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Mit runden Ecken, aber ohne scharfe Kanten

Alexander Koseninas Studienbuch verführt zur 'Literarischen Anthropologie'

  • Alexander Kosenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. (Studienbuch Literaturwissenschaft) Berlin: Akademie 2008. 256 S. 37 s/w Abb. Paperback. EUR (D) 19,80.
    ISBN: 978-3-05-004419-4.
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›Studienbücher‹ und ›Einführungen‹ haben Konjunktur, nicht nur in der Literaturwissenschaft. Es gibt kaum einen deutschen Wissenschaftsverlag, der nach der Einführung des B.A.-Studiums an den deutschen Hochschulen nicht im hochtourigen Kampf um das erfolgreichste und damit absatzstärkste Studienbuch mitgemischt hätte. Wie so häufig bestimmt die Nachfrage das Angebot und der studentische Bedarf an orientierender und einführender Studienliteratur erscheint – zumindest momentan – ungebrochen hoch.

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Allein auf ökonomische Resonanz und studentische Nachfrage lässt sich die Bedeutung der Studienbücher jedoch nicht mehr reduzieren. Für die außerakademische Wahrnehmung der geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer erfüllen Studienbücher mittlerweile eine wichtige Funktion. Sie fungieren nicht nur im Rahmen des Hochschulstudiums als Vermittlungsmedien, sondern werden – etwa in den Feuilletons der großen deutschen Tageszeitungen – als Kommunikationsofferten der Wissenschaftskulturen verstanden, die sich um den Schritt aus dem ›Elfenbeinturm‹ hinaus in die interessierte Öffentlichkeit bemühen.

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Erfolgsgeschichte und Reflexionsdefizite
einer wissenschaftlichen Darstellungsform

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Der jüngeren Erfolgsgeschichte der Studienbücher in der Literaturwissenschaft lässt sich ein irritierender Befund gegenüberstellen. Zwar verfügen die literaturwissenschaftlichen Publikationstypen ›Studienbuch‹ und ›Einführung‹ über eine bewegte Vergangenheit. 1 Als spezifische Darstellungsformen der Literaturwissenschaft sind sie bislang jedoch kaum angemessen reflektiert worden. 2 Dies betrifft sowohl die wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung dieser Textsorten als auch die didaktische Diskussion der konzeptuellen Prämissen und Intentionen.

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Stoffdarbietung und Schlüsselkompetenzen

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In aller Regel waren Studienbücher in Konzeption und Präsentationsweise von der Maßgabe zur ›Überblicksdarstellung‹ bestimmt. Hier hat die Ausdifferenzierung des Marktes weiter gehende Entwicklungen provoziert. Zunächst hat sich das für den Studienbetrieb relevante Themenspektrum in der Literaturwissenschaft derart erweitert, dass neben die klassische ›Einführung in die Literaturwissenschaft‹ vielfach eigenständige Themen-, Methoden- und Epochenbände treten. Die Darstellung von Überblickswissen wird nunmehr in das Segment ›Handbuch‹ verlagert, Studienbücher hingegen sehen sich vermehrt mit dem Anspruch konfrontiert, gezielte Angebote zur Kompetenzentwicklung und -förderung mit der Stoffdarbietung sinnvoll zu verknüpfen. Damit wird u.a. auf die Fähigkeits- und Fertigkeitskomplexe abgezielt, die sich hinter dem Reizwort ›Schlüsselkompetenzen‹ verbergen.

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Marginalien, Abbildungen, Querverweise
und die schwierige Balance
zwischen Popularisierung und Wissenschaftlichkeit

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Diese Intention verleiht den aktuellen Studienbüchern nicht nur konzeptionell ein neues Profil, auch im Design hat sich einiges verändert. Vorbei ist die Zeit des gleichförmigen Fließtextes und spröder Übersichtstabellen. Marginalien, Abbildungen, Querverweise, kreative Grafiken sowie eine farbenfrohe Umschlaggestaltung und gerundete Buchecken sollen das Studium solcher Texte auch zum visuell – und scheinbar gleichermaßen taktil – ansprechenden Erlebnis machen. Die Anforderungen an die Autorinnen und Autoren von Studienbüchern sind dementsprechend hoch. Gilt es doch, die Erfordernisse der realen Ausbildungspraxis, die verlagsprogrammatischen Vorgaben sowie die sachlich bedingte Komplexität des darzubietenden Wissens adressatengerecht miteinander verknüpft zu vermitteln und die Spannung zwischen Popularisierung und Wissenschaftlichkeit geschickt auszubalancieren.

