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Fast ein Handbuch zur frühmittelhochdeutschen Literatur

  • David A. Wells: The Central Franconian Rhyming Bible (Mittelfränkische Reimbibel). An Early-twelfth-century German Verse Homiliary : a Thematic and Exegetical Commentary with the Text and a Translation Into English. (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 155) Amsterdam, New York: Rodopi 2004. xvi, 359 S. EUR (D) 90,00.
    ISBN: 90-420-0860-1.
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Eine verwickelte Forschungs- und Editionsgeschichte

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Es gibt zu dem umfangreichen geistlichen Werk der frühmittelhochdeutschen Dichtung, für das Wells hier einen ausführlichen Stellenkommentar mit Einleitung und Zusammenfassungen vorlegt, eine einigermaßen verwickelte Forschungs- und Editionsgeschichte, die man kennen sollte, wenn es um das Verständnis der Konzeption von Wells’ Kommentar geht.

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Das Werk ist in verstreuten Bruchstücken von ca. 1500 erhaltenen Versen bei einem geschätzten Umfang des Originals von ca. 3000 Versen erhalten. Es gehört damit neben den bibelepischen Gedichten zur Genesis (Wien/Millstatt, Vorau) und zur Exodus nach Umfang und Wirkung an die Seite der geistlichen Großwerke frühmittelhochdeutscher Dichtung. Affinitäten zur Kaiserchronik wurden gelegentlich in der älteren Forschung diskutiert, damit zugleich noch in der neueren auch zum Annolied. 1 Für die Werkentstehung referiert Wells, ohne sich zu entscheiden, aus der Forschung mutmaßliche Datierungen, die im Extrem zwischen den Ansätzen »elftes Jahrhundert« und »um 1160« schwanken, also um rund hundert Jahre. Der Überlieferungsbefund ist für ein Denkmal der Epoche nach Überlieferungsfrequenz, zeitlicher und regionaler Streuung bemerkenswert. Es war mindestens über die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts hin überregional verbreitet. Erhalten sind Fragmente von drei Handschriften (A/A*, B/B* und C) aus dem niederfränkisch/mittelfränkischen (A/A*) bis in den mittelfränkisch/oberdeutschen (B und C) Raum. Paläographisch datiert sind die Handschriften nach gegenwärtigem Forschungsstand in die Mitte (B/B*) des 12. Jahrhunderts, in dessen zweites Drittel (A/A*) und in das dritte Drittel des 12. Jahrhunderts oder in die Zeit um 1200 (C).

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Mit der Geschichte der Auffindung der Fragmente beginnt ein ziemlich verworrener Verlauf der Forschungsgeschichte, der sich entwirrt so darstellt:

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• 1866 erste Bruchstücke der Handschrift A (=A, Schade)

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• 1867 Bruchstücke einer zweiten Handschrift B (=B, Barack)

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• 1879 weitere Bruchstücke von A (=A*, Busch)

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• 1880 Bruchstücke einer dritten Handschrift C (Busch)

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• 1922 weitere Bruchstücke der Handschrift B (=B*, Schatz)

