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»Vom Vogel der Minerva, der in der Abenddämmerung zu seinem Fluge sich erhebt«

  • Thomas Meyer: Vom Ende der Emanzipation. Jüdische Philosophie und Theologie nach 1933. Mit einem Vorwort von Dan Diner. (Toldot 6) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 208 S. Kartoniert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-525-35094-2.
  • Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Daniel Weidner. Berlin: Jüdische Verlagsanstalt 2002. 320 S. Kartoniert. EUR 22,90.
    ISBN: 978-3-934658-41-7.
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Thomas Meyers Essayband Vom Ende der Emanzipation. Jüdische Philosophie und Theologie nach 1933 ist noch fast druckfrisch und erst seit Ende April diesen Jahres im Handel erhältlich. Dies scheint mir der richtige Moment zu sein, um eine ganz andere Herausgeberschaft, die nunmehr sechs Jahre zurückliegt, in Erinnerung zu rufen und endlich angemessen zu würdigen. Daniel Weidners Projekt der Neuedition von Max Wieners Opus Magnum Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, erschienen 1933 im Berliner Philo Verlag, steht im Kontext der kurzen, aber außerordentlich produktiven Wirkungszeit Michael Philipps als Redakteur der Jüdischen Verlagsanstalt Berlin. Die Neuedition von Wieners Werk stand hoffnungsvoll neben der von Julius Guttmanns Die Philosophie des Judentums (1933) und Max Dienemanns 1935 erstmals publiziertem Büchlein Liberales Judentum. Ein neuer Akzent war gesetzt, der fast ebenso schnell aus dem Verlagsprogramm verschwand wie Michael Philipp aus der Redaktion des Verlags, den es seitdem eigentlich nicht mehr gibt. Die Agenda des protestantischen Verlages, der von einer diakonischen Einrichtung, dem »Neukirchener Erziehungsverein«, unterhalten wird, ist noch nie ganz durchsichtig gewesen. Die seltsame Symbiose von pietistischer Frömmigkeitsliteratur und liberal- und reformjüdischen Schriften, die Michael Philipps wissenschaftliche Reihe hoffnungsvoll durchbrochen hatte, prägt nun allein das Verlagsprofil, das sich aus den alten Titeln speist und kaum Neuerscheinungen vorzuweisen hat. Um die innovativen Publikationen reduziert, scheint leider auch die dezidierte Kritik des liberalen Rabbiners Max Wiener am liberalen Judentum keinen Platz mehr zu finden im schmalen Sortiment des Verlages, das von jüdischen Terminplanern, den Büchern des amerikanischen Reformrabbiners Abraham J. Heschel, Shabbat-Meditationen, einer Volksausgabe von Moses Mendelssohns Übersetzung der Fünf Bücher Mose, Publikationen von Walter Homolka und Julius H. Schoeps bis hin zu Einführungen in den jüdisch-christlichen Dialog reicht. Schade. Zum Glück ist es aber so, dass sich Verlagsprogramme schnell ändern können, zeitgemäße Fragestellungen sich aber dennoch und dann eben anderswo ihre Bahn brechen. Thomas Meyers bereits genannte Publikation, die im Rahmen der neuen von Dan Diner herausgegebenen Essay-Reihe Toldot (Vandenhoeck & Ruprecht) erschien, alludiert Wieners Abrechnung mit dem »Zeitalter der Emanzipation« bereits im Titel. Die kleine Studie widmet sich dem Zeitalter jüdischen Denkens, das nach dem Ende der Emanzipation kommt und dessen Beginn mit Wieners Entwurf fast programmatisch eingeleitet wird. Meyers Text ist ein Beleg dafür, dass jenes von Daniel Weidner und Michael Philipp gesetzte Schlaglicht nicht ohne Wirkung geblieben ist. Vielmehr scheint es dazu beigetragen zu haben, die Aufmerksamkeit nachhaltig auf eine bislang stark vernachlässigte Periode jüdisch-deutscher Wissenschaft, Philosophie und Theologie zu lenken, die in dem Moment begann, als Wiener mit »einer geistigen Bewegung, die aus dem Judentum hinausführte«, ins Gericht ging: Diese Periode beginnt mit der politischen Wende von 1933 und endet dort, wo die »Jahre der Vernichtung« (Saul Friedländer) einsetzten und der größte Völkermord in der Geschichte der Menschheit einen Einschnitt in ungekannter Größenordnung hinterließ. Wiener verabschiedet mit seinem Buch nicht irgendeinen Gegenstand, vielmehr ist die geistige Bewegung des sich emanzipierenden Judentums seine eigene. Es ist jene, welche die politische und religiöse »Lebensform« des Leo Baeck-Schülers geformt und geleitet hat. Die unverhohlene Sympathie Wieners für den Gegenstand, die auch Daniel Weidner in seinem luziden Nachwort zur Neuedition hervorhebt, hat hier ihren Grund.