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Literarische Anthropologie
im Dienste der Literatur

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Den Idealfall eines solchen Ansprüchen genügenden Lehrbuchs hat Alexander Košenina im Akademie Verlag Berlin vorgelegt. Der Autor zählt zu den ausgewiesenen Experten des Themenbereichs ›Literarische Anthropologie‹ in Deutschland und liefert weit mehr als nur einen kundigen Überblick über das mittlerweile auch in der akademischen Lehre in Mode gekommene Forschungsfeld. Es gelingt Alexander Košenina, den dichten Zusammenhang zwischen der Ausbildung anthropologischen Wissens im 18. und 19. Jahrhundert und dem Feld der Literatur in einem breiten Panorama origineller Lektüren eindrucksvoll zu entfalten, ohne dabei die literarischen Texte als starre Resonanzkörper der zeitgenössischen Theorien zu inszenieren.

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Die Neuentdeckung des Menschen im Zeitalter der europäischen Aufklärung und die epistemische Rahmung dieses Prozesses bilden den Ausgangspunkt für den Gang durch die Themenfelder des anthropologischen Wissens, das Alexander Košenina ganz in den Dienst der Literatur stellt:

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Die Absicht von literarischer Anthropologie im vorliegenden Buch ist, inhaltliche wie methodische Perspektiven, die sich aus der »Menschenkunde« ergeben, für ein besseres Verständnis von Texten zu nutzen. Geleitet von der Überzeugung, dass Literaturwissenschaft für die Literatur da ist und nicht umgekehrt, geht es also eher um Deutungsangebote als um die Etablierung und Verteidigung einer theoretischen Position als Selbstzweck (S. 17).
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Der Autor wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die Vereinahmung der methodisch an den Arbeiten von Hans-Jürgen Schings und Wolfgang Riedel orientierten literarischen Anthropologie durch Tendenzen der neueren Kulturanthropologie und Kulturwissenschaft (S. 18 f.). Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob die pointierte Form, in der Košenina die komplexen und langwierigen Diskussionen um die Metapher von »Kultur als Text« oder die Bedeutung Michel Foucaults für die Archäologie des Wahnsinns Revue passieren lässt, für den vorliegenden Zusammenhang nicht zu kurz greift. Die in den folgenden Kapiteln überzeugend vorgeführte »phänomenologische Spielart literarischer Anthropologie« (S. 19) hat diesen Exkurs jedenfalls nicht nötig. Zudem bleibt zu diskutieren, ob die aktuell wichtigsten Herausforderungen der literarischen Anthropologie mit dem Verweis auf die »Kultur als Text« -Debatte bereits angemessen berücksichtigt sind. Gewünscht hätte man sich einen Seitenblick auf mögliche Schnittstellen mit den Forschungsperspektiven zur literarischen Anthropologie (poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder), wie sie gegenwärtig beispielsweise im Umkreis der von Karl Eibl, Manfred Engel und Rüdiger Zymner herausgegebenen Schriftenreihe Poetogenesis vertreten werden. 3

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Die Neuentdeckung des Menschen
in 14 Kapiteln

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Das Studienbuch Literarische Anthropologie fokussiert die Ausbildung des anthropologischen Wissens und die literarischen Reaktionen auf die intensive wissenschaftliche, medizinische und philosophische Durchdringung der menschlichen Natur im 18. Jahrhundert. Innerhalb der Studienbuchreihe des Akademie Verlags gehört der Band in die Kategorie ›Disziplinen, Themen und Methoden‹ und schließt sinnvoll an die in derselben Reihe bereits vorliegenden Epochenbände zur Literatur des 18. Jahrhunderts und der Frühen Neuzeit an. 4 Das Studienbuch ist – wie alle weiteren Bände der Reihe auch – in 14 thematische Kapitel unterteilt, die durch einen Serviceteil und einen Anhang mit umfassendem Glossar ergänzt werden.

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Jedem thematischen Kapitel ist eine Abbildung vorangestellt, aus deren emblematischer Deutung die für das Kapitel zentrale anthropologische Fragestellung hergeleitet wird. Die Kapitel sind dann wiederum in drei Abschnitte gegliedert: Im ersten Abschnitt wird die aus der Bilddeutung gewonnenen Fragestellung aufgegriffen und präzisiert, in den zeitgenössischen Diskursen verortet und erläutert. In den folgenden Abschnitten werden dann Lektüren zumeist kanonischer Texte vorgeführt, die sich auf den jeweils zentralen anthropologischen Zusammenhang beziehen und diesen in je gattungsspezifischer Art literarisch gestalten. Jeweils sechs »Fragen und Anregungen« sowie ein bibliographischer Anhang mit Informationen zu verlässlichen Textausgaben und wichtigen Forschungsbeiträgen beschließen jedes Kapitel. Was beim ersten Durchblättern noch recht ›übergliedert‹ wirkt, entfaltet während der Lektüre eine beachtliche didaktische Wirksamkeit.

