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Das Medium schlägt zurück

  • Christian Kiening / Martina Stercken (Hg.): SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne. (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 4) Zürich: Chronos 2008. 456 S. 268 Abb. Gebunden. EUR (D) 35,00.
    ISBN: 978-3-0340-0896-9.
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Vier Ausstellungen vom 2. Dezember 2007 bis 11. Januar 2009 im Rahmen des 175-Jahr-Jubiläums der Universität Zürich widmeten sich dem Thema Schrift und ihrer Inszenierung in und zwischen Zeit und Raum sowohl in historischer wie systematischer Hinsicht. Der vorliegende Band begleitet und erinnert die Ausstellungen zum einen als übersichtlicher und praktikabel handhabbarer Katalog. Zum anderen dokumentiert er die analytischen Ergebnisse, welche sich aus den thematischen Schwerpunkten ergeben, unter denen die unterschiedlichsten Mediendokumente aus 13 Jahrhunderten hier in Beziehung gesetzt werden und welche seit Jahren im Zentrum der Arbeit des Nationalen Forschungsschwerpunkts Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven des Schweizerischen Nationalfonds und der Universität Zürich stehen. Das Vorwort der Herausgeber wird gefolgt von einer thematischen Einleitung durch Christian Kiening, woraufhin die Exponate der einzelnen Ausstellungen mit Photo in oft beeindruckender Bildqualität und Kurztext dargestellt und beschrieben werden. Eine umfangreiche Bibliographie beschließt den Band.

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Geheimnis

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Die erste Sektion des Bandes (S. 129–195) versammelt unter dem Stichwort »Geheimnis« 29 Exponate aus der Stiftsbibliothek St. Gallen, welche dort vom Dezember 2007 bis November 2008 unter dem Titel Geheimnisse aus Pergament der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Elvira Glaser widmet ihre Einleitung (S. 129–136) ausgehend von den interlinear, marginal oder intertextuell angebrachten Glossen, über erläuternde Scholien bis hin zu groß angelegten Interlinearversionen und Kommentaren der »Verschlüsselung, Verrätselung [und] Umsetzung« (S. 134) von geheimem Wissen in und aus dem »BildungsRaum« (S. 129) Kloster. Das Geheimnisvolle von Geschriebenem – so dokumentieren die Exponate eindrücklich – lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen konstatieren. Die vermeintliche Unscheinbarkeit und Beiläufigkeit reicht von Fällen wie den Glossen zum Römerbrief CodSg 70 1 (S. 158 f.) oder den in der so genannten Nota Bonifacii verschlüsselten Griffelglossen zur Pastoralregel Gregors des Großen CodSg 219 (S. 160 f.) bis hin zur (heutigen) Unsichtbarkeit. Dem gegenüber steht etwa der an faszinierender Auffälligkeit kaum zu übertreffende Folchart Psalter CodSg 23, 2 welcher mit goldenen Lettern auf rot gefärbtem, feinstem Pergament die »besonders prachtvoll gestaltete[ ] Allerheiligenlitanei den Psalmen voranstellt« (Ernst Tremp, S. 138). Ob die nur allzu leicht zu dekodierende Geheimschrift der Glossen ein »Gelehrten-, vielleicht ein Lernspiel« gewesen, oder lediglich der »graphischen Kennzeichnung von Textzusätzen« (Andreas Nievergelt, S. 160) gedient haben mochte, ist bis heute ebenso ein Geheimnis geblieben, wie die Funktion der überlieferten Glossare, waren diese »doch häufig das Resultat mehrfacher Kopiervorgänge« und ihre »Zusammenstellung [...] im Detail nicht mehr nachvollziehbar« (Glaser, S. 131). Der CodSg 299, welcher von Michelle Waldispühl unter dem Stichwort Lexikalische Texterschließung beschrieben wird, ist ein solches Beispiel.