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Max Wieners Opus Magnum Jüdische Religion
im Zeitalter der Emanzipation
(1933)

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Obwohl Wieners Schrift vor 1933 beendet war, erscheint sie erst im September 1933, also nach der Machtübernahme der Nazis und dem Inkrafttreten des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« im April des gleichen Jahres. Das Gesetz war der erste juristische Schritt der Hitler-Diktatur zur systematischen Umkehr der jüdischen Emanzipation in Deutschland, die mit der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze 1935 vollendet wurde. Wie Max Wiener in seinem Vorwort anmerkt, haben »die tragischen Ereignisse, von denen das deutsche Judentum in diesen Tagen getroffen wurde«, keinen Einfluss auf Konzeption und Ausführung des Werkes mehr ausgeübt. Das Besondere seiner Untersuchung liegt darin, dass der von Wiener entlang seiner politischen Bedingungen spezifizierte Zeitraum durch die aktuellen politischen Ereignisse unmissverständlich historisch geworden war. Der letzte Absatz des Buches macht es deutlich, dass für ihn das Jahr 1933 eine Zäsur markiert, einen Punkt, »an dem ein klares Urteil über das, was geschieht, nicht zu gewinnen ist«. An dessen Stelle trat »der Rückblick auf eine Periode, die gerade das Erlebnis unserer Tage als abgeschlossen erkennen lässt« (Vorwort). Die Orientierung in der Gegenwart soll neu gewonnen werden, indem die vergangenen Perioden unter geänderter Perspektive neu abgeschritten werden. Derselben Rückwärtsbewegung begegnen wir nicht nur in Julius Guttmanns Postulat einer neuen Disziplin – der Philosophie des Judentums – sondern auch in Jakob Katz’ Dissertationsschrift von 1934, Die Entstehung der Judenassimilation in Deutschland und deren Ideologie. In Leo Strauss’ Philosophie und Gesetz von 1935 wird diese Bewegung gar zu einem radikalen Rückstoß-Moment, dessen Wucht den Leser frontal trifft.

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Die Frage nach der Religion im Zeitalter des Liberalismus

