IASLonline

Frühneuzeitliche Druckforschung
im Münchner Projekt

  • Frieder von Ammon / Herfried Vögel (Hg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. (Pluralisierung und Autorität 15) Berlin: LIT 2008. 440 S. Gebunden. EUR (D) 59,90.
    ISBN: 978-3-8258-1605-6.
[1] 

Der Band versammelt die Beiträge einer am Sonderforschungsbereich 573 »Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit« im April 2006 veranstalteten Tagung und stellt die Dokumentation in eine mittlerweile beeindruckend angewachsene Reihe von Publikationen, die entsprechend der SFB-Programmatik die Epoche mit avancierten Ansätzen neu ausleuchten. Nicht ganz so avanciert ist heute das Konzept Gérard Genettes, hat es doch seine Brauchbarkeit für spätere Epochen literarischen Publizierens bereits unter Beweis gestellt. Zu fragen blieb, ob Genettes Ansatz auch die paratextuelle Welt der Handdruckepoche überzeugend erschließen könne. In ihrer Einleitung (S. VII-XXI) postulieren die Herausgeber die Frühneuzeit »als die erste eigentliche Epoche des Paratextes« und verstehen »die Pluralisierung des Paratextes als eine markante Signatur dieser Epoche« (S. XV), wobei Pluralisierung die »Multiplikation und Diversifikation paratextueller Formen und Funktionen« meint (S. XIII), also die Zunahme und zunehmende funktionelle Differenzierung der textbegleitenden und lektüremoderierenden Informationen vom Titel bis zum Register.

[2] 

Die (durchwegs vorzüglich ausgearbeiteten, perfekt lektorierten und überzeugend illustrierten) 15 Beiträge rangieren, wie üblich, von Fallstudien mit unterschiedlicher Beispielkraft bis zu theorieorientierten Diskussionsbeiträgen mit unterschiedlicher Anwendungsfreundlichkeit. Mehrere Autorinnen und Autoren satteln eine vorgängig entwickelte Konzeption auf das Modell Paratext auf, Werner Wolf das Konzept der »kommunikativen Rahmung«, Erika Gerber den Lesbischen Petrarkismus, Erich Kleinschmid das Konzept der Intensität, andere stoßen von Vorstudien zu bestimmten Autoren, Werken und Verfahrensweisen zur Thematik wie Dietmar Peil von der Emblematik, Stefanie Stockhorst von Johann Rist oder Bettina Wagner von der Inkunabelbeschreibung aus. Insgesamt ergibt sich eine breite, sehr anregende, aber manchmal auch befremdlich enge Diskussion des Leitkonzepts.

[3] 

Autoren und Werke

[4] 

Die Fallstudien zu bestimmten Autoren und Werken erstrecken sich vom Humanismus über die Barockliteratur bis zu Goethe (Ulrike Landfester). Gabriela Schmidt widmet sich der »Pluralisierung von Autorschaft – Entgrenzung des Textes. Die Fiktionalisierung des Paratextes in Thomas Mores literarischen Dialogen« (S. 224–253). Sie unterstreicht die Virtuosität der humanistischen Autoren im Umgang mit dem neuen Medium, wie das Lisa Jardine 1993 bereits für Erasmus von Rotterdam gezeigt hat. 1 Morus erweitert die Möglichkeiten paratextueller Moderierung um eine »facettenreiche Technik des Rollenspiels und der Fiktionalisierung« (S. 226), was am Beispiel eines Huldigungsgedichts an Bernard André und seiner para- wie peritextuellen Umdeutung gezeigt wird. Speziell in seiner Utopia (1516) arbeitet More an einer »Fiktionalisierung des Paratextes« (S. 229 ff.), indem er eine paratextuelle Kulisse von Beglaubigungen aufbaut. Mores Strategie gewinnt im Kontext der Reformation neue Bedeutung, wo er sich in der Responsio ad Lutherum (1523) einer offenen Positionierung in der aufflammenden Reformationsdebatte geschickt entzieht. »Gerade dieses nuancenreiche paratextuelle Versteckspiel aber, das keinem der übrigen Texte innerhalb der englischen Luther-Kontroverse eignet« (S. 249), enthülle den kundigen Lesern den wahren Autor. Die bereits hinlänglich erforschte Strategie Mores, gedruckten »Text als Produkt einer virtuellen Diskursgemeinschaft europäischer Humanisten zu inszenieren« (S. 236), reflektiert der Beitrag mit Blick auf das Modell Paratext überzeugend.

