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Das Unsagbare dennoch sagen

Eine Diskursgeschichte der literarischen Musikästhetik

  • Thorsten Valk: Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1950. (Das Abendland. Forschungen zur Geschichte europäischen Geisteslebens 34) Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2008. 470 S. Leinen. EUR (D) 69,00.
    ISBN: 978-3-465-03592-3.
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Der Musikdiskurs um 1800 als literarische Musikästhetik

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Der Zusammenhang zwischen (früh)romantischem Dichtungsideal und Musikästhetik beschäftigt die literaturwissenschaftliche Romantikforschung bereits seit geraumer Zeit und hat – insbesondere in der Germanistik, aber auch in der Anglistik – eine Fülle von Studien hervorgebracht, die den prägenden Einfluss der frühromantischen Dichtung und Poetik auf die Formierung der romantischen Musikästhetik herausstellen. Der entscheidende Impuls für diese interdisziplinäre Untersuchung des romantischen Musikdiskurses ging dabei nicht etwa von einem Literaturwissenschaftler, sondern von dem Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus aus, der in seiner 1978 erschienenen Studie Die Idee der absoluten Musik erstmals dezidiert auf den spezifisch poetischen Charakter der romantischen Musikauffassung hinwies. Die romantischen Dichter, so Dahlhaus, bezögen sich in ihrer Musikreflexion nicht nur auf bereits bestehende Auffassungen von Musik, sondern entwickelten in ihren Dichtungen ein neues Musikkonzept, für das es in der Kompositionsgeschichte um 1800 noch kein Pendant gäbe. Es seien die Dichtungen Wilhelm Heinrich Wackenroders, Ludwig Tiecks und E. T. A. Hoffmanns, in denen sich ein radikaler musikästhetischer Paradigmenwechsel ereigne: An die Stelle der Auffassung von Musik als »Sprache des Gefühls« trete eine »Metaphysik der Instrumentalmusik«, durch welche die Instrumentalmusik im 19. Jahrhundert endgültig an die Spitze der Künstehierarchie gelange. 1 Das zentrale Faszinosum liege für die romantischen Dichter in der besonderen Struktur der Instrumentalmusik: Als wortlose Kunst bilde sie ein freies, referenzloses Zeichensystem, das gerade aufgrund seiner Unabhängigkeit von der ›endlichen‹ Begriffssprache eine Ahnung des Absoluten zu vermitteln vermöge.

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Thorsten Valk knüpft in seiner Habilitationsschrift an diese Beobachtungen an, weitet sie jedoch zu einer detaillierten Diskursanalyse aus, die den Zeitraum von 1800 bis 1950 umfasst. Das Novum der vorliegenden Studie ist, dass Valk die im Diskursfeld der romantischen Literatur entwickelte – und bereits hinlänglich erforschte – Musikästhetik nicht als ein auf die Epoche der Romantik beschränktes Phänomen begreift, sondern ihre Wirkung bis in das 20. Jahrhundert hinein verfolgt. Die romantische Musikästhetik, die von Dichtern wie Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann begründet wurde, bleibt – so die These Valks – nicht auf diese Dichter und deren Epoche beschränkt. Auch Autoren wie Eduard Mörike, Franz Werfel und Thomas Mann arbeiten sich noch an ihr ab und finden, obwohl ihre Werke wiederholt gegen die romantische Musikauffassung opponieren, keine Alternative zu dem in der Romantik entwickelten kunsttheoretischen Paradigma. Damit bestätigt Valk den in der Musikwissenschaft bereits verschiedentlich geäußerten Befund, dass die in der Romantik entwickelte Idee der absoluten Musik in der deutschen Tradition der Instrumentalmusik bis ins 20. Jahrhundert hinein ihre Gültigkeit behält, auch für die Literatur. Selbst noch in Thomas Manns Musikroman Doktor Faustus, in dem das Autonomiepostulat der romantischen Musikästhetik wiederholt ins Visier der Kritik gerät, sind, wie Valk in seiner umsichtigen Lektüre des Romans zeigen kann, »umfangreiche Traditionsbestände der romantischen Musikauffassung konserviert« (S. 13). In dem von Valk gewählten, zeitlich erweiterten Untersuchungshorizont wird die romantische Musikästhetik somit als Diskursformation – als ›literarische Musikästhetik‹ – lesbar, die 150 Jahre lang das Denken über Musik und Dichtung bestimmt.