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Das Geheimnis muss aber nicht nur im Auge des modernen Betrachters aufgrund solch unterschiedlicher Präsentationsweisen von Geschriebenem liegen, sondern wurde oft bereits von Schriftproduzenten selbst inszeniert und von Kopisten vervielfältigt und tradiert. Besonders beliebt waren in dieser Hinsicht die Werke des Venantius Fortunatus, eines aus dem 6. Jahrhundert stammenden Dichters, welche im CodSg 196 3 versammelt sind, wie etwa das so genannte Kreuzgedicht (S. 190 f.). Sinn und Bedeutung des Kreuzes – dem heilsgeschichtlichen Zentrum des Christentums – werden allein in diesem einzelnen Bildergedicht auf verschiedenen Ebenen erzeugt: auf der Formebene des Bildes, mittels kontrastiver Farbgebung des Wortes, im Hinblick auf die Form des Buchstabens X, auf Inhaltsebene des Textes, auf der Ebene von Form und Anordnung der Verse. All das führt den Betrachter »zu einer meditativen Beschäftigung mit dem Kreuz« auf der »geistige[n] Suche nach dem religiösen Geheimnis« (Annina Seiler, S. 190). So wird an nur einem Dokument deutlich, wie Inszenierung, Auratisierung und Entschlüsselung von Geheimnis sich sowohl »minimalistisch auf die Vermittlung einer sprachlich bestimmten Botschaft konzentrier[en]« können, als auch »zusätzlich die Materialität und Flächigkeit der schriftlichen Eintragung dazu genutzt wird, diese Botschaft kommunikativ zu unterstützen, zu variieren oder zu ergänzen« (Glaser, S. 136).

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Aura

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Lena Rohrbach führt die Dokumentation (S. 199–273) der im Museum Burg vom Juni 2008 bis Januar 2009 gezeigten 33 Exponate ein (S. 199–206), die vorrangig den Archiven, Museen und Bibliotheken Zürichs entstammen. Die Ausstellung trug den Titel UNFASSBAR FASSBAR. Medien des Heils im Mittelalter. Die gewählten Text- und Bilddokumente illustrieren eindrücklich das in der Reduktionsformel »Aura« auf den Begriff gebrachte Paradox von vermittelter oder zumindest vermittlungsbedürftiger Unmittelbarkeit, von Zugangseröffnung und -verweigerung zum göttlichen Mysterium. Auf der Logik dieser Kippfigur basieren die drei Buchreligionen, und aus ihr speist sich das Auratische ihrer medialen Zeugnisse. Aber auch »Urkunden, in denen Rechtsverhältnisse profaner und sakraler Natur festgehalten werden, so genannte Jahreszeitbücher, [...] die in die Liturgie der Messe einbezogen wurden, ebenso wie Visualisierungen von Weltvorstellungen und kartographische Darstellungen säkularer Herrschaftsgebiete, die [...] auf die Heilsgeschichte Bezug nahmen, Kirchenfenster [...] Glossenhandschriften« (L. Rohrbach, S. 199) verschiedener Provenienz waren gleichermaßen auf die Auratisierung ihres Inhalts und / oder ihrer materiellen sowie räumlichen Präsentationsformen angewiesen, um Authentizität und Autorität vor allem in »rituellen Handlungszusammenhängen« (L. Rohrbach, S. 202) zu inszenieren und zu verbürgen.

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Die Elsässische oder Süddeutsche Torarolle aus dem 17. Jahrhundert, Zentralbibliothek Zürich, Ms. Or. 181 (S. 222 f.), etwa erzeugt ihre heilige Aura schon dadurch, dass sie sich von allen anderen Torarollen gerade nicht unterscheidet, da sowohl Herstellung wie liturgische Verwendung der Tora »in materieller wie visueller Hinsicht strengen Bestimmungen« (Olivia Franz-Klauser, S. 222) unterliegen und bis ins kleinste Detail geregelt sind. Ähnlich faszinierend in geradezu gegensätzlicher Funktion präsentiert sich der osmanische Minaturkoran, Zentralbibliothek Zürich, Ms. Or. 117 (S. 226 f.), in einer im Durchmesser nur 3,6 cm großen Blechbüchse aus dem 16. Jahrhundert. Der arabische Text ist »mikroskopisch klein geschrieben« und »vollständig vokalisiert«, denn die »Lesung des letzten Propheten« Mohammed wird nicht nur als »unverfälscht« geglaubt, sondern muss selbstverständlich auch so tradiert werden, um die einmalige »verborgene geistliche Kraft« zu besitzen. Außerdem kann das Döschen als Kette um den Hals getragen »oder an die Spitze einer militärischen Fahne« gesteckt werden, und bewirkt dort, ganz ungelesen, als Amulett die Unbesiegbarkeit des Besitzers.