[5] 

Martin Schierbaum: »Paratexte und ihre Funktion in der Transformation von Wissensordnungen am Beispiel der Reihe von Theodor Zwingers Theatrum Vitae Humanae« (S. 255–282) untersucht die Reflexion der Sachordnung in den Paratexten in Hinblick auf deren pragmatische, philosophisch-metaphysische und historisch-exemplarische Funktionen: den Gesichtspunkt der Selbstreflexivität im Begriff und Bildfeld des Theaters, die Frage der Repräsentation von Wissen sowie die »Frage der Benutzbarkeit, des Medientransfers und der eigentlichen Ordnungen« (S. 257). Die spezifische Beschaffenheit der Enzyklopädik stiftet einen eigenen Textbegriff, dessen Paratexte als alleinige Findeinstrumente die Erschließung der Information gewährleisten (S. 267): »In den systematischen Wissenskompilationen sind Paratexte eher Bedeutungsträger als die Texte, die sie organisieren.« (S. 269) Denn statt eines Textes bietet Zwinger ein bedeutungserzeugendes Schema, also einen Übergang von der dispositio (eines Textes) zur Wissenschaftssystematik (S. 271). Durch genauen Vergleich der verschiedenen Auflagen (1565, 1571, 1586 und schließlich Beyerlincks alphabetische Umarbeitung von 1631) entfaltet die beeindruckende Analyse einen ebenso reichen wie präzisen Beitrag zur frühneuzeitlichen Wissensordnung und deren Darstellungsversuch im neuen Medium.

[6] 

Erika Greber: »Text und Paratext als Paartext. Sibylle Schwarz und ihr Herausgeber« (S. 19–43) rekonstruiert den »Lesbische(n) Petrarkismus«, der »in gewissermaßen maskierter Form existiert« (S. 21), und erarbeitet in Samuel Gerlachs Edition eine »homographische Doppelcodierung« (S. 33), indem die Wahrscheinlichkeit von Gerlachs (verdeckter) Homosexualität in den Raum gestellt (und mit überlegenswerten, aber insgesamt wohl zu dünnen Argumenten versehen) wird. Der mit dem clandestinen Sprechen verbundene Beweisnotstand (»Lesbisches Sprechen ist fast unkenntlich«, S. 20 Anm. 9) wird durch Unterstellung und Emphase zu beheben gesucht: Die Darstellung mutmaßt »mißgünstige frauenfeindliche Stimmen« (S. 35) gegen Gerlachs Edition, sie liest im Gedicht Ein Gesang wieder den Neidt »wohl das erste kompromißlos feministische Gedicht der Weltliteratur« (S. 33), sie versteht ein Druckfehlerverzeichnis mit hier besonders ausgeschmückter Entschuldigungsformel als »flammendes Plädoyer von literarischer Qualität, wo er [Gerlach] sich rhetorisch zur Höchstform steigert« (S. 41). So ist kaum unterscheidbar, was die Texte preisgeben und was im Auge der Beobachterin liegt.

