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Harte Kerle, ganz weich

Zu Veränderungen des Handlungsmodells männlicher Helden im hard-boiled-Krimi auf der Folie des Familienromans des 19. Jahrhunderts

  • Leonard Cassuto: Hard-Boiled Sentimentality. The Secret History of American Crime Stories. New York, NY: Columbia University Press 2008. 344 S. Cloth. USD 79,50.
    ISBN: 978-0-231-12690-8.
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Die sanfte Stimme des Helden

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Es sind gerade die harten Krimi-Spektakel, in denen das sanft gesprochene Wort eine besondere Rolle spielt. Ein beliebiges Exempel: In der fünften Staffel der amerikanischen Serie 24, die für den rüden Umgang mit Menschenrechten ebenso bekannt ist wie für ihren eher laxen Umgang mit Fragen der Gewalt, in denen sogar vor Morden an Mitgliedern der eigenen Gruppe nicht zurückgeschreckt wird, wenn es der Sache dient, senkt der Protagonist, Jack Bauer, stets dann seine Stimme bis zur Sanftheit, wenn die Rede auf das kommt, was von seinen familiären Verhältnissen übrig geblieben ist, die Tochter, eine vertraute Frau, eine ehemalige Geliebte, Gefährten und das, was man vielleicht Freunde nennen könnte. Schon dass der tough guy der Serie im Grunde sanften Gemüts ist, ist bemerkenswert (wenn auch ein bekanntes Phänomen). Aber dass sich der Held nicht auf den sozialen Kernbereich bezieht, den man gewöhnlich ›Familie‹ nennt, sondern auf ein Mixtum unterschiedlicher, teils sogar gegensätzlicher Beziehungsformen ist von besonderer Bedeutung: Es sind Patchworks, in denen empathische Beziehungsnetze geflochten werden, deren Beharrlichkeit angesichts der Gewalt der umgebenden Szenerie und vor allem der Gewaltbereitschaft ihres zentralen Protagonisten mehr als erstaunlich ist.

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Die Staffel nimmt ihren Ausgang beim inkognito lebenden, vergeblich arbeitssuchenden Bauer, der ein Zimmer bei einer alleinerziehenden Frau bewohnt, der er sich gerade in seiner prekären Situation persönlich verpflichtet sieht. Der Umstand, dass der Sohn der Gefährtin (auch wenn er sie nicht liebt) in die beginnenden Wirren gerät, motiviert ihn zu verstärkten Rettungsanstrengungen. Jack Bauer ist – und langjährige 24-Zuschauer wissen das – jemand, der sich persönlich verpflichtet sieht, die Seinen zu schützen, auch wenn er immer wieder persönliche Verluste erleidet (so verliert er seine erste Frau bereits in Staffel 1, und der Tod des ehemaligen Präsidenten David Palmer, mit dem Bauer eine respektvolle Beziehung pflegt, zu Beginn von Staffel 5 ist ein persönlicher Affront für ihn).

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Das Beziehungspatchwork, die persönliche Verpflichtung seinen ›Angehörigen‹ gegenüber wie die Vergeblichkeit der Bemühungen Bauers, die Unverletzlichkeit seines persönlichen Umfelds sicherzustellen wie auch überhaupt im Alltag Fuß zu fassen (wir erinnern den Ausgangspunkt der Staffel), gehören zu den Basisauszeichnungen der Serie – ebenso wie die ausufernde und bedingungslose Grausamkeit, zu der der Agent Jack Bauer in der Lage ist.

