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Kultivierte Angst oder wie Kierkegaard
seine Krisen genießt

  • Sophie Wennerscheid: Das Begehren nach der Wunde. Religion und Erotik im Schreiben Kierkegaards. Berlin: Matthes & Seitz 2008. 352 S. Gebunden. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 978-3-88221-717-9.
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Angst- und lustvolles Kreisen
um die Wunde

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»Das Begehren nach der Wunde« – Schon der Titel der Arbeit verrät einiges über die methodischen Prämissen der Autorin. Der maßgebliche Einfluss der poststrukturalen Theoriebildung rund um den Begriff eines exzessiven Begehrens wird bereits in der Einleitung der Studie deutlich. Dabei steht weniger Batailles Konzeption der Wunde im Vordergrund als die häufig auf Widersprüche und Paradoxien rekurrierenden Adaptionen der entsprechenden Theoreme von Exzess und Transgression bei Julia Kristeva, Judith Butler und vor allem bei Jacques Lacan.

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Auch wenn Wennerscheid auf eine ganze Reihe von Zitaten zurückgreifen kann, in denen Kierkegaard selbst mit dem Bild der Wunde oder sogar mit der Formulierung einer »Wunde der Negativität« spielt, wird der Begriff von ihr in der Regel metaphorisch verwendet. Im Zentrum ihrer Studie steht Kierkegaards Auseinandersetzung mit einer gleichermaßen angst- wie lustbesetzten Form von Körperlichkeit. Meist geht es um Kierkegaards Faszination für die Phänomene von Sexualität, Erotik und Geschlechtlichkeit, welche sich der Ordnung des Symbolischen widersetzen, und das heißt, welche die üblichen diskursiven Grenzen der Subjekt-, Körper- und Genderkonstitution des frühen 19. Jahrhunderts zu überschreiten drohen.

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Kierkegaards Texte umkreisen diese Phänomene – so die zentrale These der Arbeit – als gleichermaßen bedrohlichen wie faszinierenden Nicht-Ort, der sich diskursiv nicht abschließend fassen lasse und der somit zu einem fortdauernden Schreiben anrege. Auch wenn sich die Arbeit vor allem mit den subjekt-, körper- und gendertheoretischen Konsequenzen beschäftigt, die sich aus dieser grundlegenden These ableiten lassen, wird der Begriff der Wunde in der Einleitung im Anschluss an Roland Barthes, Jacques Derrida und Paul de Man durchaus auch texttheoretisch akzentuiert. So interessiert sich die Autorin nicht zuletzt dafür, wie sich das Begehren nach der Wunde und anderen Abjekten (Kristeva) in der Körperlichkeit der schrift- und medienbewussten Texte selbst manifestiert, die ebenfalls durch angst- wie lustvolle Ambivalenzen, Spaltungen und Widersprüche – kurz durch eine Lust an der Eigendynamik von Schrift und Text – gekennzeichnet seien.

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Fremdkörper und männliche
Maskerade

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Insgesamt lässt die Einleitung eine weitere Arbeit zum Themenkomplex »Kierkegaard and postmodernism« vermuten, zu dem schon seit den 1980er Jahren eine eigene Reihe der Florida State University Press vorliegt. Doch auch wenn die Autorin gelegentlich in einen entsprechenden Jargon verfällt, bietet ihre Studie viel mehr als den Versuch, die diffizile Kierkegaardsche Poetik mit den text- und körpertheoretischen Metaphern einer poststruktural inspirierten Philosophie und Psychoanalyse aufzupeppen. Dies liegt vor allen Dingen daran, dass sie sich – im Gegensatz zu manch einem Vertreter der internationalen Kierkegaard-Forschung – nicht nur hervorragend in der heutigen Theorielandschaft, sondern auch vorzüglich im dänischen Umfeld des Autors auskennt und somit in der Lage ist, die angesprochene Problemstellung in einem konkreten regionalen und historischen diskursiven Kontext zu entwickeln.