[7] 

Auch stößt die begeisterte Argumentation, wenn es um Gattungs- oder Publikationskontexte geht, rasch an fachliche Grenzen. Gerlachs Gedicht auf dem Porträtkupfer des zweiten Bandes, für dessen Interpretation ein feministisches Ventriloquismusverständnis aufgeboten (»quasi die Stimme der Autorin in Ich-Form simuliert«, S. 37) und das Vorliegen einer »intermediale(n) Konfiguration« postuliert wird, »die eigene Repräsentationsregeln hat« (S. 39), ist schlicht der Gattung Grabschrift zugehörig. Auch fehlt ein Blick auf die barocken Konstellationen des Publizierens von Paaren, denn die angeblichen »epochenüblichen Standards« (S. 34) in der Wertschätzung von Poetinnen durch Herausgeber bestehen keineswegs im »herablassenden Gestus« (S. 34), wie das Beispiel Greiffenbergs und Birkens zeigt. Die doch ausgedehnte Forschung dazu ist nicht eingeflossen, und auch mit anderen Konstellationen wie zwischen Georges und Madeleine de Scudery oder Maria Catharina und Heinrich Arnold Stockfleth vergleicht die Abhandlung zum Nachteil ihrer Evidenz nicht.

[8] 

Der bemerkenswerte Beitrag von Stefanie Stockhorst »Dichtungsprogrammatik zwischen rhetorischer Konvention und autobiographischer Anekdote. Die funktionale Vielfalt poetologischer Vorreden im Zeichen der Reformpoetik am Beispiel Johann Rists« (S. 353–374) zeichnet nicht nur eine Systematik der Vorreden als autorspezifische Vorredenpoetik (wobei sie auf den Begriff verzichtet), sie untersucht vielmehr auch die »Interferenzen mit anderen Dichtungsvorreden« insbesondere Schirmers und Moscheroschs als eine ganz spezielle Form intertextueller Korrespondenz und begreift mithin »Paratexte als Diskussionsforum einer poetologischen Avantgarde«, worinnen »mitunter sogar Entwicklungstendenzen der kodifizierten Poetik« vorweggenommen würden (S. 370). Eine Verbreiterung der argumentativen Basis in Bezug auf den Satirebegriff wie auch auf signifikantere Vorreden, etwa jene zu Grimmelshausens Continuatio, wäre von hohem Interesse. Doch fragt sich, inwieweit das Konzept Paratext die Untersuchung trägt – ist Rists (ergreifende) Schilderung der tödlichen Krankheit seiner Frau im ersten der Monatsgespräche von 1663 tatsächlich als ein »paratextuelles« (S. 366) Ehrengedächtnis aufzufassen? Die Ergebnisse resultieren nicht aus der Beschreibung als Paratext (also in Bezüglichkeit auf die Poesie selbst), sondern als allgemeinere poetologische Programmatik, die diskurstheoretisch eher mit der »Funktion Autor« zu erfassen wäre als mit der Diskursivität des Buches.

[9] 

Gattungen und Medien

[10] 

Andere Fallstudien gehen von Gattungen und / oder Medien aus. Die dramatische Gattung untersucht Jörg Krämer: »Text und Paratext im Musiktheater« (S. 45–78) entwickelt den Textstatus gedruckter Dramenlibretti, indem er gegen »latente Hierarchisierung von Text und Paratext bei Genette« (S. 46) arbeitet – das müsse in der Gattung Libretto komplexer gefasst werden. Der Librettodruck hat die performative Funktion, die Aufführung verständlich zu machen, und bleibt darin (im Unterschied zu anderen Publikationsformen von Dramentexten) an die Aufführung gebunden. Die Prozessualität des Theaters als Aufführung und die damit gegebene Unfestigkeit von Text und Paratext führt etwa dazu, dass Apostolo Zenos Wiener Mongolenoper Gianguir (1728) vier Jahre später in Hamburg als Pharao und Joseph gegeben wird, also »ins Ägyptische versetzt, aber ansonsten sogar mit beibehaltener Musik in den Arien« (S. 70); die Wanderung des Heraclius-Dramas von Venedig (Beregani, 1671) über Hallmann (1684) in die Asiatische Banise (1689) bis hin zur Krönungsoper Die wiederhergestelte Ruh Johann Ulrich Königs (1712) ist ein weiteres Beispiel der Dynamik dieser Textsorte.