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Zum Beispiel: Das Irrenhaus

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Alexander Košenina expliziert den Zusammenhang von ›menschenkundlichen‹ Epistemen und literarischer Formung während des 18. und 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund einer breiten Themenvielfalt: Georg Forsters »Reise um die Welt« lenkt den Blick auf die ›neuen Menschen‹, die im Zuge der fortschreitenden Welterschließung eine kritische Reflexion tradierter Bilder des Humanen provozieren, aber auch zur Selbstüberhöhung verführen; Friedrich Schillers Erzählung »Verbrecher aus verlorener Ehre« illustriert das erstarkende Interesse an der Psycho-Logik des Verbrechens und das Schicksal des ›Traumopfers‹ Franz Moor ist »präzise auf die anthropologische Theorie der Zeit abgestimmt« (S. 183). Derartige Verbindungen werden von Košenina nicht nur inhaltlich aus den Texten heraus anschaulich erschlossen, sondern auch methodisch luzide herausgearbeitet. An einem Beispiel sei dies knapp erläutert:

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Als eine wichtige Quelle der anthropologischen Erkenntnis im 18. Jahrhundert stellt der Autor die zeitgenössischen Irrenhäuser vor. Eine diesbezügliche Darstellung aus William Hogarths Bilderzyklus The Rake’s Progress nutzt Košenina, um diesen Ort als Beobachtungsraum psychischer Extreme zu profilieren, der gleichsam Impulse zur künstlerischen Gestaltung vermittelt. Diesem visuellen Einstieg lässt Košenina die Analyse von Georg Christoph Lichtenbergs Text »Ausführliche Erläuterung der Hogarthischen Kupferstiche« folgen, der das Dargestellte im Wissenshorizont der Zeit kommentiert und zugleich einen praxisnahen Einstieg in die analytische Bildhermeneutik bietet. Den hier gesponnenen Faden lässt Košenina auch bei den folgenden Textanalysen zu Kleists Briefbericht aus dem Jahr 1800 und Matthias Claudius’ kurzem Prosatext Der Besuch im St. Hiob zu ** nicht fallen. Konsequent werden die den Texten inhärenten Strategien der ästhetischen Gestaltung und Prägung des anthropologischen Themas herausgestellt, zueinander in Beziehung gesetzt und über die Kapitelgrenze hinaus verortet. Košenina verdeutlicht so eindringlich die aktive Teilhabe zentraler Autoren und Texte am anthropologischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts. Die sich anschließenden Arbeitsaufgaben beschränken sich nicht auf die Reproduktion des dargestellten Stoffs, sondern zielen mit einer ausgewogenen Gewichtung einzelner Anforderungsbereiche auf ein kompetenzorientiertes ›forschendes Lernen‹ der LeserInnen.

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Aus der Masse der Studienbücher sticht Alexander Košeninas Buch nicht nur der runden Ecken wegen hervor. Verfolgt wird hier ein stringentes Konzept, das mit wichtigen Autoren und Texten der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts bekannt macht, sich aber nicht mit der statischen Darbietung von Wissen begnügt, sondern Einsichten und Lernprozesse provozieren und befördern möchte. Dies jedoch – und hier liegt die wohl größte Stärke des Buchs – in einer Weise, die unaufdringlich dazu verführt, Texte neu, anders und überhaupt zu lesen. Die Sprache, die Alexander Košenina hierfür gefunden hat, wird auch eine nichtakademische Leserschaft gern zu diesem Buch greifen lassen. Das ist ein seltener Glücksfall.

 
 

Anmerkungen

Vgl. zur Geschichte des Publikationstypus’ ›Einführung‹ Jörg Schönert: »Einführung in die Literaturwissenschaft«. Zur Geschichte eines Publikationstypus der letzten 50 Jahre. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik (2001), S. 63–72. Weiterhin: Kerstin Stüssel: Zwischen Kompendium und »Einführung«. Zur Problematik einführender Literatur in den Geisteswissenschaften. In: Peter J. Brenner (Hg.): Geld, Geist und Wissenschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1993, S. 203–230. Herbert Jaumann: Tendenzen der Literaturwissenschaft im Spiegel der ›Einführungen‹, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 27/3 (1980), S. 2–15.   zurück
So vermisst man zum Beispiel im Artikel zu den wissenschaftlichen Publikationskulturen in dem sehr verdienstvollen »Handbuch der Literaturwissenschaft« die Berücksichtigung von Handbüchern oder Einführungen. Vgl. Winfried Thielmann: Wissenschaftliche Publikationskulturen und Texttypen. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder. Stuttgart: Metzler 2007, S. 295–302.   zurück
Vgl. z.B.: Rüdiger Zymner / Manfred Engel (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn: Mentis 2004.   zurück
Vgl. hierzu die gleichermaßen gelungenen Bände: Iwan-Michelangelo D’Aprile und Winfried Siebers: Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung. Berlin: Akademie 2008. Andreas Keller: Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Berlin: Akademie 2008.   zurück