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Im profanen Kontext konnten etwa Stadtprivilegien ganz ähnliche Inszenierungspraktiken zuteil werden, wie die Pergamenthandschrift StAAa II, 1 aus dem Stadtarchiv Aarau des 16. Jahrhunderts bezeugt, welche auf Pergament »stadtrechtliche Regelungen und Ratsbeschlüsse zusammenträgt«. Dass »erneut d[em] den Bürgern von Aarau 1283 von König Rudolf ausgestellte Stadtrechtprivileg« eine »aufwändige Gestaltung«, »farbig gefasste Initialen und eine Miniatur« (in Abbildung von fol. 32v, S. 235) gewidmet wurde, belegt die Bedeutsamkeit der Abschrift und wiederholt in seiner materiellen Präsentation gewissermaßen die Darstellung der Miniatur: »Präsentiert wird ein Moment der Ausübung von Herrschaft« (Martina Stercken, S. 234).

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Heil

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Die Ausstellung in der Zürcher Zentralbibliothek, gezeigt von März bis Juli 2008, unter dem Titel Heilige Bücher und mächtige Zeichen – Schrift in Szene gesetzt wird als dritte Sektion des Bandes (S. 277–347) unter dem Stichwort »Heil« eingeführt von Cornelia Herberichs und René Wetzel (S. 277–284). Die 31 vorrangig aus dem Hoch- und Spätmittelalter stammenden Exponate – unter anderen aus den Stiftsbibliotheken und -archiven St. Gallen und Einsiedeln – illustrieren einerseits die Scriptura Sacra in verschiedenen »komplexe[n] Medialisierungen, in denen Wissen verräumlicht, schematisiert und in elaborierte Ordnungen transformiert wird« (Herberichs / Wetzel, S. 279), und andererseits wie ihr »auratischer Charakter [...] zwischen Repräsentation und Präsenz von Heil oszilliert« (Herberichs / Wetzel, S. 277). So resultieren die »außerordentlichen Dimensionen« der Einsiedler Monumentalbibel Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 1(8) (S. 286 f.) des elften Jahrhunderts »nicht nur aus der technischen Herausforderung, die gesamte Heilige Schrift in zwei Bänden unterzubringen«, also den Anspruch auf Vollständigkeit kanonischen Offenbarungswissens zu erfüllen, sondern sie »stellen die Gegenwart Gottes selbst zur Schau« und garantieren den Status als »sakrale[n] Bedeutungsträger, als verkörpertes Glaubensgeheimnis und materialisierte, Heil bringende Glaubenswahrheit« (Wetzel, S. 286).

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Die Illustrationen von Heinrich Seuses Exemplar (S. 320 f.) in der Einsiedler Sammelhandschrift 710(322), welche die Schriften des Autors kompiliert, »beschreiben das bildnishaft dargestellte Unfassbare auf einer vernunftmäßig nachvollziehbaren Ebene und tragen so zum Verständnis der [...] Lehre von der mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott bei«, während die Kapitel 50–52 der Vita gerade die Unbeschreibbarkeit des mystischen Vorgangs des »theologisch anspruchsvollen« (Richard F. Fasching, S. 320) ins Zentrum rücken. Dokumentarischen und archivalischen wie devotionalen und damit heilsvermittelnden Charakter weisen die Aachener, München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv. Nr. 118308 (S. 338 f.), und Andechser Heiltumsblätter, BSB München, Res. 4 H.eccl. 851 (S. 340 f.), auf. Die Funktion der Druckdokumente im Kontext der Wallfahrten und regelmäßigen Heiltumsweisungen ist umstritten. Als »Werbe- bzw. Informationsmedium« (Constanze Rendtel, S. 338) zu Ausstattung und Ablassverheißung der vorhandenen Reliquien konnten die öffentlich ausgehängten Blätter ebenso dienen, wie als Stellvertreter für die echten Heiltümer, die für die »Andacht im privaten Rahmen« genutzt wurden. »Damit scheint das Blatt als gedruckte Kopie des [Andechser] (Reliquien-)Altars auch geeignet, etwas von diesem Heil der Wallfahrtsstätte auf das Papier zu übertragen.« (Rendtel, S. 340).