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Familiale Beziehungen als Ideal

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Dieser Widerspruch zwischen extremer dissoziativer Gewalt und einer nicht minder extremen Fokussierung auf das direkte persönliche Umfeld und dessen Sicherung, mit dem sich Bauer emotional stark verbunden zeigt, verweisen auf ein Phänomen, das den hard-boiled-Krimi, zu dessen späten Blüten 24 gehört, von Beginn an auszeichnet, nämlich seine enge Bindung an ein Denkbild funktionierender sozialer Beziehungen, das in der Regel als Familie gedacht und bezeichnet wird. Es ist der engere, rudimentäre Kreis sozialen Lebens, der als Orientierungspunkt und als Hintergrund, aber auch als Negativfolie der Akteure fungiert. Selbst die härtesten Ermittler wie deren härteste Widersacher beziehen sich in ihren Handlungen und ihren Bemühungen im Wesentlichen auf die Familie.

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An diesem Punkt setzt Leonard Cassuto an und variiert dabei eine bekannte Sentenz, nach der die harten Männer, die hinausgehen und ein abenteuerliches Leben führen, insgeheim besonders weich seien, wahlweise auch: Die Zyniker sind die eigentlichen Romantiker. Cassuto verweist dabei auf eine spezifische Funktion des Unterhaltungsgenres und dessen besondere Nähe zu kulturellen Konflikten und Problemlagen: Genre-Romane artikulierten kulturelle Konflikte (S. 3), und im hard-boiled-Krimi sei es der Zerfall des männlichen Rollenbildes im Laufe des 20. Jahrhunderts, das mit seiner Unfähigkeit korrespondiert, traditionelle Familienstrukturen zu bewahren. Das korrespondiere damit, dass das wohl härteste amerikanische Genre, das wohl am stärksten männliches Selbstbewusstsein demonstriere (S. 2), letztlich auf ein Modell rekurriere, das im weiblich dominierten Genreroman des 19. Jahrhunderts und seinem idealisierten Familienmodel formuliert worden sei.

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Konstitution von Gesellschaft als Aufgabe

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Die Überlegung, dass das Krimi-Genre insgesamt auf soziale Kontrolle ziele (S. 3), greife so gesehen zu kurz, denn das Genre, so Cassutos zentrale These, ziele höher, nämlich auf die Konstitution und Funktion von Gemeinschaft überhaupt. Nicht Kontrolle der Gesellschaft, sondern Konstitution des gesellschaftlichen Raumes wären demnach seine Themen. Gerade der hard-boiled-Krimi sei konsequent dem Sentimentalen verpflichtet, und zwar deshalb, weil es sich an den historischen Veränderungen des Gesellschaftlichen ebenso abarbeite wie an der Folie eines gelungenen gesellschaftlichen Lebens, das vom sentimentalen Genre des Familienromans des 19. Jahrhunderts geprägt worden sei.

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Der Bereich des Sentimentalen wird durch die Geschlossenheit des sozialen Raums, der Familie und der empathischen Qualität der Beziehungen geprägt. Es wird damit, so Cassuto, in den USA mit dem Weiblichen kurzgeschlossen (S. 8), was nicht zuletzt die Verwandtschaft des Konzepts mit dem in der deutschen und englischen Literatur intensiv diskutierten bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts nahelegt, zumal die philosophischen Bezugspunkte gleichfalls im 18. Jahrhundert und bei Denkern wie Adam Smith oder David Hume liegen.

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Nicht jedoch die historische Ableitung, sondern die konsequente Weiterentwicklung historisch funktionaler Konzepte interessieren Cassuto, versteht er doch das Sentimentale und den hard-boiled-Krimi beide als konzeptionelle Reaktionen auf den entstehenden Kapitalismus, der die Auseinandersetzung zwischen gruppenorientierter Sympathie und hartem Individualismus anfeuere (S. 10).

