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Postkolonialismen

  • Prem Poddar / Rajeev Patke / Lars Jensen (Hg.): A Historical Companion to Postcolonial Literatures. Continental Europe and its Empires. Edinburgh: Edinburgh University Press 2008. 688 S. Gebunden. GBP 150,00.
    ISBN: 978-0-7486-2394-5.
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Der vorliegende Sammelband steht in der Folge des 2005 ebenfalls von Prem Poddar und David Johnson herausgegebenen A Historical Companion to Postcolonial Literatures in English. Es handelt sich um einen Überblick über die koloniale Geschichte des »kontinentalen Europa« und um dessen postkoloniale Zusammenhänge. Darin findet der Leser Kapitel über Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Portugal und Spanien sowie kleinere Exkurse zu »other Europes« (unter anderem Russland, Schweden und der Türkei).

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Im Großen und Ganzen wird der Band dem Anspruch durchaus gerecht, ein nützliches Instrument zu sein »for grounding postcolonial studies in historical awareness, and grounding historical awareness of modern colonialism, and its continued impact in contemporary realities, in a comparative context that is mindful of the literary dimension to the historicity of experience« (S. 2).

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Kolonialismus und Postkolonialismus

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Die postkoloniale Theorie wurde lange vom angelsächsischen Muster beherrscht. Das Spezifische und Mannigfaltige der (post)kolonialen Erfahrungen wurde unter diesem Referenzrahmen subsumiert. 1 Demgegenüber betont die neuere Forschung nicht nur die Vieldeutigkeit des Begriffs »Postkolonialismus« – »es gibt kein Postkolonialismus im Singular« 2 –, sondern auch seine grundsätzliche Kontextabhängigkeit. Die einfache Erkenntnis, dass der Kolonialismus kein einheitlicher Prozess war und dass verschiedene koloniale Geschichten unterschiedliche postkoloniale Konstellationen erzeugen mussten, hat sich inzwischen Bahn gebrochen. Insbesondere iberische und lateinamerikanische Forscher wie Enrique Dussel, Aníbal Quijano, Walter Mignolo oder Boaventura de Sousa Santos haben zu einer differenzierteren Betrachtungsweise entscheidend beigetragen.

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Ein erster, großer Verdienst des vorliegenden Bandes liegt in der Herausarbeitung dieser Pluralität durch die eingehende Behandlung von relevanten Fällen aus ganz Europa, auch von bisher wenig beachteten wie zum Beispiel der Kolonialgeschichte Dänemarks. Die Untersuchung richtet sich gezielt auf die konkreten historischen Zusammenhänge und versucht aus ihnen heraus zur Konturierung der jeweiligen Problemfelder zu gelangen. Jedes Kapitel wird durch eine kurze Einleitung des jeweils verantwortlichen Herausgebers eingeführt, der dann lexikalische Einträge folgen. Es ließe sich natürlich darüber streiten, ob die Wahl dieser Stichworte nicht auch anders hätte gestaltet werden können, aber im Großen und Ganzen erscheint das jeweils Relevanteste doch berücksichtigt worden zu sein. Die vielfältigen Bezüge zwischen den einzelnen Artikeln werden klar herausgearbeitet, was unter anderem der Wiederkehr von zentralen Stichworten wie unter anderen Kreolisierung, Orientalismus, Migrationen, Rasse und Ethnizität, Geschichten von Frauen usw. zu verdanken ist. Dadurch entsteht nicht der Eindruck des Fragmentarischen beziehungsweise der bloßen lexikonartigen Aneinanderreihung von Begriffen. Eine ausführlichere Einleitung zu diesem Werk und zu den einzelnen Kapiteln wäre jedoch wünschenswert gewesen.

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Ein zweiter Verdienst des Bandes liegt darin, dass die Beziehung zwischen den Metropolen und deren Kolonien nicht in Form eines einfachen binären Gegensatzes abgehandelt wird, sondern durchgehend als eine sich gegenseitig bedingende komplexe Beziehung: Kolonisierung wird nicht als ein äußerer, sich in der Ferne abspielender Vorgang dargestellt, sondern als eine tief greifende Umgestaltung, die auch die Kolonialmacht nicht unberührt lässt. So konnte auch die unlösbare Verflechtung von Kolonialismus und Moderne thematisiert werden.

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Ein dritter Aspekt in diesem Historical Companion, der Beachtung verdient, hängt mit dem kritischen Blick zusammen, der den verschiedenen Beiträgen gemeinsam ist. In der Tat werden gängige Idealisierungen vermieden und beliebte historische Mythen einer gnadenlosen Revision unterzogen. Dank der durchgehenden Betonung von Themen wie dem Sklavenhandel untermauern die Herausgeber die Vorstellung vom Kolonialismus als der dunklen Seite der Moderne. Überhaupt wird die Auffassung des kolonialen Verhältnisses als Gewaltverhältnis ins Zentrum der Analyse gerückt, was eine entscheidende Korrektur gegenüber den gängigen nationalen Historiographien darstellt und wiederum notwendige Bausteine zum Verständnis der postkolonialen Zusammenhänge bereitstellt.