[11] 

Krämer untersucht den empirischen Reichtum an paratextuellen Informationen vom Titelblatt, Autorennennung, argumento bis zum Verzeichnis der Personen, Sänger, Tänze und Bühnenbilder (!). Der Beitrag geht den historischen und kulturgeographischen Verwendungsweisen nach (kleinere / größere Höfe, Wanderbühne) und kehrt zuletzt wieder zur theoretischen Ausgangslage zurück, zur Frage nach den Wechselwirkungen der Paratexte (S. 67 ff.). Überzeugend fordert und demonstriert Krämer eine Ausweitung des Modells Genettes, das als Funktionsverbund die Konzepte von Autorschaft und Werkcharakter spezifisch modifiziert.

[12] 

Auch Werner Wolf: »Prologe als Paratexte und / oder dramatische (Eingangs-)Rahmungen? ›Literarische Rahmung‹ als Alternative zum problematischen Paratext-Konzept« (S. 79–98) beschäftigt sich mit dem Drama, dessen Beschreibung durch Genettes Modell durch die Vermischung medialer, performativer und narratologischer Probleme ein theoretisches Problemfeld eröffnet. In Frage steht am Beispiel von Ben Jonsons The Alchemist (1610) der Textstatus der Paratexte, die in verschiedenartigen Textsorten wie Zeichenformationen (Bühnenbild) vorliegen, der Status der Rede zwischen Autor und Figur und zwischen Druck und Dramentext (dramatische »Innen-« bzw. »Außenprologe« S. 82). Die Abhandlung verbindet in der Folge das Modell Rahmentext (hergeleitet von Goffmans »frame theory«) mit Manfred Pfisters kommunikationstheoretischem Ansatz, was eine sehr präzise und einleuchtende Klassifikationsmöglichkeit abwirft. Nicht behoben ist der klassifikatorische Nachteil der Metapher »Rahmen« gegenüber der Funktionsbezeichnung Genettes (die damit ihrerseits den »Kerntext« absolut setzt).

[13] 

Mit Formen der Graphik befassen sich zwei Beiträge. Frank Büttner untersucht »Das Bild und seine Paratexte. Bemerkungen zur Entwicklung der Bildbeschriftung in der Druckgraphik der Frühen Neuzeit« (S. 99–132). Angesichts der in der Renaissance generell noch kaum vorkommenden Betitelung von (Tafel-)Bildern argumentiert Büttner, dass die Druckgraphik »auf diesem Weg eine entscheidende Bedeutung hatte« (S. 105). In genauer und erhellender Weise verfolgt der Beitrag an historisch breit gefächerten, überzeugenden Beispielen die Entwicklung der Reproduktionsgraphik als eigenständiger künstlerischer Gestaltungszweig. Die Untersuchung fragt kunsthistorisch nach Einführung und Autorisierung bestimmter Darstellungstechniken; die exakte Theoretisierung der Bild-Text-Relation scheint dagegen weniger gelungen. Das beginnt mit dem Begriff »Beschriftung«, der technisch ganz unreflektiert zwischen Kupferstich mit gestochenem Text, Holzschnitt mit geschnittenem Text oder der Kombination von Bild- und Typendruck nicht unterscheidet. Gravierender ist die Ausblendung jener Reflexionen und Ergebnisse, die auf dem Felde der Emblematik- und der Flugblattforschung zum Feld der Bild-Text-Relationen vorliegen (stattdessen klassifiziert die Abhandlung »benennende Beischriften«, »erklärende oder ausdeutende Beischriften« und »Bildepigramme«). Auch tritt die Frage der Namensnennung im Bild mit der zeitgleich entwickelten Frage der Autornennung im Buch nicht in Verbindung, was insgesamt die transdisziplinäre Brauchbarkeit der Darstellung deutlich beeinträchtigt.