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Das Zwei-Welten-Modell der romantischen Musikästhetik

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Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert: Das erste Kapitel beleuchtet systematische und historische Aspekte der literarischen Musikästhetik seit 1800 und eröffnet damit die Resonanzräume, in denen das gesamte Thema wie auch die ausgewählten Autoren und Texte Wirkung und Tragweite entfalten. Im zweiten und dritten Kapitel werden anhand detaillierter Analysen von Wilhelm Heinrich Wackenroders und Ludwig Tiecks ›Berglingeriana‹ sowie E. T. A. Hoffmanns Erzählung Ritter Gluck (1809/14) die Anfänge des literarischen Musikdiskurses in der Romantik beleuchtet und zugleich anhand eines close readings dieser Texte die zentralen Aporien und Paradoxien entwickelt, die für den gesamten Diskurs bis in das 20. Jahrhundert hinein maßgeblich sind. Die folgenden drei Kapitel enthalten jeweils detaillierte Werkanalysen von Eduard Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag (1856), Franz Werfels Verdi. Roman der Oper (1924/30) und Thomas Manns Doktor Faustus (1947) und zeigen anhand dieser Texte die Kontinuität des romantischen Musikdenkens in der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf.

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Thorsten Valks Rekonstruktion der literarischen Musikästhetik beginnt mit der Epoche der Romantik, in der, wie der Autor im ersten Kapitel deutlich macht, die Anfänge dieses Diskurses liegen: Nicht Komponisten, sondern Schriftsteller sind es, die um 1800 ein neues Musikverständnis begründen und damit auf literaturhistorische Transformationsprozesse im ausgehenden 18. Jahrhundert reagieren. Die Musik dient ihnen als Reflexionsmedium, um Antworten auf zeichen- und dichtungstheoretische Fragen zu finden, die sich um 1800 – also an einem Punkt, an dem das Sprachvertrauen der Aufklärung in eine fundamentale Krise gerät – mit besonderer Vehemenz stellen. Dabei ist es vor allem die Eigenschaft der Musik, ohne Worte zu kommunizieren, die das Interesse der romantischen Dichter weckt und um 1800 zu einer umfassenden »Sakralisierung der Tonkunst« (S. 16) – insbesondere der Instrumentalmusik – führt: Als begriffslose Ausdruckskunst wird ihr von den Dichtern das Potential zugesprochen, in metaphysische Welten vorstoßen zu können, die der Sprache als verbalem Kommunikationssystem verschlossen sind. Dieses der Musik zugesprochene metaphysische Potenzial steht in engem Zusammenhang mit ihrer Bestimmung als autonomer Kunst, durch die sie, wie Valk im ersten Artikel knapp und prägnant rekapituliert, in der Literatur um 1800 eine immense Aufwertung erfährt: Gerade weil die (Instrumental-)musik nicht mimetisch verfährt, sondern offenbar ein von Abbildungsverhältnissen gänzlich freies, nur internen Regeln folgendes Spiel der Zeichen darstellt, sprechen ihr Dichter wie Novalis zu, die poietische Kunst per se zu sein und erheben sie zum Vorbild für die Dichtkunst.