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Barack war die kurz zuvor erfolgte Veröffentlichung von Schades A-Bruchstücken unbekannt geblieben, und so konnte er die Zugehörigkeit seiner B-Fragmente zu dem selben Werk, dem Schades A-Fragmente angehören, nicht erkennen. Sie ist aber dadurch gesichert, dass Baracks neue B-Fragmente eine Folge paralleler Verse zu den A-Fragmenten Schades enthalten. Die Zugehörigkeit zum gleichen Werk bestätigte sich dann nochmals, als mit A* zwei Jahre später durch Busch neue Fragmente der Handschrift A bekannt wurden. Sie wiederum enthalten in einer weiteren Passage neue Parallelüberlieferung zu Baracks B-Fragmenten. Die Fragmente der Handschriften A (beziehungsweise A*) und B haben also an zwei verschiedenen Stellen Paralleltext. Was aber die Bruchstücke der bald darauf entdeckten dritten Handschrift C betrifft, so bestritt Busch ihre Zugehörigkeit zu dem Werk, dem die Fragmente der beiden anderen Handschriften (A/ A* und B) angehören. Eine solche Zugehörigkeit ließ sich nun nicht noch einmal durch Parallelverse begründen. Busch machte jetzt (unter anderem) inhaltliche Gründe gegen die werkmäßige Zusammengehörigkeit der C-Fragmente mit denen der Handschriften A/A* und B geltend. Hier ließ sich, solange die B*-Fragmente noch unbekannt waren, in der Tat einwenden, dass die bis dahin bekannten Fragmente aus A/A* und B ausschließlich hagiographische Stoffe aus der frühen Zeit der Christenheit gestalten, abgesehen von einer Behandlung der Parabel vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Luk. 16,19–31) mit einem eschatologischen Ausblick in A*, die man als den Beschluss des Werkes verstehen konnte. Daher glaubte man denn, Bruchstücke eines Verslegendars vor sich zu haben, das man entsprechend als ›Mittelfränkisches Legendar‹ betiteln durfte; so Carl von Kraus 1912 in der ersten Auflage seiner Ausgabe des Werks 2 , in die er, Buschs Argumenten folgend, die C-Fragmente nicht aufnimmt. Diese boten in der Tat nur biblischen und keinen hagiographischen Stoff: neben einem neutestamentlichen Stück über Johannes den Täufer auch alttestamentliche Bruchstücke über Schöpfung und Engelssturz, und das beides wollte nicht in das legendarische Konzept passen, das man sich zurechtgelegt hatte.

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Erst als dann nach über vierzig Jahren die B*-Fragmente auftauchten, ließ sich gegen die Zusammengehörigkeit des Überlieferungskomplexes aller drei Handschriften zu ein und demselben Werk nichts Entscheidendes mehr einwenden. Denn B* bezeugt nun als Teil von B in ein und derselben Handschrift neben legendarischen Stücken sowohl umfangreiche alt- als auch große neutestamentliche Fragmente. Damit passte C stofflich zum einen mit seinem alttestamentlichen Stück von Schöpfung und Engelssturz zu den übrigen alttestamentlichen Stücken des neuen B*-Fragments, zum anderen fügte sich auch das Stück über den Täufer stofflich gut in die mit B* neu aufscheinende Serie neutestamentlicher Stücke ein. Allerdings: die scheinbare Homogenität des Werks als Legendar war nun nicht mehr zu erkennen. Das, was sich stattdessen präsentiert, ist ein hybrides mixtum Kompositum aus Fragmenten biblischer und hagiographischer Stoffe und Themen, wie man es solcherart sonst nicht kannte und bis heute nicht kennt. Die seitdem gängige Bezeichnung des Werks als ›Mittelfränkische Reimbibel‹ vermag darüber kaum hinweg zu täuschen, denn große Teile sind eben nicht biblisch, sondern hagiographisch. Das Verlegenheitsetikett »Reimbibel« passt also nicht. So aber wird das Werk bezeichnet, seit Carl von Kraus 1926 unter dem Eindruck der 1922 erschienenen B*-Fragmente die Auffassung Buschs von der Unzugehörigkeit der C-Fragmente zum Komplex des Werkes aufgab und die C-Fragmente in die zweite Auflage seiner Ausgabe einbezog. 3 Und, wie Wells nun im Anschluss an Arbeiten von Thomas Klein (s. u.) darstellt, auch die regionalsprachliche Kennzeichnung »mittelfränkisch« kann heute nur noch mit Vorbehalt gelten, seit sich in den Texten auch Spuren niederfränkischer Sprache aufzeigen ließen. Dazu kommt zu guter Letzt auch noch, dass man mit Wells vielleicht auch Zweifel daran haben kann, ob die Texte als Reimverse aufzufassen sind, wie es die Bezeichnung »Reimbibel« ja unterstellt. Nun, dass die Texte, wenn auch teilweise sehr »primitiv«, gereimt sind – zumindest fast durchgehend –, daran gibt es keinen Zweifel. Ob sie aber metrisch als Verstexte gemeint sind und nicht eher als Reimprosa, mag eine offene oder erst noch zu klärende Frage sein. Fazit: Der längst etablierte und deshalb nur schwer revidierbare Name ›Mittelfränkische Reimbibel‹ ist in all seinen Bestandteilen falsch oder zumindest problematisch. Ich verwende hier vorläufig die Bezeichnung »sogenannte ›Mittelfränkische Reimbibel‹ «.