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Mit der Zunahme der Komplexität und Dynamik von Gesellschaft wächst auch die Notwendigkeit, soziale Institute, an die die Individuen gekoppelt sind, zu verändern, so dass sie ihre Funktionsfähigkeit erhalten. In den vergleichsweise langsamen Prozessen des 19. Jahrhunderts ist die Familie das stabile Handlungs- und Orientierungszentrum, das von empathischen und sympathetischen Beziehungen bestimmt wird. Die Funktionsteilung zwischen den Geschlechtern ist ebenso funktional wie historisch, das heißt vorläufig. Die sentimentale Häuslichkeit wird, so Cassuto, in der Regel als Distinktionskonzept der weißen Mittelschicht verstanden (S. 181), das sich freilich verändern muss, um funktional bestehen zu können. Dass es ihm gelingt, zumindest als Verhaltens- und Beziehungsfolie, zeigt die Stärke des Musters, allerdings verändert es sich dabei bis zur Unkenntlichkeit eines offenen, flexiblen und dynamischen Beziehungsgeflechts, wie es in 24 erkennbar wird, das dennoch mit allen Auszeichnungsmöglichkeiten des Sentimentalen vor keinem Extrem zurückschreckt.

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Von der Familie zum Patchwork

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Die Entwicklung des hard-boiled-Protagonisten bildet die Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse von der stabilen Mittelschicht-Familie zum sozial und kulturell uneindeutigen Patchwork des späten 20. und frühen 21. Jahrhundert ab. Während das frühe Konzept gerade auf die Abschottung des familiären Sektors vom Sozialen setzt, um die Familie damit als Handlungsgemeinschaft konstituieren zu können (Texte wie Theodor Dreisers An American Tragedy, 1925, verweisen darauf). Um 1900 wird jedoch die Grenze zwischen den sozialen Räumen Familie und Gesellschaft durchlässig. Dient die Familie als Überlebenskonstrukt im entstehenden Kapitalismus, verliert sie diese Bedeutung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, was eben auch Auswirkungen auf das männliche Rollenmodell habe: An die Stelle des empathischen trete der aggressive Mann, der sich in den Konkurrenzen des Systems behaupten müsse (S. 37): »the hard-boiled pose draws its power from lack of affect, from a self-conscious, self-defensive emotional detachment from a world of forces« (S. 42) Empathie verliert nicht zuletzt deshalb an Bedeutung, weil sie dysfunktional wird: Sie führt zu Nachteilen in der Konkurrenz um Revenuen, die im Übrigen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu vollständig als Einkommen und nicht aus der bäuerlichen Subsidienzwirtschaft kommend verstanden werden müssen.

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Auffallenderweise korrespondiert diese Entwicklung, so Cassuto, mit der Kontamination des Systems durch familiale Konstruktionen und Auszeichnungen, mit der Entwicklung des Trusts als Unternehmensform (S. 51), was Dashiell Hammett in Der Malteser Falke in eine untrennbare Mischung von Geschäfts- und Familienleben überträgt. Freilich widerspricht dies einem Geldsystem, das derart abstrakt und komplex ist, dass es auf abstraktes und anonymes Vertrauen basieren muss und eben nicht auf Anschauung. Die Abstraktion der gesellschaftlichen Beziehungen und Strukturen korrespondiert mit dem Wunsch sie nachvollziehbar, ja sichtbar zu machen. Die Entlarvung des Täters im Krimi ist damit immer auch die Entlarvung eines Systems, das ihn in seine Position gebracht hat resp. sie ihm anbietet.

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Das wird in den hard-boiled-Texten der späteren vierziger Jahre weiter entwickelt. In deren Entwicklung wird der familiäre Kontext weiter zerschlagen. Während das sentimentale Muster, so Cassuto, immer auf die Konstitution eines familiären Konnexes setzt und ihn als erfolgreich auszeichnet, geht der hard-boiled-Text in die andere Richtung: Was an einigermaßen tragfähigen Strukturen übrig bleibt, korrodiert mehr und mehr. Das konventionelle Familienmodell, in dem die Väter für die Revenuen zuständig sind, verfällt völlig, eben weil sie in den Krisen des Systems genau diese Funktion nicht mehr erfüllen können. Die Versorgerrolle kollabiert (S. 83). Männer werden mehr und mehr separiert und isoliert, von Frauen und Kindern getrennt, die sie sich selbst überlassen. Sie gehen nicht mit ihnen unter, sondern nehmen ihren abschüssigen Lauf allein in Anspruch. Vertrauen wird als soziale Währung völlig suspendiert. An dessen Stelle tritt der Überlebenskampf der Einzelnen (S. 68).