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Die Bestimmung der Musik als autonomes sowie an einer metaphysischen Sphäre partizipierendes Zeichensystem birgt für die Romantiker jedoch sowohl ein sprachphilosophisches als auch ein ethisches Problem: Wie kann der metaphysische Aspekt der musikalischen Erfahrung in Worte gefasst werden, ohne ihn dabei zugleich zu reduzieren? Und wie kann sich der Künstler ganz der Schöpfung ästhetisch-autonomer Kunstwerke hingeben, ohne dabei Gefahr zu laufen, in einen »sozialen Eskapismus« (S. 32) zu verfallen? Diese Konflikte, die aus der polaren Gegenüberstellung von alltäglicher, als defizitär empfundener Lebenswirklichkeit und poetisch-autonomer Kunstwelt erwachsen, plagen bereits die von Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder erfundene Kapellmeisterfigur Joseph Berglinger, die im Werk der beiden Frühromantiker gewissermaßen als Stellvertreterfigur für deren kunsttheoretische Auffassungen fungiert. Berglingers Biographie und seine fiktiven Aufsätze über Musik sind für die Schreibung einer Diskursgeschichte der literarischen Musikästhetik deshalb so wichtig – und werden daher von Valk völlig berechtigt am Beginn seiner Werkanalysen platziert – , weil hier erstmals in voller Komplexität der Antagonismus zwischen alltäglicher Erfahrungswelt und sublimer Kunstsphäre, Sprache und Musik, Sein und Schein ausgearbeitet wird, der – so lautet ja Valks Leitthese – den Musikdiskurs die nächsten 150 Jahre bestimmen wird. Weisen Berglingers Musikessays einerseits noch starke Reminiszenzen an die empfindsame Gefühlsästhetik auf, so zeigt sich hier andererseits doch schon ein dezidiert romantisches Musikverständnis, welches insbesondere die Instrumentalmusik in den Rang einer metaphysischen Kunst erhebt: Als »Sprachrohr des Göttlichen« (S. 64) partizipiert sie an einer Welt, die der alltäglichen Erfahrungswelt diametral gegenübersteht, diese mannigfaltig überstrahlt und von Berglinger zum Ziel seines Schaffens erklärt wird. So verwundert es nicht, dass Berglinger der Musik wie einer Religion huldigt und sich mit ihrer Hilfe in tranceartige Zustände versetzt. Die Trennung von Musik und Leben in zwei antagonistische Seinsbereiche – von Valk als Zwei-Welten-Modell bezeichnet – wird jedoch in Berglingers späten Aufzeichnungen mit veränderten Vorzeichen versehen: Die göttliche Kraft der Musik erscheint nun nurmehr als ästhetischer Schein und der sich asketisch der Kunstreligion hingebende Künstler als Götzendiener, welcher vor der Wirklichkeit flieht. Berglingers Musikenthusiasmus schlägt um in einen »ästhetischen Nihilismus« (S. 84), der es ihm unmöglich macht, seiner Umwelt Empathie entgegenzubringen. Mit der Figur Berglingers antizipieren Wackenroder und Tieck also die Problematik einer rein auf dem Gedanken der Autonomie basierenden Musikästhetik, die 150 Jahre später auch zum Leitthema von Thomas Manns Doktor Faustus werden soll. Zugleich zeigt sich hier auch der poetologische Charakter der romantischen Musikästhetik: Die Erkenntnis, dass die Musik aufgrund ihres amimetischen Charakters an einer Sphäre partizipiert, die dem Sagbaren enthoben ist, hindert den Kapellmeister nämlich nicht daran, seine musikalischen Eindrücke in den Musikaufsätzen äußerst redegewandt zu formulieren und in musikästhetische Überlegungen zu überführen. Bereits Berglingers Aufzeichnungen sind also von dem Paradoxon gekennzeichnet, das Valk als prägendes Charakteristikum der gesamten literarischen Musikästhetik identifiziert: Die Bestimmung der Musik als »tönender Abglanz des Unendlichen« (S. 15), an das die Sprache nicht hinreicht, ereignet sich im Medium der Sprache. Die Sprache – auch die poetische – wird im Vergleich zur Musik zwar als defizitär ausgewiesen, ihre Ausdruckskraft aber implizit affirmiert, da allein sie der Musik das Pathos des Wunderbaren, Erhabenen und Göttlichen verleihen kann.