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Vorweg seien einige der zentralen Thesen der Arbeit skizziert: Wennerscheid gelingt es zum einen nachzuweisen, dass sich die vielfach diagnostizierte Krise der Geschlechterrelationen um 1900 schon im frühen 19. Jahrhundert manifestiert. Gerade das Bemühen von Kierkegaards diversen Pseudonymen, Erzählern und Helden, diese Relationen neu zu definieren oder auch eindeutig zu bestimmen, mündet in männliche Maskeraden, welche die Geschlechterdifferenzen auf einer fundamentalen Ebene außer Kraft setzen. Die diagnostizierte Krise der Männlichkeit geht mit einer Krise des souveränen Subjektes einher, das sich immer wieder als fundamental fremdbestimmtes erlebt und dass sich vor allem mit der Alterität des gleichermaßen ›eigenen‹ wie ›anderen‹ Körpers konfrontiert sieht. Dabei besteht die Pointe der Arbeit in der Behauptung, dass die ›Autorinstanz‹ Kierkegaard die skizzierten Krisen seiner männlichen Erzähler und Helden zwar als Krisenphänomene zu diagnostizieren und religiös zu überwinden versucht, dass seine Texte selbst aber zu einem lustvollen Genießen der Ängste und unheimlichen Schreckszenarien einladen, die sie selbst performativ hervorrufen.

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Die Stärke der Studie äußert sich nicht nur in diesen und anderen starken Thesen, sondern vor allem in textnahen Lektüren, die zum Teil in einen größeren diskursiven Zusammenhang gestellt werden. Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich (mit deutlichem Schwerpunkt auf Begrebet Angest) mit Kierkegaards diversen theoretischen Reflexionen über den Zusammenhang von Angst, Sünde und Begehren. Dagegen ist der größere zweite Abschnitt den auch traditionell als ›literarisch‹ klassifizierten Arbeiten des Autors – von Enten-Eller über Frygt og Bæven und Gjentagelsen bis hin zu den Stadier paa Livets Vej – gewidmet, wobei Wennerscheid sich hier vor allem mit den Krisen der Männlichkeit auseinandersetzt, die in diesen Texten verhandelt werden. Schließlich geht sie in einem kurzen dritten Abschnitt auf die späte, traditionell als ›religiös‹ bezeichnete Schaffensphase Kierkegaards ein, um zu zeigen, dass es Kierkegaard auch durch das vieldiskutierte Konzept eines Sprungs in die Religion nicht gelingt, sich von der skizzierten Faszination für Subjekt-, Körper- und Genderkrisen zu lösen.

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Abwehr und Attraktion –
Kierkegaards Reflexionen über die Sünde

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Geht man davon aus, dass die Vorstellung eines sich selbst transparenten und autonomen Subjektes im Zentrum der idealistischen Philosophie steht, dann wird man das frühe 19. Jahrhundert wohl kaum als Zeitalter des Idealismus bezeichnen können. Denn schon in dieser Zeit setzen eine ganze Reihe von Debatten ein, die den Status dieser zentralen Instanz radikal in Frage stellen. So wird etwa im Dänemark der 1820er Jahre eine heftige Debatte über die Zurechnungsfähigkeit wahnsinniger Straftäter geführt, die von der zeitgenössischen Philosophie wohl zu Recht als Angriff auf das zentrale Konzept eines freien Willens verstanden wurde.

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Der Abschied von der Vorstellung des Menschen als Vernunftwesen hin zu einer biologisch-psychologischen Betrachtungsweise, der sich hinter dieser Debatte verbirgt, schlägt sich auch in Diskussionen über die Sexualität nieder, die in ausführlichen Reflexionen über Geschlechterrelationen wie in diversen Studien über den Begriff der Sünde zum Ausdruck kommen. Stein des Anstoßes bildet häufig Schlegels Lucinde, die nicht nur das Verhältnis von Leib und Seele, sondern auch traditionelle Geschlechterrollen radikal in Frage zu stellen versucht.

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Sophie Wennerscheid zeigt nicht nur, inwieweit Kierkegaard aktiv an allen diesen Debatten beteiligt war. Sie geht vor allem darauf ein, inwiefern sich diese Debatten auch in seinen Studien zu Angst und Sünde spiegeln. Dabei zeigt sie sehr genau auf, inwieweit Kierkegaard auf den theologischen Diskurs des deutschen und dänischen Idealismus reagiert, in dem man sich erneut mit der Dialektik von Leib und Seele auseinandersetzt und immer wieder auf die Frage zurückkommt, inwiefern die unmittelbare Sinnlichkeit als reine Natur selbst schon sündig sein kann oder nicht. Wie andere Dialektiker bestimmt auch Kierkegaard den Menschen als Produkt eines auf seine eigene Natur rekurrierenden Geistes. Sünde ist in diesem Sinne nicht durch die Natur gegeben, sondern wird als Produkt eines Zusammenwirkens von Geist und Natur verstanden. Angst wird dabei an das Vermögen einer Imagination gebunden, die sexuelle Triebe erahnen kann, die paradoxerweise erst durch die Imagination performativ als natürliche Triebe freigesetzt werden. Sünde wird somit über einen Exzess der Phantasie definiert.