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Da es unmöglich wäre, die einzelnen Kapitel im Detail zu kommentieren, werden im Folgenden die Kapitel zu Deutschland und Portugal stichprobenartig unter die Lupe genommen.

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Kolonialmacht Deutschland

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Wie die Verfasserin dieses Teils, Birthe Kundrus, hervorhebt, nimmt die Beschäftigung mit dem Kolonialismus in der deutschen Historiographie einen sehr bescheidenen Platz ein. Erst in jüngster Zeit ist ein regelrechtes Aufblühen der Forschung auf diesem Gebiet zu verzeichnen. Kundrus Grundannahme ist, dass der Kolonialismus in Deutschland prägend blieb, auch wenn die deutsche Kolonialgeschichte 1918 ein Ende fand. In diesem Sinne plädiert sie dafür, die deutsche Gesellschaft genauso wie die britische, französische oder spanische als eine postkoloniale Gesellschaft zu betrachten (S. 203).

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Die Herausgeberin macht darauf aufmerksam, dass die Erforschung der Kolonialgeschichte Deutschlands keineswegs abgeschlossen ist und dass definitive Erkenntnisse auf manchem Gebiet noch nicht vorliegen (S. 201). Dies trifft sicherlich auch auf andere nationale Fälle zu, wo die neueren postkolonialen Perspektiven vieles in Bewegung gebracht und eine konsequente Revision bisheriger Grundsätze bewirkt haben. Gerade der deutsche Fall, der etwa die komplexe Frage nach dem Verhältnis zwischen kolonialer Gewalt und der Genozidpolitik während des Nationalsozialismus aufwirft oder Besonderheiten hinsichtlich nationaler Gedächtnispraktiken aufweist, kann Neues zur allgemeinen Reflexion beitragen.

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Als einziges Manko wäre zu nennen, dass Österreich aus der Betrachtung des deutschsprachigen Raumes ausgeschlossen wurde. Diese Abwesenheit Österreichs, das im ganzen Band nicht ein einziges Mal Erwähnung findet, befremdet. Zwar besaß die K.u.K.-Monarchie im Unterschied zum Deutschen Reich keine überseeischen Kolonien, trotzdem war der koloniale Gedanke auch für Österreich zutiefst prägend, wie Walter Sauer einleuchtend nachgewiesen hat. 3 Hinzu kommt der wichtige Aspekt des innereuropäischen Kolonialismus, namentlich auf dem Balkan, der insbesondere in der Einverleibung Bosnien-Herzegowinas seinen Ausdruck fand und der ein Kapitel der Kolonialgeschichte Europas darstellt, das nicht außer Acht gelassen werden sollte. Gerade im neuen Millennium hat die Forschung nachdrücklich hervorgehoben, dass (Post-)Kolonialismus auch für den Fall Österreichs von wesentlicher Bedeutung ist. 4

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Kolonialmacht Portugal

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Im Falle Portugals haben wir es mit einem Land zu tun, das der globalen Expansion Europas den Weg geöffnet hat und das am längsten am kolonialen Besitz festhielt, nämlich bis 1975, als die afrikanischen Kolonien in Folge der demokratischen Revolution von 1974 ihre Unabhängigkeit erlangten. Es liegt auf der Hand, dass diese mehr als fünfhundertjährige Kolonialgeschichte komplexe und spezifische Fragen aufwirft. Umso bedauerlicher ist es, dass das von Phillip Rothwell herausgegebene Kapitel zu Portugal stellenweise unter dem für die anderen Länder üblichen Niveau bleibt. So lassen sich neben ausgezeichneten Beiträgen, wie zum Beispiel zu »Anthropology and Ethnography«, »Lusotropicalism, Race and Ethnicity« oder »Women’s Histories in the Lusophone Colonial and Postcolonial Worlds«, auch Stichwortartikel finden, die in mancher Hinsicht enttäuschen.