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Nach den ersten Textabdrucken des 19. Jahrhunderts hat von Kraus auf der Grundlage des handschriftlichen Materials in beiden Auflagen seines »Mittelhochdeutschen Übungsbuches« große, bewundernswerte Akribie auf die Texte verwendet. Aber im Rahmen dieses Übungsbuches beansprucht seine Bearbeitung der Texte in dessen beiden Auflagen nur pädagogische Vorläufigkeitsgeltung als Übungs- und Vorbereitungsmaterial für eine neue Ausgabe, die editorisch freilich eine starke Herausforderung darstellt. Genau genommen haben die Krausschen Texte nur den Status des vorbereitenden Appells zu einer vollgültigen Ausgabe. Entsprechend mühsam lesbar sind sie in ihrer rigoros Platz sparenden, äußersten Komprimiertheit der Textdarbietung.

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Ein drittes Mal wurde die sogenannte ›Mittelfränkische Reimbibel‹ 1964 von Friedrich Maurer und Mitarbeitern herausgegeben. 4 Diese Ausgabe bietet in synoptischer, oft wenig übersichtlicher Wiedergabe den seiten- und zeilengetreuen Abdruck der Fragmente. Dessen Zweck ist es, die Vers- und Strophengestaltung eines Lesetextes aus »binnengereimten Langversen« und »Strophen« zu stützen. Problematisch erscheint dabei neben dieser formalen Gestaltung des Lesetextes besonders die Umsetzung der in den drei Handschriften unterschiedlichen Sprachzustände in ein »Normalmittelfränkisch«. Seither hat Thomas Klein in verschiedenen Ansätzen Vieles zur regionalsprachlichen Beurteilung der Texte beigetragen, nicht zuletzt in Gestalt von wohlbegründeten Konjekturen. Wells betont den bei dieser Lage dringenden Bedarf einer Neuedition nach modernen, Sprache und Überlieferungsbefunde angemessen berücksichtigenden Leitlinien. Er übernimmt aber – leicht modifiziert – als Kommentargrundlage den Lesetext von Maurers Ausgabe, wobei die Beiträge Kleins in Kommentar und Textgestaltung berücksichtigt sind. Den stofflichen Einheiten der Fragmente werden zur besseren inhaltlichen Orientierung und zur Segmentierung der Kommentarabschnitte Zwischentitel beigegeben, die in den älteren Editionen nicht vorkommen. Nicht beigegeben sind dabei allerdings Hinweise auf die Überlieferungsbefunde, wie sie in Gestalt von textbegleitenden Referenzen auf die jeweiligen Textträger in einer Neuausgabe zu erwarten wären. Das hätte freilich den Lesefluss stören können und hätte bei der Übernahme von Maurers Lesetext auch zu einem editionstechnisch hybriden Konstrukt geführt. Und doch scheint mir das Fehlen solcher Angaben ein spürbarer Nachteil für die Textlektüre in Wells’ Buch. Denn man wüsste doch immer gern, welche Stelle in welchem Fragment welcher Handschrift man gerade liest, und dies umso mehr bei der inhaltlichen Segmentierung der Texte, die natürlich unabhängig von deren in der fragmentarischen Überlieferung so zersplitterten Bezeugung stattfindet. Hierfür muss man aber nach wie vor auf Kraus und Maurer zurückgreifen. Trotz alledem: Für den Zweck einer Kommentierung der Texte, um die es hier ja hauptsächlich geht, ist die so gestaltete Wiedergabe von Maurers Text ein rein aus pragmatischen Gründen immerhin akzeptables Verfahren. Das Desiderat einer Neuausgabe bleibt aber.