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Max Wiener stellte innerhalb einer dezidiert gesetzten politischen Matrix die Frage nach der Religion, die daher eher eine methodologische als eine historische ist: Welche Auswirkung haben Emanzipation und Liberalismus auf die jüdische Religion? Besonderes Interesse verdienen hier Wahl und Begründung seines Forschungsgegenstandes. Das deutsche Judentum dient ihm nur mehr als Präzedenzfall einer allgemeinen Moderne-, Liberalismus- und Religionskritik. Nur weil in dieser Periode »der deutsche Zweig des Judentums für die Entwicklung des jüdisch-religiösen Lebens führend« war, ergab sich für Wiener die Beschränkung seines Untersuchungsgegenstandes auf den »deutschen Kulturkreis«. Kaum merklich findet so ein Paradigmenwechsel statt – nicht mehr das deutsche Judentum steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern das »jüdisch-religiöse Leben« als solches, zu dessen Facette jenes im Zuge der Darstellung wird. Wieners »Religionsgeschichte des Judentums im Zeitalter seiner bürgerlichen Emanzipation« will »ein treuer Spiegel von dessen Gesamtlage« sein. Mit dem Zeitalter der Emanzipation nahm Wiener insbesondere die Zeit zwischen 1782 und den 1870er Jahren in den Blick, also die Zeit, in der das liberale Ziel der vollen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung durchgesetzt wird. Für ihn war klar: »Mit Moses Mendelssohn musste begonnen werden.« Ungewöhnlicher ist das gesetzte Ende der Periode. Das Aufkommen des nationalen Paradigmas ist die Schwelle, die Wiener nicht überschreitet, denn hier begann der Prozess, in den Wiener sich selbst verwoben sieht und in dem »die Werte des liberalen Zeitalters einer grundlegenden Revision unterzogen« werden. Als äußere Gewalten in Form von Nationalsozialismus und Antisemitismus bestimmen sie die aktuelle Gegenwart ebenso wie in Form der zionistischen Idee. Es bleibt unzweideutig, was Wiener am nationalen Zeitalter interessiert. Auch hier ist sein Blick nach innen geleitet (Meyer 2008). Der Zionismus hat sich der gleichen Frage wie der Liberalismus zu stellen: der Frage nach der Religion. Aber Wieners Ausblick ist voll von Hoffnung und Optimismus: Die sich mit dem Erstarken des nationalen Moments vollziehende Säkularisierung werde am religiösen Gehalt des Judentums nichts ändern, vielmehr habe es die Frage nach dem »wahren Charakter des Judentums« wieder neu zur Sprache gebracht.

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Wissenschaft des Judentums:
Das Bild vom Vogel der Minerva

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Wiener ordnet seine vier getrennten Expertisen, die je einen diachronen Schnitt entlang der gewählten Zeitachse vornehmen, nach verschiedenen Fragestellungen. Dass sich das erste Kapitel dem Wandel von Religionsgesetz und Lebensform in der Emanzipationszeit widmet, und erst das zweite nach Philosophie und Weltanschauung fragt, zeigt, wie radikal die von ihm vorgenommene Umdeutung des Religionsbegriffes ist. Wie von Daniel Weidner gezeigt, wurde dieser Begriff in der Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie entwickelt. Wieners hart erarbeitete kritische Distanz wird schon 1923 (Jüdische Frömmigkeit und religiöses Dogma) deutlich, wenn er »Religion« und »Religionsphilosophie« als Begriffe kenntlich macht, deren christliche Herkunft sie gegen einen vorbehaltlosen Gebrauch im jüdischen Kontext imprägniert: Während Religion auf einem Akt des Glaubens basiere, stehe im Zentrum des Judentums das Religionsgesetz. Bewusst knüpft er so an eine Diskussion an, die von Moses Mendelssohn 1783 eröffnet wurde, aber im Zuge der erfolgreichen Durchsetzung der Emanzipation schon bald an die Peripherie gedrängt wurde. Ebenso hatte Wiener seine Position in der liberalen Kontroverse um die Ansprüche auf das soziologische und ethische Erbe der biblischen Propheten (deren Protagonisten Hermann Cohen, Ernst Troeltsch und Max Weber damals wie heute bekannter sind als Wiener selbst) nach langem Ringen nicht innerhalb, sondern außerhalb der Debatte gefunden. Mit Verweis auf den apologetischen Charakter der Auseinandersetzung unterzog er die Säkularisierungsthese selbst der Religionskritik (Robert S. Schine 1992). Dass Wiener die Begriffe »Religion« und »Säkularisierung« dennoch benutzt – wie Weidner richtig anmerkt, ist er der erste jüdische Denker, der von letzterem Gebrauch macht –, hat nicht nur mit dem Anspruch der zeitgemäßen Kommunizierbarkeit seiner Thesen zu tun, sondern impliziert bereits in der Wortwahl die Kritik am behandelten Zeitalter. Die Säkularisierung des Judentums, daran lässt Wiener keinen Zweifel, geht auf »die gewaltsame Menschenfreundlichkeit der Aufklärungspolitik zurück.« Wenn das dritte Kapitel die religiöse Idee in der »Wissenschaft vom Judentum« untersucht, heißt das vor allem, dass innerhalb dieser intellektuell-jüdischen Bewegung das Religionsgesetz seiner zentralen Stellung längst beraubt war. Auf diese jüdische Wissenschaft, so Wiener in Anlehnung an Hegel, passe daher auch ganz besonders »das Bild vom Vogel der Minerva, der in der Abenddämmerung zu seinem Fluge sich erhebt«. Das vierte, sehr kurze Kapitel beschäftigt sich dann ganz und gar mit einem Phänomen, das die Säkularisierung erst hervorgebracht hat: dem »Judentum als Stimmung«.