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Von diesem »Changieren zwischen Sprachskepsis und Sprachvertrauen« (S. 18) ist auch das Sprach- und Musikdenken E. T. A. Hoffmanns geprägt, mit dem sich das dritte Kapitel der Studie befasst. Bei Hoffmann trägt die Überhöhung der Musik nicht mehr – wie noch bei Wackenroder und Tieck – die Spuren einer spezifisch protestantischen Frömmigkeit, sondern sie wird in ein allgemeineres mythisches Gewand gekleidet, das Hoffmann als »Reich der Träume« (S. 112) bezeichnet und für dessen Charakterisierung er sowohl auf platonische als auch auf christliche Traditionsbestände zurückgreift. Die Kluft zwischen autonomem Kunstreich und sozialer Lebenswirklichkeit ist bei ihm jedoch ebenfalls unüberbrückbar, eine Vermittlung der beiden Seinsbereiche noch weniger denkbar als in den ›Berglingeriana‹. Umso virulenter wird, wie Hoffmanns Ritter Gluck besonders deutlich macht, die Frage nach den Möglichkeiten der Fixierung und medialen Vermittlung der metaphysischen Kunst. Dass Valk diese Erzählung und nicht etwa ein anderes Werk aus dem umfangreichen musikliterarischen Œuvre des Dichters in den Fokus des Kapitels stellt, erweist sich als eine äußerst kluge Entscheidung, treten doch hier wie in kaum einem anderen Werk die zahlreichen Aporien zutage, die das Programm der romantischen Kunstmetaphysik kennzeichnen. Erlangt ein musikalisches Werk erst in der medialen Vermittlung durch eine Aufführung zu seiner vollen Wirklichkeit und bedarf es der Fixierung durch Notation, um es für die Nachwelt zu erhalten, so sind dies beides Prozesse, die für Romantiker wie Hoffmann unweigerlich mit einem Transzendenzverlust einhergehen.

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Dieses Problem findet im Ritter Gluck seinen Niederschlag und wird dort zugleich mit einer utopischen Konstruktion zu lösen versucht: Der rätselhafte Fremde nämlich, der sich erst am Ende der Erzählung als Ritter Gluck zu erkennen gibt, spielt Glucks ›Armida‹ zum Erstaunen des Ich-Erzählers von leeren Notenblättern, auf denen mit gleichsam magischer, für den Normalsterblichen unsichtbarer Schrift das Werk fixiert ist. Doch nicht nur die Fixierung und Vermittlung, sondern auch die zeitliche Gebundenheit der Form müssen dem romantischen Musikmetaphysiker zum Problem werden. Es erstaunt daher nicht, dass Hoffmann im Ritter Gluck die romantische Idee einer unendlichen Steigerungsdynamik auch auf die Musik anwendet. In Valks Lektüre des Ritter Gluck finden außerdem die literarischen Strategien Berücksichtigung, derer sich der Autor bedient, um das weltenthobene Musikerlebnis überhaupt beschreiben zu können. Die literarische Transkription von Musik erfolgt, wie Valk bereits im einleitenden Kapitel auseinandersetzt, hauptsächlich im Rückgriff auf das Mittel der Visualisierung. Hoffmanns Erzählung – und mit ihr alle weiteren von Valk betrachteten musikästhetischen Dichtungen – zeigen sich damit von dem Paradoxon gekennzeichnet, das so unerklärliche wie unaussprechliche Musikerlebnis doch mithilfe von Bildern semantisieren zu müssen, die der Natur und der alltäglichen Lebenswelt entlehnt sind, um es literarisch beschreiben zu können.

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Anders als etwa bei den angloamerikanischen Modernisten, bei denen der Versuch, ein Musikerlebnis ins Medium der Literatur zu übertragen, vielfältige avantgardistische Erzählexperimente zeitigt, bedienen sich die von Valk betrachteten Autoren bis hin zu Thomas Mann bei der literarischen Musikbeschreibung an eher konventionellen Mitteln wie der Metaphorisierung oder der Schilderung von Zuhörerreaktionen. Der Versuch, das Unsagbare in Worte zu fassen, spielt sich also hauptsächlich auf der Ebene des histoire ab und zielt noch nicht darauf ab, die Grenzen der poetischen Sprache auch ganz konkret zu erweitern.