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Eine problematische These

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Ein, um nicht zu sagen das Hauptanliegen der Arbeit von Wells in den Kommentaren und zusammenfassenden Kapiteln seines Buches ist die gattungstypologische Neubestimmung des Werkes, die nach dem Scheitern der Annahme eines Legendars und der offensichtlich unzulänglichen Kennzeichnung als Reimbibel dringlich erschien. Sollte sich da nicht die Zuordnung zu einem Texttyp anbieten, der beides erfassen kann, sowohl biblische als auch hagiographische Stoffe, die Predigt nämlich, und hier insbesondere die volkssprachliche? Diese Idee, um die sich Wells in seinem Buch wieder und wieder und in verschiedenen Ansätzen bemüht, hat schließlich sogar zu der Benennung des Werks als »An Early-Twelfth-Century German Verse Homiliary« im Untertitel des Buches geführt.

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Wells setzt seine These im Besonderen auch ein, um die sehr konstruierte und reichlich spekulative Auffassung Buschs abzuweisen. Busch hatte sich zurechtgelegt, dass dem Werk letztlich ein gelehrter, mündlich gehaltener, lateinischer Lehrvortrag zugrunde gelegen haben müsse, der von einem Schüler als »Vorlesungsnachschrift« nur recht und schlecht zu Pergament (oder aufs Schreibtafelwachs?) gebracht worden sei, vielleicht zunächst in lateinischer, dann erst in deutscher Prosa und schließlich oder auch von vornherein in Reimprosa oder Reimversen – Textgenese also im Rahmen klösterlichen Schulbetriebs, aber cui bono? Man erkennt das Bemühen Buschs, die merkwürdigen Eigenarten des überlieferten Textes zu erklären, aber dies doch wohl auf eine allzu phantasievolle und konstruierte Weise. Da wäre die Predigtthese Wells’ vielleicht einleuchtender.

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Ein Vershomiliar, eine Sammlung von Verspredigten im Sinne des liturgischen Funktionstyps Homiliar also? Aber streng genommen kann es sich darum wohl doch nicht handeln, das meint auch Wells keineswegs. Denn dann wäre eine Sammlung einzelner, in sich abgeschlossener Predigten zu erwarten, deren Aufeinanderfolge intentional erkennbar konsequent nach dem Festkreis des Kirchenjahres geordnet sein müsste und gegliedert in die drei Teile des Temporale, Sanctorale und Commune Sanctorum, das Ganze zum liturgischen Gebrauch bei der Vigil im monastischen Offizium der Mönche. Gegen solchen Gebrauch spricht hier allein die Volkssprachigkeit. Man müsste, was allenfalls angeht, vom Offizium ausweichen auf die viel bemühte Tischlesung für kaum oder wenig lateinkundige Laienbrüder, Conversi. Tatsächlich treffen aber doch alle besonderen funktionstypologischen Merkmale des Homiliars auf die sogenannte ›Mittelfränkische Reimbibel‹ kaum zu. Eine Großgliederung in Temporale, Sanctorale und Commune liegt nicht vor. Natürlich handeln die Erzählungen der sogenannten ›Mittelfränkischen Reimbibel‹ von den Ereignissen, deren Gedenken an den kirchlichen und Heiligenfesten gefeiert wird, aber jene typische Großgliederung gibt es nicht. Auch die Anordnungsfolge der einzelnen Stücke nach den Festtagen des Kirchenjahres liegt nicht vor, weder explizit noch faktisch, wenn sich auch naturgemäß im chronologischen-biographischen Ablauf – besonders der auf den Evangelien beruhenden Erzählungen – teilweise Gleichlauf zu den entsprechenden Festkreisen des Kirchenjahres ergibt. Diese beruhen ja ihrerseits wesentlich auf der Chronologie der Erzählungen des Evangeliums.

