen

Als ein grundlegender Aufsatz darf gelten: Dolf Zillmann: Anatomy of Suspense. In: Percy Tannenbaum (Hg.): The Entertainment Functions of Television. Hillsdale, N.J.: LEA 1980, S. 133–163.

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Zum Forschungsstand Mitte der 1990er siehe Peter Vorderer: Spannung ist, wenn’s spannend ist. Zum Stand der (psychologischen) Spannungsforschung. In: Rundfunk und Fernsehen. Forum der Medienwissenschaften und Medienpraxis 42 (1994), S. 323–339.

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Reallexikon der Literaturwissenschaft (2003), S. 464.

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Ivan Fónagy und Judith Fónagy: »Ein Meßwert der dramatischen Spannung«. In: Literaturwissenschaft und Linguistik IV (1971), S. 73–98.   zurück

Richard J. Gerrig: »Suspense in the Absence of Uncertainty«. In: Journal of Memory and Language 28, 6 (1989), S. 633–648.

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Ansgar Nünning (Hg.): Unreliable narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT 1998.   zurück

Carlo Ginzburg: Signes, traces, pistes. Racines d’un paradigme de l’indice. In: Le débat, 6 (1980), S. 3–44.

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William F. Brewer und Edward H. Lichtenstein: Stories are to entertain. A structural-affect-theory of stories. In: Journal of Pragmatics 6 (1982), S. 473–486. Einen breiteren Überblick über die Forschungsansätze vermitteln Peter Vorderer, Hans J. Wulff und Mike Friedrichsen (Hg.): Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses and Empirical Explorations. New Jersey: LEA 1996.

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