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Die retrospektive Darstellung Wieners lässt die regionalen Bedingtheiten des deutschen Judentums hinter sich, indem sie diese auf ihre politischen Randbedingungen reduziert einerseits und eine Kategorie ins Zentrum stellt, welche die synchrone und diachrone Vergleichbarkeit sichert, andererseits. Beschreibt Wiener ohnehin die Emanzipation als Fremdeinfluss, welcher der vormodernen jüdischen Einheitskultur von außen oktroyiert wurde, vollzieht sich so eine ausgesprochen untheatralische Relativierung des jüdisch-liberalen Projekts. Sein verdeckter Angriff gilt den aufklärerischen und rationalen Grundlagen des ganzen Spektrums jüdischen Denkens zwischen Reformjudentum und Neo-Orthodoxie, sein Hoffen ist auf die »Aktivitätskräfte« gerichtet, die das Judentum »vor dem gänzlichen Erdrücktwerden bewahren«. Von Heinrich Heine übernimmt Wiener die Idee von der ›Tora als portativem Vaterland‹. Jedoch meint Tora nun keinen Text mehr, sondern wieder ganz unlutherisch die verlorengegangene »Totalität der Halacha«. Die Idee umfasst die Hoffnung, dass der Zionismus das Judentum seinem alten konstitutiven Sinn wieder ein Stück näher bringt. Dieselbe wechselseitige Ambivalenz von Wandel und überzeitlicher Grundverfassung des Judentums wurde Leo Strauss 1935 zum Ansatzpunkt für seine Kritik des aufklärerischen Rationalismus aus den Quellen des mittelalterlichen arabischen und jüdischen Rationalismus. Dass er damit direkt an eine Denkbewegung Max Wieners anknüpfte, bleibt freilich wie so vieles andere in seinem Werk unausgesprochen.

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Zur Rezeption Max Wieners

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Dem 1882 im schlesischen Oppeln geborenen Rabbiner Max Wiener gelang es 1939 gerade noch rechtzeitig Deutschland zu verlassen. Im Alter von 57 Jahren war der Gelehrte gezwungen, sich in den USA eine neue Existenz aufzubauen. Als Rabbiner fand er ein Wirkungsfeld im New Yorker Immigrantenmilieu, der Neueinstieg in die fremde akademische Landschaft gelang ihm nicht mehr. Er starb 1950. Seine Religionsgeschichte des deutschen Judentums hat jedoch nicht nur die innerjüdischen Kontroversen nach 1933, sondern auch die Forschung zur Emanzipationszeit in Amerika und Israel nachhaltig beeinflusst. Das natürlich nicht zuletzt, weil er mit seiner übergreifenden Fragestellung nach dem Verhältnis von Liberalismus und Judentum den deutschen Kontext bereits transzendiert hatte. Die einschlägigen Werke zur Emanzipationszeit von Jacob Katz, Michael A. Meyer und David J. Sorkin setzten die Diskussion fort, die von ihm begonnen wurde und in der die genaue Lektüre seines Buches auch heute noch gewinnbringend neue Akzente setzen kann. Die Übersetzung von Wieners Hauptwerk ins Neuhebräische von 1974 ist in Israel immer noch im Handel erhältlich. Das vielleicht nur als kleiner Hinweis an die Jüdische Verlagsanstalt. Thomas Meyer verdanken wir die erste Skizze des intellektuellen Milieus, in dem Wiener sein Emanzipations-Buch publizierte, aber auch das Aufmerken, dass Daniel Weidners so wichtige Neuedition aus den Buchläden und Märkten im Internet wieder verschwunden ist.