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Auch enthält die sogenannte ›Mittelfränkische Reimbibel‹, soweit die fragmentarische Überlieferung es erkennen lässt, keine in sich abgeschlossenen Einzelstücke im Sinne der Predigt. Ihre Teile, wenn man sie segmentiert, sind – anders als die je für sich stehenden Predigten – meist in kontinuierlicher Folge eines Erzählverlaufs untereinander verbunden – allerdings nicht immer. Und gegen die chronologische Folge der Erzählstoffe wird doch wiederholt verstoßen. Das erscheint, zumindest auf den ersten Blick, als eine Nachlässigkeit des Erzählers. Es könnte vielleicht auch auf einen vorläufigen Konzeptstatus des überlieferten Werkes deuten. Aber der Grund dafür liegt möglicherweise doch auch im liturgischen Gebrauchszusammenhang der biblischen oder hagiographischen Quellentexte, und besonders das macht für Wells unter anderem die Affinität der sogenannten ›Mittelfränkischen Reimbibel‹ zur Predigt und zum Homiliar erwägbar. Neben allen aufgezählten Predigtelementen fehlen last but not least auch weitgehend die typischen Form- und Stilmerkmale der Predigt, sie fehlen ganz oder fast ganz: am Eingang das Gebet des Predigers um Erleuchtung, ebendort (und auch in Predigtinneren) die Anrede der Predigtgemeinde und/oder die Bezugnahme auf den eben (vor)gelesenen biblischen oder hagiographischen Text; im Verlauf der Predigt Ermahnungen und paränetische sowie didaktische und allegorische Passagen; das den Prediger und die Gemeinde zusammenschließende »wir«; am Schluss ein zusammenfassendes Segens- oder Gebetswort für die Predigtgemeinde und den Prediger. Die rahmenden Elemente fehlen ganz, die Binnenelemente freilich nicht ganz. Aber sie begegnen so spärlich, dass ihnen, so scheint mir, kaum eine spezifisch typbildende Funktion im Sinne der Predigt zugebilligt werden kann. Wells bemerkt selbst, dass diese Elemente universal stiltypisch für die frühmittelhochdeutsch geistliche Dichtung sind, die ganz allgemein immer wieder als »predigthaft« charakterisiert werden kann.

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Ein Lösungsvorschlag

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Vielleicht hilft hier eine Überlegung weiter. Einen besser passenden Platz könnten die einzelnen Stücke des Werks im Zusammenhang der abendlichen Collatio der Mönche oder Klosterfrauen nach der Komplet haben, in einer Atmosphäre zwanglos vertrauten Umgangs miteinander. 5 Hier ist – der Möglichkeit nach – der Ort einer abendlichen, eher anspruchslos beschaulichen Unterhaltung frommer Art. An diesem klösterlichen Sitz im Leben erscheinen die doch nur gelegentlichen predigthaften Stilelemente des Textes gleichsam als selbstverständlich, etwa das konkludierende »wir«, die Didaxe und die fromme Paränese. Und besonders gut verständlich wären die öfters wiederkehrenden kolloquialen Wendungen des Sprechers »wie ich schon sagte« oder »wovon ich noch reden werde«, Elemente, die den Text im Rückbezug auf »neulich« oder im Vorausbezug auf »demnächst« nachdrücklich als zwanglose Vortragsrede kennzeichnen, als Rede also eines Sprechers, den man sich als Betreuer der abendlichen Collatio für die Brüder des Konvents, Patres wie Fratres, ohne komplizierte Konstruktionen vorstellen kann. Selbstverständlich könnte man entsprechend auch einen Frauenkonvent denken, freilich ohne dass dies ausdrücklich deutlich wird. Und besonders gut könnten in diese Rezeptionssituation die erwähnten chronologischen Diskontinuitäten des Textes passen, schon an sich, aber auch etwa im Sinne einer losen, nicht strengen Anknüpfung an die Chronologie des liturgischen Jahreszyklus.

