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Barbara Hornberger

Bürgerliche Selbstinszenierungen
im Theater um 1900

  • Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900. Tübingen, Basel: Francke 2008. 420 S. 71 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-7720-8220-7.
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Perspektive

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Mit dem 2008 erschienenen Band Ein theatralisches Zeitalter setzt Peter W. Marx seine Forschungen zum Theater des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fort, die er mit seiner Arbeit Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur im Jahr 2006 bereits vorgestellt hat. Zugleich weitet er mit diesem neuen Buch seinen Fragehorizont kulturwissenschaftlich aus. Das Theater steht nur noch auf den ersten Blick im Mittelpunkt seiner Überlegungen – nicht umsonst benennt Marx das von ihm beschriebene Zeitalter ›theatralisch‹ und zieht damit eine Grenze zum im theaterwissenschaftlichen Diskurs eher eingeführten Adjektiv ›theatral‹. »[…] die Formulierung zielt vielmehr genau auf dieses Moment des ›zur-Schau-Stellens«, das im alltäglichen Sprachgebrauch ja gerade oftmals jenseits der Bühne angesiedelt wird (S. 44). So zielt Marx, obschon er zum überwiegenden Teil seine Beispiele aus dem Bereich des Theaters bezieht, in seiner Forschungsperspektive nicht auf die Entwicklung der Kunstform Theater, sondern auf die Wechselwirkungen unterschiedlicher Gesellschafts- und Lebensbereiche, die sich im Theater und in theatralen Praktiken als einer speziellen Form von Öffentlichkeit zentral niederschlagen.

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Dass er mit der Geschichte des Hochstaplers Harry Domela beginnt, öffnet genau diese Perspektive: Die Hochstapler werden zu »Chiffren ihrer Zeit« (S. 18), weil sie und ihre Darstellung der herrschenden Werteordnung ihrer Gesellschaft entsprechen. Die von ihnen gewählten Rollen sind tragfähig, weil sie dem kulturellen Repertoire entsprechen.

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Um 1900 nimmt das Theater innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine zentrale Position ein, weil hier Rollenmuster gezeigt und durchgespielt werden. Es ist nicht nur moralische Anstalt, sondern auch »soziale Schule«. (S. 28 f.), ist »Schauplatz und Objekt bürgerlicher Selbstdarstellung« (S. 39). Für die Bedingungen solch bürgerlicher Selbstdarstellung unterscheidet Marx drei Aspekte: performative Praktiken, das Imaginäre und die Zirkulation als Konstituens kultureller Räume. Die performativen Praktiken inner- und außerhalb des Theaters können als symbolische Akte begriffen werden, die wiederum auf »Rollen« (S: 30) rekurrieren, die durch die kollektive Vorstellung eingeführt und legitimiert sind. Das Imaginäre markiert den kulturellen Handlungsraum, in dem kulturelle und soziale Realität sichtbar wird. Die Zirkulation verweist auf die Kategorie der Rezeption und damit auf das kommunikative und kollektive Moment, das (nicht nur) Theater besitzt.

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Indem er das Theater – wie auch Kultur generell – als einen Ort der »Zirkulation sozialer Energien« (S. 34) bestimmt, und die Idee, dass in dieser Zirkulation Macht und ästhetische Strukturen in ihrem Zusammenspiel sichtbar gemacht und verhandelt werden, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, folgt Marx dem New Historicism im Zeichen von Stephen Greenblatt und schließt an weite Teile der Cultural Studies an. Ihm geht es um die Diskurse, in denen sich das Theater und das Theatralische bewegen, um eine Betrachtung des Theaters als Ausgangs- und Kristallisationspunkt vielfältiger kultureller und sozialer Bewegungen.

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Zirkulationen sozialer Energie

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Darum ist das Theater auch nur einer der zentralen historischen Referenzpunkte des Buches. Marx erweitert den Blickwinkel um die sich zunehmend etablierende populäre Kultur, in theatralen Formen vom Bauerntheater bis zum Zirkus, aber auch in Form des Warenhauses. In dem dadurch umrissenen Feld spielen sich nicht nur Auseinandersetzungen um Glaubwürdigkeit und künstlerischen Wert ab, sondern insbesondere, wie Marx zeigt, Auseinandersetzungen um die fortschreitende Modernisierung innerhalb einer dynamischen Gesellschaft. Das Buch zeigt sich also in erster Linie als kulturwissenschaftlich und erst in zweiter Linie als theaterhistoriografisch. Im Mittelpunkt steht nicht die Frage nach der Entwicklung der Theaterkunst, sondern die Frage nach der Politik kultureller Identität.