[14] 

Dietmar Peil: »Titelkupfer / Titelblatt – ein Programm? Beobachtungen zur Funktion von Titelkupfer und Titelblatt in ausgewählten Beispielen aus dem 17. Jahrhundert« (S. 301–336) untersucht ein Bündel emblematischer Schriften 2 mit dem Ergebnis, »daß die Pluralisierung der Funktionen des Titelkupfers mit der Komplexität seiner Gestaltung korreliert« (S. 331). Der ausgewiesene Emblematikforscher fordert in seinem kundigen und informativen Beitrag weitere Einzeluntersuchungen, enthält sich aber weiterführender theoretischer Schlussfolgerungen: »Wichtiger als die Begriffsklärung scheinen mir vorerst akribische Fallanalysen als Grundlage für die Lösung terminologischer Probleme zu sein« (S. 302 Anm. 4) – was die Untersuchung selbst unter Beweis stellt.

[15] 

Mit speziellen Formen und Problemen des Frühdrucks befassen sich zwei Beiträge zu Musik- und Bibeldruck. Nicole Schwindt: »Zwischen Musikhandschrift und Notendruck. Paratexte in den ersten deutschen Liederbüchern« (S. 157–186) differenziert den Zusammenhang des Musikdrucks mit dem Druckwesen und seinen paratextuellen Gepflogenheiten. Die textnah und quellenkundig vorgehende Abhandlung beobachtet die Experimente, die im neuen Medium mit Titel und Kolophon, mit der Anordnung der Musikstücke und deren Erschließung, aber auch mit der Handhabung der Autorschaft angestellt werden. Manchmal verengt der fachliche Blick das Urteil: Die »Zuverlässigkeit und Exaktheit des Wiedergegebenen« ist keineswegs bei »Musikalien von unvergleichlich größerer Bedeutung als für Worttexte« (S. 168), wie das die zeitgenössischen enzyklopädischen Werke unschwer beweisen, die die Zielgenauigkeit der Verweistechnik ebenfalls als Werbefaktor herausstrichen; auf das Ringen um die Bibel und ihren philologisch exakten Wortlaut sei nur nebenbei hingewiesen.

[16] 

Mit hohem Problembewusstsein erörtert der Beitrag von Nikola von Merveldt: »Vom Geist im Buchstaben. Georg Rörers reformatorische Typographie der Heiligen Schrift« (S. 187–223) die bei Genette nur marginal berührte paratextuelle Relation von typographischer Codierung und Text am Beispiel früher Lutherbibeln. Ausgehend von Luthers ursprünglicher »Utopie eines paratextlosen Textes« (S. 214), also der von den kirchlichen Paratexten befreiten Bibel, entwickelt sich die Typographie der Lutherbibel zu einem lektüresteuernden Instrument von hoher Moderierungskraft. Hauptbeleg dafür ist der Korrektor und Herausgeber Georg Rörer, dessen typographische Differenzierung des Bibelwortes ein »binäres Schriftsystem« erzeugte, »das auf Luthers Fundamentaldistinktion von Gesetz und Gnade hin codiert ist« (S. 205). Dies war der »unerhörte[ ] Versuch einer hermeneutischen Typographie beziehungsweise einer typographischen Hermeneutik« (S. 205), mit der die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium in einer gewaltigen, in mehreren Bibelausgaben experimentell durchvariierten, letztlich zum Scheitern verurteilten »semantisch-typographische Doppelkodierung des gesamten Bibeltextes« (S. 208) paratextuell unterstrichen werden sollte.

[17] 

So bleibt von Merveldt zuletzt der Hinweis auf den Widerspruch zwischen der postulierten selbstständigen Autorität eines Textes und der unhintergehbaren Zusatzsteuerung seiner Rezeption durch den im Druckzeitalter schlicht produktionsbedingt anfallenden Paratext.