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Bewegung

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Die vierte Sektion Bewegung (S. 351–440), eingeleitet von Barbara Naumann (S. 351–360), macht einen zeitlichen Sprung in die Frühe Neuzeit bis zur Moderne und versammelt Schrift- und Bilddokumente, die »aus der Festigkeit der Texte ein bewegliches Abenteuer« werden lassen, »das ganz und gar eingebunden ist in die Kontingenz der Geschichte« (Naumann, S. 351). Die Ausstellung zeigte zwischen September und November 2008 im Zürcher Strauhof 39 Exponate unter dem Titel Schrift in Bewegung. Zwischen Lesbarkeit und Anschauung ist Schrift »pikturales und als solches auch ein im Wortsinne aisthetisches, mit den Sinnen erfahrbares Symbolsystem, das mit seiner großen Variabilität und Kombinatorik zur Aufzeichnung und Darstellung verschiedenster Umstände taugt« (Naumann, S. 352).

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So genannte Körperalphabete etwa werden »nicht selten akrobatisch geturnt oder getanzt und von bekleideten wie entblößten Körpern dargestellt« (Naumann, S. 353), ihre Lesbarkeit verschwindet hinter Körpererfahrung und -betrachtung, ist jedoch auf noch »genauere[ ] referentielle[ ] Operationen« angewiesen als etwa das Mienenspiel. Der Informationscharakter von verwandten Handalphabeten ist für die Kommunikation zwischen Taubstummen dagegen ebenso absolut unerlässlich, wie ABC-Bücher und Lesefibeln zur Ausbildung der Lese- und Schreibkompetenz »belebt [waren] von buchstabenbildender Fauna und Flora«, wie im Mouse House ABC (S. 360). Karl Philipp Moritz’ Neues A.B.C. Buch, »welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält« (S. 372 f.), ist in dieser Hinsicht »ein Schlüsseltext für die Hoffnungen, die der pädagogische Impetus der Aufklärung auf das Medium der Schrift richtete« (Sabine Schneider, S. 372). Schrift bleibt, wie Moritz selbst verstanden wissen will, zwar eine »heilige Sache«, die Heilserwartung richtet sich hier aber nicht auf die transzendente Letztbegründung und auf den Weg zur göttlichen Offenbarung aus, sondern auf die eigene Vernunft und den Zugang zur »heilbringende[n] Bücherwelt«. Die »emblematische Anordnung von Bild und Wort«, die Adolf Haas in den illustrierenden Kupfertafeln vorgenommen hat, entspricht der aufklärerischen Beziehung zwischen »Schrift und Welt«: Dem Kind wird »die Welt nur über die Buchstaben vermittelt, nur als gelesene« erschlossen (Schneider, S. 372).