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Wennerscheid nutzt die Rekapitulation der Kierkegaardschen Argumentation in erster Linie, um auf zwei Punkte aufmerksam zu machen, die für ihre Schlussfolgerungen wesentlich sind. Zunächst zeigt sie, inwiefern die theologische Debatte mit der genuin ästhetischen Fragestellung nach der Wirkungsmacht der Einbildungskraft verknüpft ist. Zum anderen geht sie einer zentralen Paradoxie in Kierkegaards Konzeption der Sünde nach. Jede Formulierung eines Tabus oder eines Verbots schürt nicht nur das angstvolle Begehren nach seiner Übertretung, dieses körperliche Begehren wird in der Regel sogar erst performativ durch das Tabu erzeugt.

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Genau diese Fallstricke der Tabuisierung wurden schon in der zeitgenössischen Debatte um die Onanie behandelt, welche Wennerscheid ebenfalls rekapituliert. Immer wieder wird dort auf die Gefahr verwiesen, dass das Schüren der Angst vor der Onanie überhaupt das Begehren zu onanieren weckt. Kierkegaard geht in seinem Konzept der Sünde sehr differenziert auf diesen strukturellen Zusammenhang zwischen Begehren, Angst und Gesetz ein. Genau diese Beobachtungen münden schließlich in erstaunlich moderne Reflexionen über die komplexe Wechselrelation zwischen (realem) Trieb, (imaginärer) Phantasie und (symbolischem) Gesetz, mit denen Kierkegaard nicht nur die idealistische Vorstellung einer harmonischen Synthese von Leib und Seele hinter sich lassen, sondern auch das Denken in Leib-Seele-Dichotomien überhaupt überwinden wird.

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Verführte Verführer –
Zur Mimesis dämonischer Männlichkeit

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Bedenkt man, dass die Dialektik von Leib und Seele in der Philosophie des frühen 19. Jahrhunderts immer noch über eine Geschlechterdifferenz begriffen wird, dann wird deutlich, inwiefern die Auseinandersetzung mit der Sexualität sowie die skizzierten Ausführungen über den Zusammenhang von Angst, Begehren und Gesetz bei Kierkegaard mit einer Reflexion von traditionellen Geschlechterrollen einhergeht. Kierkegaards gleichermaßen angst- wie eben lustbesetzte Beschäftigung mit Krisenformen der Männlichkeit deutet sich schon in seiner frühen Kritik eines Romans von Hans Christian Andersen an, den Kierkegaard explizit als unmännliches, zwitterhaftes Kunstwerk kritisiert, von dem er aber gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert gewesen zu sein scheint. Wie sonst ließe sich erklären, dass sich Kierkegaard in einer Reihe von Schriften mit einem ganzen Arsenal von Männertypen beschäftigen wird, die sich alle auf die eine oder andere Weise durch eine gleichermaßen attraktive wie anstößige geschlechtliche Indifferenz auszeichnen.

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Den entsprechenden Reigen eröffnet die schillernde Figur des Don Juan, dessen verführerische Fähigkeiten in Enten-Eller sehr genau auf das Moment der Indifferenz zurückgeführt werden. Dagegen erscheint der Verführer Johannes aus dem bekanntlich ebenfalls in Enten-Eller integrierten Tagebuch eines Verführers (Forførerens Dagbog) auf den ersten Blick als eine Art Gegenmodell zu fungieren. Zielt doch seine autoerotische Strategie einer die Verführung selbst genießenden Verführung darauf ab, sein Liebesobjekt in nicht gekanntem Ausmaß zu kontrollieren und damit die Hierarchie zwischen den Geschlechtern zu befestigen sowie eine daran angelegte Differenz zwischen Geist und Natur, Reflexion und Unmittelbarkeit quasi experimentell zu bestätigen.