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Das korrespondiert mit einer neuen Rolle des politischen Teils des Systems, das nun die fürsorgende Funktion der Familie übernimmt, was in den Krimis der Zeit reflektiert werde, so Cassuto (S. 76). Zwischen Subjekt und abstrakter Institution steht nun nichts mehr, was das Interesse des Subjekts an den Funktionsweisen des Systems nur verstärken kann, ja verstärken muss. Das umso mehr, als die politische Kultur die Kleinfamilie nach 1945 zum Zentrum ihrer Organisation macht. Das wiederum, so Cassuto, führe zu einer neuen, angepassten Männerrolle, die vor allem an der systemischen Funktionalität ausgerichtet sei (S. 106), während die Frauenrolle auf ihre Funktionen im Haushalt reduziert werde (S. 116). Die ersten hard-boiled-Heldinnen zeigen demnach keine Emanzipation an, sondern eine Fehlentwicklung (S. 116).

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Milde Ermittler, bösartige Kriminelle

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Erst seit den sechziger Jahren werde, so Cassuto, der hard-boiled-Held neu gestaltet, reziprok zu seiner Gegenfigur, dem Täter. Werde der eine milder und freundlicher, menschlicher, werde der andere immer bösartiger bis hin zu jener extremen Form, die als Serienkiller die basale Konstruktion von Gesellschaft in Frage stelle (S. 152): Der Serienkiller repräsentiere die apokalyptische Kollision des hard-boiled-Individualismus mit den Gemeinschaftswerten (S. 98). Das wiederum leitet zu jenen Patchwork-Konstruktionen über, in denen keine sozial konsistenten Teilnehmer, sondern beliebig ausgestattete Figuren miteinander kombiniert werden können. Das familiale Feld wird damit erweitert, etwa um den Freundeskreis, da im Fokus des Interesses die Konstruktion von lebbaren Sozialbereichen steht, die flexibel und variierbar sind. Eine der extremen Fassungen sieht Cassuto in der Wahlgemeinschaft zwischen Clarice Starling und Hannibal Lecter auf der einen, und ihrem Mentor Jack Crawford auf der anderen Seite in Das Schweigen der Lämmer (S. 186). Dem steht das Horrorbild vom Familienleben (S. 187) nicht entgegen, das Texte dieser Art bestimmt – ein Erbe der 1968er, die Jugendkultur und Establishment, dessen Basis Familie ist, konfrontierten. Ganz im Gegenteil: zwar bleiben die sentimentalen Bilder von Familie bestehen, sie werden aber mehr und mehr auf fragilere, zeitlich begrenzte Sozialgemeinschaften übertragen, die den Einzelnen aufnehmen und aufheben. Der hard-boiled-Ermittler der Gegenwart – weiblich oder männlich – ist in der Lage ein soziales Umfeld zu kreieren und zu leben, und zwar zum Teil auch gegen den Widerstand des Systems. Das macht ihn nicht weniger zum Konstrukt einer Idee von Gesellschaft und ihren Strukturen als seine Vorgänger. Auch erlaubt dies seinen Autoren immer noch, ihre Figuren mit Eigenschaften zu versehen, die sie aus der Gemeinschaft der Normalen ausgrenzt. Aber mit ihrer Fähigkeit, soziale Bindungen einzugehen, sind sie durchaus noch mit jenem Teil von Gesellschaft verbunden, in dem die Farbe der Küchenwände wesentlich ist. Dass er grundsätzlich bedroht ist von einem Reich, in dem Gewalt, das Böse oder auch das Geld regieren, wie etwa in David Peaces Red-Riding-Zyklus, ist dabei unbenommen. Gerade weil sie beiden Sphären angehören, sind die gegenwärtigen hard-boiled-Helden so attraktiv.