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Es ist aus dieser Forschungsperspektive nicht nur folgerichtig, dass in der hier vorliegenden Arbeit Produktion und Rezeption im Sinne dieser Zirkulation als aufeinander bezogen begriffen werden. Marx stellt außerdem in seinen Analysen das Konservative und das Progressive, das Populäre und die Kunst konsequent nebeneinander. Die Auswahl der Beispiele folgt der kulturellen Verortung der jeweiligen Inszenierungen kanonischer (Theater-)texte und -figuren innerhalb der Diskurse um Bürgerlichkeit, Nation oder Macht, die für das Buch die Perspektive bilden. So befragt Marx das Theater der ›Meininger‹, der ›Münchner‹ und der ›Schlierseer‹ ebenso wie er große Schauspielerpersönlichkeiten wie Attila Hörbiger und Heinrich George, Bogumil Dawison und Adolf von Sonnenthal, Rudolf Schildkraut und Werner Krauß, Fritz Kortner, Leopold Jessner und Fritz Kortner und ihre Darstellung der Bühnenfiguren analysiert.

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Tell, Nathan, Shylock:
Das Verhältnis von Kanon und Politik

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Das Verhältnis von Kanon und Politik, das Peter W. Marx in den Mittelpunkt des Hauptteils stellt, verhandelt er an prominenten kanonischen Theaterfiguren: An Schillers Wilhelm Tell als »Prototyp einer affirmativen Heldenfigur« (S. 56) sowie an Lessings Nathan und Shakespeares Shylock als »Figuren des Fremden in der Konfrontation mit der Majoritätskultur« (S. 56). Gerade an diesen Figuren lässt sich der Wandel zeigen, der mit den unterschiedlichen Interpretationen durch Schauspieler, Regisseure und Publikum einhergeht. Darum geht es in Marx’ Analysen auch weniger um die künstlerisch-textuelle Qualität dieser Figuren als um die Diskurse, die sich in ihnen bündeln und auf die sie einwirken.

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An Schillers Wilhelm Tell zeigt der Autor die affirmative Rezeption des Dramas als »nationales Festspiel« (S. 57) sowie als »Volksstück« (S. 75). Er beschreibt, wie die Heldenfigur auf vielfältige Weise von öffentlichen Diskursen – autochthone, nationalistische, mystische Lesarten – mit bestimmt wird und sich in diese einschreibt – wie etwa im Februar 1923 durch eine Wiederholung des Rütli-Schwurs durch das gesamte Publikum, die die »Inszenierung des kanonischen Textes zu einer theatralen Affirmation nationaler Identität« (S. 76) werden lässt. Die Idee der Gemeinschaft dient in diesem Zusammenhang als Leitbild zur »Abgrenzung gegen die Veränderungen der Moderne« (S. 118).

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Dem werden in einem zweiten Schritt die jüdischen Bühnenfiguren Nathan und Shylock als Verkörperungen des ›Fremden‹ gegenübergestellt und untersucht, wie sie als »Elemente des kollektiv Imaginären« (S. 53) ethnische Markierungen verkörpern. An den Figuren und insbesondere an ihren verschiedenen jüdischen und nicht-jüdischen Interpreten werden die ethnisch geprägten Darstellungs- und Rezeptionsweisen gezeigt sowie die darin enthaltenen Diskussionen um Minoritäts- und Majoritätskultur; gerade an den jüdischen Figuren und ihrer Interpretation lassen sich Assimilations- und Abgrenzungsbewegungen gut nachzeichnen. Besonders die Darstellung dieser Figuren durch jüdische Schauspieler wird in der Öffentlichkeit auf dieser Grundlage, also unter der Prämisse der Herkunft, rezipiert. Ob der Nathan zum Ausgangspunkt einer Verhandlung über die rechtliche und soziale Stellung der Juden oder über die Anfänge sozialer Modernisierung wird, oder ob Shylock als Spiegel der assimilierenden und der antisemitischen Tendenzen fungiert: Marx legt in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen ›Auftritten‹ der Figuren dar, wie an ihnen symbolische Auseinandersetzungen geführt werden, mit denen die größer und mobiler werdende Gesellschaft den Herausforderungen der Moderne zuweilen auch verweigernd entgegentritt. An der Bühnengenealogie dieser Figuren kann er außerdem zeigen, dass ihre Aufnahme in den kulturellen Mainstream häufig mit einer Marginalisierung einhergeht.

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Befragt man diese kanonischen Texte auf ihre Funktion als Urszenen der Politik kollektiver Identität, ist auffällig, dass das Fremde hier entweder symbolisch ausgestoßen werden muss, um den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu bekräftigen bzw. zu stiften, oder eine Integration nur in einem lebensfremden, idealistischen Märchenbild vorstellbar ist. Eine Selbstbehauptung minoritärer Identität ist augenscheinlich nicht denkbar. (S. 201)
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Volksstück und Spektakel