[18] 

Material vs. Theorie:
Überhänge

[19] 

Die bisher aufgeführten Beiträge versuchen die Theorie von der Praxis her kritisch zu befragen, aber auch dem Material durch die Modifikation des Modells neue Facetten abzugewinnen. Ein Überhang an Theorie, will es scheinen, beeinträchtigt die Ergebnisse und deren Plausibilität. Erich Kleinschmidt: »Gradationen der Autorschaft. Zu einer Theorie paratextueller Intensität« (S. 1–17) stellt Genettes allzu enger topologischer Metaphorisierung des Schwellenbegriffs ein kognitionspsychologisches, dynamisiertes Schwellenmodell entgegen, das den Reizdruck misst und also zur Figur der Intensität führt, die es als »theoriestark« (S. 4) zu demonstrieren gilt. Am Beispiel des Titelblatts von Fischarts »Geschichtsklitterung« übersetzt er die typographischen Gegebenheiten als Steuerungsmomente rezeptioneller Intensität und gelangt zu klangstarken, aber aussageschwachen Befunden wie »Autorschaft wird erinnert auf pluralen Ebenen einer an die Schrift gebundenen Wahrnehmungsintensität« oder »Durch die neu segmentierende Schreibweise denominiert Fischart seinen zugleich ›sprechenden‹ wie maskierenden‹ Autornamen und nimmt ihm das Gedächtnis« (S. 9). Da wir es »mit gradualisiert gleitenden Effekten von Intensität zu tun« (S. 10) haben, resultiert eine deutliche »Ausfahlung des Sinns« (S. 10), und dies nicht nur bei Fischarts Titelblatt auf der Objektebene, sondern auch in der Darstellung, weil sie die Ebenen der Autorenintention, der medialen Formation mit allen ihren vertrackten kollektiven Gestaltungsvoraussetzungen und der Moderierung der Lektüre im Akt der Rezeption (die überdies frühneuzeitlich auch als orale mitgedacht werden muss) nicht hinreichend differenziert.

[20] 

Bisweilen scheint die Sachlage selbst entbehrlich, scheinen Fakten hinderlich. Burkhard Moennighoff: »Die Kunst des literarischen Schenkens. Über einige Widmungsregeln im barocken Buch« (S. 337–352) geht mit der Unterscheidbarkeit zwischen »literarischen« und »außerliterarischen« Schriften in der deutschen Barockliteratur frohgemut an die Sache heran und bleibt deutlich hinter dem Kenntnis- und Reflexionsstand der Forschung zurück. Der Mut zum Flapsigen (»wie ja überhaupt im Trauerspiel gestorben wird«, S. 345, »Barocker Dichter, widme dein Buch!« S. 339) korreliert mit Unwissen um die Bedingungen des Widmungswesens und seiner Entwicklung. Um die unterschiedliche Rangabstufung der Widmungen in den Sprachgesellschaften zu verstehen (S. 345), wäre ein Blick auf den Umgang der Gelehrtenrepublik unerlässlich und eine angebliche »vordemokratische Freiheit von Zwängen« (S. 346) als Interpretament entbehrlich. Was als »Widmungstafel« beschrieben wird (S. 346 ff.), ist die in den Poetiken der Zeit verbreitet erörterte Gedichtform der inscriptio. Dass das Widmungsgedicht bei einer Buchüberreichung als Rede gesprochen worden wäre, war schon falsch, als es Christian Wagenknecht, dem die Abhandlung nicht nur hierin folgt, 1989 behauptete: man lese nur etwa in Birkens Tagebuch nach, in welchen Tauschprozessen und mit welcher Arbeitshaltung Widmungen und Huldigungsgedichte in Serie gingen.