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In ihrer Lektüre des Textes, die wohl nicht von ungefähr im Zentrum der Arbeit steht, zeigt Wennerscheid die Grenzen einer solchen Lesart auf. Im Gegensatz zu prominenten Vertretern der Kierkegaard-Forschung beschreibt sie Cordelia nicht als Opfer der experimentellen Grausamkeit von Johannes, sondern macht auf Inkonsequenzen und Symptome in der Erzählerrede aufmerksam, die auf dessen eigenes latentes Begehren verweisen. Diese Inkonsequenzen lassen die Vermutung zu, dass nicht er Cordelia verführt, sondern dass er auf subtile Weise von ihr verführt wird. Die Geschlechterrelationen in der Erzählung sind bei näherem Hinsehen also sehr instabil und können sich jederzeit verkehren. Während der Erzähler sich als Sadist zu inszenieren und den Leser davon zu überzeugen versucht, dass seine Erzählung von der kalkulierten Entfachung sowie der reflektierten Aneignung der weiblichen Sexualität handelt, wird der Leser durch seine Rede zu einem Interesse an dem angeregt, was der Erzähler vor sich selbst geheim zu halten versucht: Und das ist die Blindheit für Cordelias Souveränität sowie die Fremdheit seines eigenen Begehrens.

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Dubiose Ehemänner, melancholische Dichter
und andere hysterische Geister

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Trotz der großen Unterschiede der beiden Verführerfiguren teilen sie eine Gemeinsamkeit. Es handelt sich um dezentrierte Subjekte, die eine dämonische Form von Männlichkeit verkörpern. Wennerscheid belegt an einer ganzen Reihe weiterer hysterischer Geister, wie sehr Kierkegaard von solchen Krisenformen männlicher Subjekte fasziniert war. Die Lust an subtilen Formen von Unglück und Verzweiflung kommt in seiner spezifischen Lesart der melancholischen Wassermann-Figur in Frygt og Bæven gleichermaßen zum Ausdruck wie im erotisierten Schuldbegehren der Symparanekromenoi (die Mitgestorbenen) in Enten-Eller, die einen regelrechten Kult um den Unglücklichsten treiben. Für genau einen solchen hält sich wiederum auch der effeminierte junge melancholische Dichter in Gjentagelsen, der sich zu einem Nachfolger Hiobs stilisiert.

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Nun könnte man zu Recht einwenden, dass Kierkegaard all diese Krisen männlicher Subjekte nur deshalb schildert, um seinen Lesern Verfallsformen eines halt- und ziellosen ästhetischen Bewusstseins vor Augen zu führen, die sie zu überwinden lernen sollen. Immerhin werden die entsprechenden Figuren und Helden in der Regel ihrerseits von einer weiteren Erzählinstanz beobachtet, welche die Ursachen der Krisen aufzuzeigen und dezidiert männliche Alternativen zum Verhalten der weibischen Ästheten zu entwerfen versucht. Wennerscheid gelingt es zu zeigen, in welche Widersprüche sich auch diese Beobachtungsinstanzen verwickeln und inwiefern auch ihr Diskurs von einem latenten Begehren nach einer dämonischen Männlichkeit zeugt. Dabei mag ihre Analyse der in vielfacher Hinsicht dubiosen Verteidigung der Ehe durch den Assessor Wilhelm in Enten-Eller weniger überraschen als die subtile Herausarbeitung des homoerotischen Begehrens, welches das Handeln von Constantin Constantinus gegenüber dem jungen melancholischen Dichter in Gjentagelsen bestimmt.

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Auch das Stück In Vino veritas aus den Stadier paa Livets vej gibt Wennerscheid zufolge Auskunft über eine entsprechende Tendenz in Kierkegaards Schriften. Denn hinter der ironischen Auseinandersetzung mit Formen imaginierter Weiblichkeit, die im Spiel mit bekannten Stereotypien aus der zeitgenössische Debatte um die Sonderanthropologie des Weibes zum Ausdruck komme, verberge sich eine verführerische Abrechnung mit entsprechenden Phantasmen viriler Männlichkeit. Inwiefern die Lust an der Krise auch die private Korrespondenz Kierkegaards prägt, wird schließlich in einem sehr spannenden Abschnitt zu den Schreibstrategien in seinen Brautbriefen gezeigt.

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Sprung in den Glauben und Lust
an der spekulativen Verzweiflung

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Im letzten Abschnitt geht Wennerscheid – wie eingangs erwähnt – auf die späten Schriften Kierkegaards ein. Zwar äußere sich die Auseinandersetzung mit Verzweiflung und Zweideutigkeit in diesen Schriften, die von der religiösen Kehre des Autors geprägt sind, weniger augenscheinlich. Dennoch muss sich Kierkegaard auch hier fortwährend mit dem skizzierten Kreislauf des Bösen auseinandersetzen, der sich auch oder gerade in dezidiert christlichen Lebensentwürfen manifestiert. Das Böse lauert einerseits in einer Verteufelung der Sünden, da die entsprechenden imaginären Szenarien drohen, diese Sünde überhaupt erst hervorrufen, und andererseits in einem Leidenskult, der weniger um die Sünde selbst als um ein ästhetisch genossenes autoerotisches Schuldbegehren kreist.