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Biedermeier und frühes 20. Jahrhundert

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Einer der wesentlichen Erträge der Untersuchung ist, dass sie das Fortleben des Zwei-Welten-Modells der romantischen Musikästhetik selbst in einem literarischen Text ausmacht, der auf der Oberfläche ganz und gar von der biedermeierlichen Musikkultur und ihrem großen Vorbild Wolfgang Amadeus Mozart geprägt ist: Eduard Mörikes Künstlernovelle Mozart auf der Reise nach Prag (1856). Einerseits, so geht aus Valks Darstellung der biedermeierlich-klassizistischen Musikkultur zu Beginn des Kapitels hervor, ist Mörike klar von dieser Kultur und ihrer gegen die romantische Exklusivästhetik gerichteten Betonung des gesellschaftlich-bürgerlichen Aspekts der Musik geprägt: Seine Novelle lässt sich als Versuch lesen, das Zwei-Welten-Modell der Romantik zu modifizieren und einen Ausgleich zwischen erhabener Kunstsphäre und alltäglich-sozialer Lebenswelt zu schaffen. Andererseits gelingt es Mörike nicht, die kunsttheoretische Programmatik vollständig zu suspendieren: Nicht nur erweist es sich für ihn als unmöglich, eine »schlichte Alternative zur metaphysischen Überhöhung der Tonkunst« (S. 142) zu finden, auch das Ideal eines heiteren, vollkommen in die Gesellschaft integrierten Künstlers kann nicht länger aufrechterhalten werden. Dies wird besonders in der Schlusspartie der Novelle deutlich, in der Mozarts dramatisches Finale der Oper Don Giovanni ein tief erschüttertes Publikum zurücklässt. Der abendliche Musikvortrag trägt die Signatur des Erhabenen, die Zuhörer fühlen zugleich einen göttlichen und einen dämonischen Schauer, und auch die Novelle findet nicht mehr zum heiteren Grundton des Anfangs zurück.

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Dass es nach 1800 kaum noch möglich ist, jenseits des von den Romantikern etablierten Zwei-Welten-Modells über Musik und Dichtung nachzudenken, zeigt sich auch in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Franz Werfels Roman Verdi. Roman der Oper (1924/30) und Thomas Manns Doktor Faustus (1947) werden als repräsentativ für diese Phase untersucht. Während sich Valk mit der Analyse von Werfels Roman einem Bestseller der zwanziger Jahre widmet, stellt er mit Manns Doktor Faustus ein musikliterarisches Schwergewicht an das Ende seiner Werkanalysen, das – so die These – die Popularität der romantischen Musikauffassung in der Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl bestätigt als auch das Ende der Tradition der literarischen Musikästhetik einläutet. Valk beginnt das Mann-Kapitel mit einer ausführlichen Betrachtung der musikgeschichtlichen Neuerungen des frühen 20. Jahrhunderts, deren Hauptmerkmal die Abkehr von der traditionellen Harmonik und Hinwendung zur Atonalität ist. Die sorgfältige Abgrenzung der musikästhetischen Auffassungen Arnold Schönbergs vom »musikalischen Funktionalismus« (S. 314) etwa eines Paul Hindemiths bildet dabei die Grundlage für die Analyse des Romans. Ebenso, wie Schönberg trotz seiner Überwindung der traditionellen Harmonik durch die Zwölftontechnik an der Idee einer inneren Einheit des Werks festhält und sich in seiner Ablehnung einer ›engagierten‹ Musik klar von der romantischen Autonomieästhetik geprägt zeigt, hält auch der Erzähler Serenus Zeitblom am Autonomiestatus der Musik fest. Der Hauptprotagonist Adrian Leverkühn dagegen wandelt sich im Laufe seiner Komponistenkarriere zum Vertreter eines musikalischen Funktionalismus, der Musik nicht nur aus der »feierlichen Isolierung« 2 des Bildungsbürgertums herausholen, sondern ihr wieder die Substanz verleihen möchte, die sie seiner Meinung nach seit der Ablösung von einem außermusikalischen Zweck, die in der Kultur des fin de siècle ihren Höhepunkt fand, entbehrt. Der von Leverkühn für die Musik geforderte Zweck – die erneute Rückbindung der Musik an den Kultus – nimmt jedoch in den Ausführungen des Teufels, dem Leverkühn seinen Ruhm verdankt, faschistisch-totalitaristische Züge an. Manns differenzierte Verhandlung der schwierigen Stellung der Musik zwischen Autonomieanspruch und politischer Indienstnahme im Doktor Faustus ist in der Literaturgeschichte wohl einzigartig, weshalb Valk diesen Roman berechtigt als »Höhe- und Endpunkt« (S. 442) der um 1800 begründeten Tradition der literarischen Musikästhetik beschreibt.