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Ein Handbuch zur frühmittelhochdeutschen geistlichen Dichtung

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Die Bedenken, die hier zur – immerhin doch vorsichtig formulierten – Homiliar-These von Wells vorgebracht wurden, sind aber im Blick auf die darüber hinaus gehende Bedeutung des Buches entschieden zu relativieren. Was Wells hier vorlegt, ist das Ergebnis einer lebenslangen Bemühung um die sogenannte ›Mittelfränkische Reimbibel‹ und es erreicht das Format eines Handbuchs zur frühmittelhochdeutschen geistlichen Dichtung. Viele Spezialstudien des Autors zur sogenannten ›Mittelfränkischen Reimbibel‹ gingen dem Buch voran und kamen ihm in aktualisierter Form zugute. Die Kommentare bemühen sich zunächst mit großer Sorgfalt um die Sicherstellung des Wortlauts der Texte nach Laut und Bedeutung im Einzelnen. Das wirkt sich besonders auch auf die sehr gediegene englische Übersetzung des Textes aus, der in seinem Fragmentstatus und besonders auch in seiner Mundartlichkeit dem Verständnis teilweise erhebliche Schwierigkeiten macht. Die Kommentare, die sich mehrfach zu großen Exkursen ausbuchten (Veronilla-Legende, Fates of the Apostles), weisen dann eine fast erdrückende Fülle von thematisch einschlägigen lateinischen und deutschen Referenztexten nach, wie sie für das 12. Jahrhundert im Rückgriff auf die lateinische Literatur, besonders auf die Exegese und Homiletik patristischer und karolingischer aber auch zeitgenössischer Provenienz eruiert werden und für den Autor des Werkes mehr oder weniger unmittelbar greifbar waren, Referenztexte, die nicht nur relevant sind für das hier primär kommentierte Werk, sondern darüber hinaus immer wieder auch für viele andere deutsche Texte der Zeit. Im Zugriff zum Beispiel auf den thematischen Subject Index aber auch auf andere Indices des Buches wird man das nutzen können. Quellen im strengen Sinn von unmittelbaren Vorlagen ließen sich freilich nicht ermitteln. Doch das liegt in der Eigenart des Werkes selbst und bestätigt diese auch vom Quellenaspekt her. Und zu guter Letzt: Die Kommentare stellen dem Benutzer auch Wells’ stupende Belesenheit in fast der ganzen Breite der mediävistischen Forschungsliteratur älterer und neuerer Zeit zur Verfügung. Bei jeder Benutzung des Buches wird man reich und gründlich belehrt werden.

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Zum Schluss sei hier noch ein Anliegen erwähnt, auf das Wells besonderen Wert legt. Gemeint ist der immer wieder aufgegriffenen Vergleich der sogenannten ›Mittelfränkischen Reimbibel‹ mit den homiletischen Werken Ælfrics von Eynsham (955–1020) in altenglischer Sprache. Zur Stützung der Predigt-These von Wells dürfte dieser Vergleich zwar nichts Entscheidendes beitragen, denn Ælfrics Homelies sind eben echte volkssprachige Predigten und damit texttypologisch mit den Stücken der sogenannten ›Mittelfränkischen Reimbibel‹ nicht auf eine Stufe zu stellen. Natürlich enthalten sie stofflich sehr Vieles, das auch in der sogenannten ›Mittelfränkischen Reimbibel‹ thematisiert wird. Damit stellen sie stofflich den großen Fundus einmal eines volkssprachlichen Referenzwerkes für die sogenannte ›Mittelfränkischen Reimbibel‹ zur Verfügung, wie man ihn sonst nicht leicht finden wird, und bieten einen willkommenen Anstoß zur mediävistisch-komparatistischen Zusammenarbeit von Anglisten und Germanisten.

 
 

Anmerkungen

Stephan Müller: Vom Annolied zur Kaiserchronik. Zu Text- und Forschungsgeschichte einer verlorenen deutschen Reimchronik. Heidelberg: Winter 1999, S. 98.   zurück
Carl von Kraus (Hg.): Mittelhochdeutsches Übungsbuch. Heidelberg 1912.   zurück
Carl von Kraus (Hg.): Mittelhochdeutsches Übungsbuch. 2. Aufl. Heidelberg 1926.   zurück
Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach ihren Formen besprochen und hg. von Friedrich Maurer. Bd. 1, Tübingen 1964.   zurück
Zu dieser Einrichtung Urban Küsters: Der verschlossene Garten. Volkssprachliche Hohelied-Auslegung und monastische Lebensform im 12. Jahrhundert. Düsseldorf 1985, besonders S. 24–39.   zurück