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Gerade weil sich Kierkegaard diesen subtilen Formen der Versuchung so bewusst war, wird deutlich, dass er ihnen auch in seiner späten Produktion nicht widerstehen konnte. Wennerscheid deckt in ihren Analysen unter anderem die subtilen Strategien einer lustvoll leidenden Selbstinszenierung auf, mit denen sich Kierkegaard zur ausgestoßenen Ausnahmeerscheinung stilisiere. In der kleinen Studie Krisen og en Krise i en Skuespillerindes Liv lasse er sich sogar auf eine (durchaus auch körpertheoretisch akzentuierte) Reflexion einer entsprechenden theatralen, das heißt durch und durch hysterischen Selbstpräsentation ein.

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Fazit

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Schon in der jüngeren dänischen Forschung ist Kierkegaard als Literat wiederentdeckt worden, dessen komplexe rhetorische und narrative Strategien den Leser mit Ambivalenzen und Widersprüchen konfrontieren. Wennerscheid gelingt es mit ihrer Studie, diesen Blick auf den Literaten Kierkegaard zu vertiefen. Vor allem mit ihrem Versuch, mit dem widersprüchlichen (angst- wie lustbesetzten) Begehren ein zentrales Motiv wie eine zentrale Strategie in den Schriften des Dänen ausmachen, schlägt sie ein neues und vielversprechendes Kapitel in der Kierkegaard-Forschung auf.

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Nun mag man kritisch anfügen, dass Wennerscheid bei ihrem hohen Bewusstsein für Strategien männlicher Selbstinszenierung Kierkegaard doch in einer Hinsicht auf den Leim geht. Seine Ausnahmestellung als dämonisch-reflexiver Literat wird zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Angesichts der rhetorischen Finessen und der narrativen Komplexität seiner Texte muss man dies der Autorin nicht unbedingt vorwerfen. Die Schwäche des Autorenkultes wird allerdings dort deutlich, wo Wennerscheid die herausragende Stellung des unruhigen und gefährlichen Denkers Kierkegaard im Gegensatz zu seinem zeitgenössischen hegelianischen Umfeld zu profilieren versucht. Wie in anderen Kierkegaard-Studien figurieren Hegel und seine dänischen Adepten (insbesondere Johan Ludvig Heiberg) bisweilen als allzu harmlose Systemdenker, so dass man sich fragt, was denn eigentlich Kierkegaard angetrieben hat, sich fortlaufend genießerisch an deren Werken abzuarbeiten. Demgegenüber handelt es sich jedoch wieder um eine Arbeit aus der Kierkegaard-Forschung, die wichtige Impulse für literaturwissenschaftliche Studien zur dänischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts liefern könnte. Denn dass sich dort (vor allem im Umfeld des Heiberg-Clans) mehr Autoren und vor allem auch Autorinnen finden lassen, deren Begehren um ganz ähnliche Wunden kreist als dasjenige Kierkegaards, erscheint mir völlig fraglos zu sein.

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Schon die Paraphrase dürfte das hohe theoretische Niveau der Arbeit verdeutlicht haben. Dabei argumentiert die Autorin jedoch – wie gezeigt – nie ahistorisch, sondern bemüht sich darum, die angesprochenen Problemstellungen diskursanalytisch zu verorten. Trotz dieses Bemühens um historische Genauigkeit verliert Wennerscheid die Literarizität von Kierkegaards Schriften im Gegensatz zu manch anderen diskursanalytischen und kulturwissenschaftlichen Studien nie aus dem Auge: Im Vordergrund der Arbeit steht die Auseinandersetzung mit der Unruhe, die das Denken und Schreiben Kierkegaards prägt. In diesem Sinne zeigt die Studie auch auf, auf welche Weise sich die diffizilen theoretischen Paradigmen der 1980er Jahre, von denen man allzu gerne behauptet, dass ihre besten Zeiten schon vorbei seien, historisch fundieren und somit wieder(holend) fruchtbar machen lassen.