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Überhaupt entsprechen manche Beiträge wie beispielsweise »Explorations and Discoveries« nicht dem neuesten Forschungsstand: Dass in diesem Artikel Damião Peres’ A History of the Portuguese Discoveries als eine weiterhin gültige Darstellung (»most comprehensive and readable«, S. 446) herausgestellt wird, ist schlicht unannehmbar. Denn es handelt sich hierbei um ein 1960 erschienenes Werk, das zudem lediglich eine Ende der vierziger Jahre veröffentlichte Untersuchung – und übrigens ein Paradebeispiel nationalistischer Geschichtsschreibung – auf Englisch zusammenfasst. Dagegen findet Bethencourts und Chaudhuris grundlegendes und dem neuesten Forschungstand zur Kolonialgeschichte Portugals entsprechendes fünfbändiges Werk 5 keinerlei Erwähnung. Überhaupt scheint in diesem Artikel, wie auch in manch anderem, grundsätzlich bloß auf Englisch erschienene Literatur berücksichtigt worden zu sein – ein höchst fragwürdiges Kriterium, das notwendigerweise Wesentliches aus der einschlägigen Forschung beiseite lassen muss. Ähnlich beschränkt sich der vom Herausgeber beigesteuerte Artikel »Historiography« in dem kurzen Abschnitt über das 20. Jahrhundert auf »historians of Portugal in the English language« (S. 459). Diese eigenartige Beschränkung führt dazu, dass nicht nur das oben erwähnte Standardwerk von Bethencourt und Chaudhuri auch hier verschwiegen wird, sondern auch unter anderen die grundlegenden Arbeiten von Vitorino Magalhães Godinho, obwohl diese Arbeiten zum Teil sogar auf Englisch und Französisch zur Verfügung stehen.

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Manches andere wäre noch kritisch anzumerken. So fehlen beispielsweise relevante Stichworte wie etwa »Lusophone«, während der entsprechende Terminus »Francophone« sehr wohl berücksichtigt wird. Die Frage der Denkmal- und Museumskultur sowie des materiellen Erbes (zum Beispiel Architektur) hätte behandelt werden sollen. In anderen Fällen wiederum ist die Themenbegrenzung nicht nachvollziehbar. So fragt man sich, warum sich der höchst sinnvolle Beitrag zu postkolonialen Migrationsbewegungen aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien auf Mozambique beschränkt, statt einen vollständigen Überblick anzubieten. Dies hat unter anderem zur Folge, dass die Frage nach der Entwicklung Portugals zur multikulturellen postkolonialen Gesellschaft nicht ausführlich genug behandelt wird.

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Einige Artikel müssten eigentlich gänzlich neu geschrieben werden. So bleibt beispielsweise der Stichwortsbeitrag »The Carnation Revolution« nicht nur oberflächlich, sondern weist sogar unakzeptable Ungenauigkeiten auf. Es trifft keinesfalls zu, dass »a group of army officers […] rallied around the ideals of a popular general António Spínola« (S. 443). Der eigentliche Sachverhalt ist viel komplexer, wie in jeder seriösen Untersuchung nachzulesen ist. Auch der Beitrag unter dem Stichwort »Moorish Portugal«, aus der Feder derselben Verfasserin, Kathryn Bishop-Sanchez, entspricht dem Inhalt eines populären Reiseführers, hält aber wissenschaftlichen Standards kaum stand. Auch zu diesem Thema hat die portugiesische Forschung in den letzten 30 Jahren grundlegend Neues geliefert, was die Verfasserin leider unberücksichtigt lässt. Leider beeinträchtigen solche Ungenauigkeiten sowie das unterschiedliche Niveau der einzelnen Beiträge deutlich den Wert des Teils über Portugal.

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Schlussbemerkung

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Die oben ausgeführte Kritik im Detail stellt eine grundsätzlich positive Einschätzung des vorliegenden Werkes jedoch keineswegs in Frage. Das Buch stellt an sich ein einzigartiges Vorhaben von nicht da gewesener Bandbreite dar und wird sicherlich lange eine hervorragende Stellung als Referenz- und Nachschlagewerk behaupten können. Zudem wird es durch ein Namens- und Sachregister sowie eine nützliche und übersichtliche »Selective Chronology of Historical and Literary Events« abgerundet. Nachfolgende Auflagen werden eine Gelegenheit zur Aktualisierung und Revidierung einzelner Aspekte bieten, die wahrgenommen werden sollte.

 
 

Anmerkungen

Es ist zum Beispiel auffällig, dass Edward Said in seinem längst klassisch gewordenen Orientalism die »erste« iberische »Moderne« vollständig außer Acht lässt. Zum Begriff »erste Moderne« vgl. Enrique Dussel: The Invention of the Americas. Eclipse of »the Other« and the Myth of Modernity. New York: Continuum Publishing 1995.   zurück
John McLeod: Beginning Postcolonialism. Manchester, New York: Manchester University Press 2000, S. 3.   zurück
Vgl. dazu: Walter Sauer (Hg.): K.u.k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika. Wien: Böhlau 2002.   zurück
Vgl. dazu u.a.: Wolfgang Müller-Funk u.a. (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: Francke 2002; Johannes Feichtinger u.a. (Hg.):Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und Kollektives Gedächtnis. Innsbruck: Studien Verlag 2003; und Wolfgang Müller-Funk / Birgit Wagner (Hg.): Eigene und andere Fremde. »Postkoloniale« Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia & Kant 2005.   zurück
Francisco Bethencourt / Kirti Chaudhuri: História da Expansão Portuguesa. 5 Volumes. Lisboa: Círculo de Leitores 1998.   zurück