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Dagegen nutzt speziell die ästhetische Literatur die »Eigendynamik der Schrift«, indem »sie nicht mehr nur als ein neutrales Werkzeug« aufgefasst wird, »das unabhängig von ihr erzeugte Gedanken fixiert« (Naumann, S. 355), sondern das Schreiben als körperlicher und seelischer Akt wird selbst zum Thema poetischer und poetologischer Reflexion. Dabei kann die Beziehung der Schrift zur Welt zunächst ganz in den Hintergrund geraten, die Schrift wird stattdessen zum beschreibenden Mittel wie zum Ausgangspunkt artistischer, philosophischer und medialer Reduktion:

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Die Linie ist zeichenhaft, doch kein Zeichen, sie ist schriftartig, doch keine konkrete Schrift, sie erscheint als pictura, formt jedoch kein Bild, sie vollzieht eine Bewegung, ist aber stillgestellt; möglicherweise zeigt sie nur einen Ausschnitt aus einer endlos zu denkenden Bewegung. (Naumann, S. 356)
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Ein Autor hat die »selbstreflexive[ ] Formensprache der Schrift« in besonders vielfältiger Hinsicht mit narrativen Verfahren verknüpft: Laurence Sternes Life and Opinions of Tristram Shandy (S. 378 f.), erstmalig erschienen in neun Bänden zwischen 1760 und 1767, »programmatische Dissoziation von erzählter Zeit und Erzählzeit, die Abkehr von der traditionellen linearen Handlungs- und Figurenführung durch den Einsatz von Digressionen und Strukturparodien« münden in »Schlangenlinien, ganze[n] Zeilen von Auslassungszeichen, schwarze[n] Seiten, marmorierte[n] Seiten [Abbildung, S. 379] und weiße[n] beziehungsweise leere[n] Seiten«. »Die ›marbled page‹ bietet [...] die sichtbare Projektionsfläche der ›marblings‹ eines Autors, der sich entschieden hat, seine Meditationen und Sentimentalismen nicht mehr allein dem Medium der Schrift anzuvertrauen.« (Edgar Pankow, S. 378)

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Räumlichkeit und Historizität:
Schrift im Kontext

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Wie nun die vier konzeptuellen Stichworte GeheimnisAuraHeilBewegung, unter denen die Sektionen ihre Text- und Bilddokumente präsentieren, zueinander in Beziehung treten, auseinander hervorgehen und / oder ineinander übergehen, einander ausschließen sowie aufeinander aufbauen können, erläutert und diskutiert in detailreichen Analysen und anhand vieler weiterer Beispiele verschiedener Medien in einer umfangreichen Einleitung Christian Kiening unter dem Titel »Die erhabene Schrift. Vom Mittelalter zur Moderne« (S. 8–126). Der Text beginnt »in Schwarzweiß« (S. 9) mit Peter Greenaways Kinofilm The Pillow Book und den Spuren, die Schrift auf Haut und Seele hinterlässt, und endet mit Walter Benjamins Schreiben als »ein[em] memoriale[n] Akt, in dem Erscheinen und Verschwinden aufs Engste verschwistert« sowie der Schrift als »Spur einer Geste und Konkretisation des Augenblicks« (S. 108) an der Schwelle zwischen Altem und Neuem:

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Von Benjamin lässt sich zurückschauen auf die lange Geschichte eines ontologisch und metaphysisch bestimmten Schriftbegriffs. Von ihm lässt sich aber auch nach vorne schauen: auf die Autoreflexivität modernen Schreibens, die Verknüpfung von Schriftlichkeit und Medialität, die Entwicklung einer neuen Schriftbildlichkeit. Oder auch die Paradoxie einer gleichzeitigen Vorgängigkeit und Nachträglichkeit der Schrift. (S. 109)
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Damit ist die behauptete Entwicklungslogik der Schrift-Phänomenologie, welche Kiening auf allen nur erdenklichen kontextuellen Ebenen probeweise zu rekonstruieren geneigt ist, implizit gleich wieder in Frage gestellt. Trotzdem bleibt das eigentliche Ergebnis der in Einleitung und Sektionen präsentierten Darstellungen unausgesprochen, dass nämlich die vielfältigen Präsentationsformen, Funktionen und Bedeutungen von Schrift ganz offensichtlich gerade keinem eigentlichen Fortschritt unterworfen sind, sondern abhängig sind von den Räumen, in denen Schrift vorkommt und die sozial, ökonomisch, technisch, philosophisch, spirituell, kommunikativ, medial und so weiter verschieden determiniert sein können.