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Fazit

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Valks Studie gelingt es, den Diskurs der literarischen Musikästhetik als einen der ästhetischen Leitdiskurse des 19. Jahrhunderts zu exponieren, dessen Wirkung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein reicht. Was sich aus allem Ausgeführtem am deutlichsten mitteilt, ist die Erkenntnis, dass das Musikdenken in der Literatur von 1800 bis 1950 primär einer Standortbestimmung der Dichtung und des Künstlers dient. Musik erscheint als – wahlweise göttlich oder dämonisch – besetzte Qualität, die sich mit dem literarischen Konzept des Unsagbaren verbindet. Als besonders verdienstvoll erweist sich die Ausweitung des Blickwinkels über die Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert hinaus. Zum einen wird man nämlich künftig gegen die Annahme, dass die Überhöhung der Musik ein romantisches Phänomen ist, das spätestens am fin de siècle seinen Endpunkt fand, der Musik ihre zentrale Funktion als Vorbild und Reflexionsmedium der Literatur auch im frühen 20. Jahrhundert nicht mehr absprechen können. Zum anderen zeigt gerade die Lektüre von Thomas Manns Doktor Faustus die vielfältigen Bezüge der vermeintlich a-mimetischsten und autonomsten aller Künste zu politisch-ethischen Problemstellungen wie etwa der Frage nach dem gesellschaftlichen Auftrag des Künstlers auf und stellt das literarische Musikdenken damit in ein Bezugsfeld, das bereits in der Romantik eine Rolle spielt, dort jedoch noch weitgehend in der Latenz verbleibt.

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Besonders hervorzuheben ist die sachgerechte und zweckmäßige Aufbereitung des Materials, der präzise und elegante Schreibstil sowie die enge Arbeit mit und an den Texten. Das Resultat ist eine literaturwissenschaftliche Studie, die den Musikdiskurs in den ausgewählten Texten mittels einer genauen Lektüre und eines zurückhaltend-sachlichen Analysegestus präzise konturiert, ohne dabei Rückgriff auf modische Theoreme nehmen zu müssen. Auch wenn man der Argumentation an manchen Stellen vorhalten mag, dass sie zu wenig auf Distanz zum teilweise schier unerträglichen musikromantischen Pathos der – übrigens durchweg männlichen – Autoren und Protagonisten geht, stellt die Studie aufgrund der beeindruckenden Subtilität, mit der sich der Autor in die Musikpoetiken der betrachteten Schriftsteller einfindet, eine durchweg überzeugende und produktive Lektüre dar, die sowohl dem musik- wie auch dem literaturwissenschaftlich interessierten Leser Neues und Spannendes über das Fortwirken der romantischen Musikästhetik im 19. und 20. Jahrhundert zu vermitteln vermag.

 
 

Anmerkungen

Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik. Kassel: Bärenreiter, 1978. S. 74.   zurück
Mann, Thomas. Gesammelte Werke. 13 Bände. Band 6: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. S. 428.   zurück