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In den Auseinandersetzungen um Majoritäts- und Minoritätskulturen geht es auch um das Verhältnis von Moderne und Anti-Moderne, das mittels solcher ethnischer Diskurse, aber auch mittels der Diskurse von Autochthonie und Glaubwürdigkeit verhandelt wird. Diese Frage stellt Marx auch an andere kulturelle Gegenstände dieser Zeit. Ob Bauerntheater, Tell-Begeisterung oder bürgerliche Reiselust – die Erscheinungen sind im Kontext der Modernisierung als zusammenhängend zu betrachten: Sie können »in ihrer kulturellen Wirkung erst dann umfassend erkannt werden, wenn man sie als bewusste Nicht-Thematisierung, als Verklärung eines Jenseits aller Veränderungen versteht« (S. 251). Das Theater der ›Schlierseer‹ kann so als Theater gegen die Entfremdung beschrieben werden, die mit einer Erfahrung der Moderne als Verlust einhergeht. Auch die Selbstinszenierung des Bürgers als Tourist und Sommerfrischler erscheint in diesem Kontext als antimoderne Bestätigung der majorativen Kultur.

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Das Warenhaus dagegen, als »doppelte soziale Bühne« (S. 282), für die Waren auf der einen, für die Flanierenden auf der anderen Seite, moderiert zwischen Moderne und Anti-Moderne, verbindet moderne Konsumwelt mit großbürgerlicher Prachtentfaltung und bestehende kultureller Tradition. Und je mehr das Theater zur urbanen Massenkultur wird, desto mehr bilden sich Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem Theater heraus, sei es in der Konzentration auf das Gegenwärtige oder in seiner Angebotsstruktur.

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Mit dem Trickster verweist Marx auf eine Außenseiter-Figur in der modernen Lebenswelt, die strategisch Handlungsalternativen probiert und vorführt und damit nicht nur Handlungsräume aufmacht, sondern ebenfalls vermittelnd wirkt. Allerdings bleibt die Figur, selbst wenn sie mit diesen Strategien erfolgreich ist, aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen.

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Auch das Spektakel erscheint als Feld kultureller Verhandlungen. Zudem zeigt sich insbesondere im letzten Beispiel, Wilhelm II., die historische Grenze dieser Wirkung. In der Selbstdarstellung des Kaisers gerinnt repräsentative Öffentlichkeit zum Gestus, »der seiner permanenten Inszenierung bedurfte, um soziale Wirklichkeit zu gewinnen (S. 353). Die »performative Selbstbehauptung« (S. 353) Wilhelms II. verliert wie andere zeitgenössische Spektakel mit zunehmender Durchsetzung der Modernisierung an Wirkung. Derlei Formen öffentlicher Selbstinszenierung sind in einer urbanen, modernen Gesellschaft, in der sich Wirkungen kaum noch vorhersagen und lenken lassen, zunehmend anachronistisch.

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Fazit

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Mit seiner Arbeit legt Peter W. Marx eine vielschichtige und detailreiche Studie über die kulturellen Verhandlungen der bürgerlichen Gesellschaft in der fortschreitenden Modernisierung vor. Die Breite der Beispiele sorgt dafür, dass sich die Perspektive nicht unnötig auf einen disziplin-fixierten Blick verengt, sondern in steter Auseinandersetzung und Überprüfung die verschiedenen Aspekte des Themas abschreitet – der Hochstapler als Bestätiger und Nutznießer eines kulturellen Repertoires, die affirmative Rezeption Tells, die Minoritätsdiskurse, die sich an den jüdischen Bühnenfiguren Nathan und Shylock festmachen, die anti-modernen Bauerntheater, das Warenhaus als Ort der Vermittlung, das Spektakel, das im ›Zur-Schau-Stellen‹ den Begriff des ›Theatralischen‹ auf die Spitze treibt.

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Zwar stellt sich nicht immer eine klare und eindeutige Verbindung zwischen den einzelnen Kapiteln her. Auch ob nun eher der Minoritäts- oder der Modernisierungsdiskurs oder doch die Frage des Theatralischen im Mittelpunkt steht, lässt sich auch nach dem Schlusskapitel nicht wirklich klären. Daher mag manch einer den Titel irreführend finden – der Untertitel ist als Leitfaden einer Lektüre schon mehr geeignet, da er auf das Zusammenspiel von Politik und Kultur und Identität in der bürgerlichen Gesellschaft zumindest indirekt verweist.

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Andererseits geht es Peter W. Marx in seinem Buch nicht um eine »homogene oder teleologische Geschichte« (S. 115) des Bürgertums oder bestimmter kultureller Erscheinungen. Stattdessen entsteht in der Lektüre eine kaleidoskopartige Verflechtung der unterschiedlichen Aspekte, die auf eine nur vorgetäuschte Stringenz verzichtet und lieber den Blick öffnet für die Zusammenhänge und Parallelen zwischen den unterschiedlichen kulturellen Erscheinungen. Für den kulturwissenschaftlich und historisch interessierten Leser ergeben sich daher nicht nur interessante Einblicke in die Zeit um 1900, er wird durch die offene Struktur des Buches auch angeregt, weitere Ergänzungen in Geschichte und Gegenwart zu suchen und zu finden und damit das Buch fortzuschreiben.