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Die bisweilen ein wenig zwanghaft anmutenden Konzeptualisierungs-, Ordnungs- und Strukturierungsversuche der Phänomene, die primär und sekundär mit Schrift in Zusammenhang stehen, sind dafür ebenso ein Symptom, wie die weit über die Zahl der Ausstellungsstücke hinaus geradezu ausufernde Fülle von Beispielen, die dies dokumentieren. Insofern darf es nicht Wunder nehmen, dass die Sektionseinführungen mitunter nur wiederholen können, was zuvor bereits gesagt und analytisch entfaltet wurde, wenn sie nicht – sinnvollerweise für manchen nicht rundum fachkundigen Leser – Grundlagenwissen gegenüber Kienings voraussetzungsreicher Darstellung lediglich nachtragen wollen. Insofern hat der vorliegende Band ein strukturelles Problem, welches bereits im Gegenstand selbst begründet und deshalb auch stärker diesem anzulasten ist als den insgesamt 57 Autoren.

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Dennoch wären einige Querverweise mehr zwischen den einzelnen Texten, vor allem dort, wo sie einander in thesenbildenden Abschnitten oder Beispielanalysen wiederholen (etwa zu Platons Phaidros S. 21 und 351 f. oder zur Glossierungspraxis S. 131 und 205), ebenso wünschenswert gewesen wie eine Kommentierung der scheinbaren Kompiliertheit aus verschiedenen Textsorten, beziehungsweise eine Anleitung zum Gebrauch des Buches angesichts der Disparatheit des vorausgesetzten Wissens. Denn es scheint sich doch Kienings Text, der seinen in mehrerer Hinsicht autonomen Status schon dadurch zu markieren scheint, dass er eine eigene Literaturliste beansprucht, an ein Fachpublikum zu richten, während der »zweite Teil« des Bandes auch von einem Laienpublikum gut verstanden und mit großem Gewinn gelesen werden kann. Nicht jeder Ausstellungsbesucher und anschließende Leser des Bandes wird eventuell vertraut sein mit der Praxis frühmittelalterlicher Übersetzungs- und Kommentierungspraxis: Während Kiening das Glossieren bereits auf »Strukturierung und Hierarchisierung verschiedener Textebenen«, seine Funktion vor dem Hintergrund des »Erproben[s] von Schriftanordungen« (S. 42) und schon des Zusammenhangs zwischen zunehmender Ausdifferenzierung und theoretischer Systematisierung von Textualität hin befragt, findet sich erst in der Einführung von Elvira Glaser zur St. Galler Sektion eine allgemein verständliche Erläuterung dessen, was Glossen im frühen Mittelalter überhaupt sind. Ist man vom Fach, fühlt man sich in Anbetracht solch basaler Information dann nicht mehr recht angesprochen, als Laie beim Lesen der Einleitung dagegen möglicherweise bisweilen hoffnungslos verloren und überfordert von der fulminanten Fülle der Text-, Bild- und Filmbeispiele, noch mehr vom ebenso kenntnis- und erkenntnisreichen wie rasanten Durchgang durch Theorie und Forschung mit der überzeugenden analytischen Komplexität, wie man sie von Christian Kiening gewohnt ist.

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Die eigene hermeneutische Aufgeladenheit dieses Strukturproblems wiederholt schließlich das Paradoxon der Schrift, das sich zwischen Greenaway und Benjamin beziehungsweise zwischen Mittelalter und Moderne abspielt, und ist deshalb schon seinerseits wieder mit Gewinn zu konstatieren. Die in diesem Band so eindrücklich dokumentierte und illustrierte unbeherrschbare Eigendynamik des Mediums schlägt sich eben auch und gerade dort nieder, wo sie zum Zwecke ihrer Theoretisierung domestiziert werden will. Dass dies oft nur in ihrerseits geheimnisvollen, auratischen, heilbringenden und bewegten Metaphern beschrieben werden kann, liegt in der Natur der Sache. Und dies ist eine ausdrückliche Lese- und Betrachtungsempfehlung!

 
 

Anmerkungen