[21] 

Der Überhang an Material aber führt auch nicht zu sachdienlicher Aufklärung. Ralph Häfner: »Die Vorlesungsskripte des Hamburger Philologen Johann Albert Fabricius« (S. 283–299) bietet eine faszinierende Einzelstudie über die Gelehrsamkeit und ihre Verschriftlichungsform, bewegt sich jedoch so abseits des Themas, dass die Frage nach Paratextualität weder in der Sache noch terminologisch Erwähnung findet. Das gilt mit Einschränkungen auch für Bettina Wagner: »An der Wiege des Paratexts. Formen der Kommunikation zwischen Druckern, Herausgebern und Lesern im 15. Jahrhundert« (S. 133–155). Durch ihre Arbeit an den wichtigen Beständen sowohl der Bodleian Library als auch der Bayerischen Staatsbibliothek, wo sie den Inkunabelkatalog betreut, kann Bettina Wagner ihre Beobachtungen auf breitester Materialgrundlage entwickeln. Nach einem Überblick über Form und Entwicklung des Kolophons zeigt sie im Abschnitt über das »Titelblatt als neues Element des gedruckten Buchs« (S. 140–148) die verschiedenen Funktionen des Titelblatts an informativen Beispielen. Früh schon adressiert die Widmungsvorrede als Doppeladresse den Buchpaten und den anonymen Leser, was zur vielleicht ein wenig gewagten Schlussfolgerung führt, schon früh löse sich diese Textsorte »vom ursprünglichen Entstehungskontext der Ausgabe« (S. 152) zugunsten einer proklamativen Funktion. Andere paratextuelle Einrichtungen von der Foliierung über Marginalnoten, Buchschmuck, Vorreden oder sonstige Beitexte kommen ebensowenig in den Blick wie die Problematik von Genettes Kategorien in dieser Frühzeit des Buchdrucks.

[22] 

Wie die heikle Relation von Modell und Material funktionieren kann, das zeigt der letzte Beitrag des Bandes – der diesem thematisch eigentlich nicht mehr angehört: Ulrike Landfester: »›(Ist fortzusetzen.)‹ Goethes Poetik des Paratextes« (S. 375–397) präpariert brillant die bei Genette theoretisch angelegte und in Goethes Umgang mit dem Paratext poetisch realisierte Beweglichkeit, die durch die wechselseitige Spiegelung von Text und Paratext entsteht: die Reflexion der Beziehung erfordert eine neue Metaebene, die ihrerseits als Paratext fungiert, und so unabschließbar fort, was am Schluss von Wilhelm Meisters Wanderjahre, den der Titel zitiert, entwickelt wird. In Dichtung und Wahrheit betreibe Goethe Leserlenkung durch ein »Konstruktionsverfahren«, das die Narration übersteige, ein Prinzip, das als »Paradigma der schöpferischen Verwandlung« erscheine (S. 390) und sich seinerseits etwa in der »paratextuellen Konstruktion« (S. 391) des »Märchens« finde: als Paratext bezieht es sich auf die poetologische Äußerung in Goethes Vorwort zur Autobiographie, um die fragmentarische faktographische Narration der Wahrheit erst in der Dichtung vervollständigt darzustellen (S. 393). Aus der »Omnipräsenz des Paratexttypus« leitet Landfester zuletzt als Goethes »Poetik des Paratextes« ab, »daß dieser Typus zu den Faktoren gehört, die das Werk als solches konstituieren« (S. 394). Es mag untentschieden bleiben, ob Landfester Begriff und Leistung des Paratextes überdehnt oder ob sie dem Instrument neue hermeneutische Geschmeidigkeit abgewinnt – zuletzt jedenfalls ist die Relation zwischen Goethes Kommentar und Werk am entsprechenden medialen Ort aufgesucht, in ihrer »paratextuellen Inszenierung« (S. 388), und damit der Intention des Bandes – wenn auch nicht seinem historischen Schwerpunkt – am überzeugendsten gemäß.

[23] 

Schmalspur unter Dampf?
Zwiespältige Eindrücke

[24] 

»Index Nominum« und »Index Rerum« vervollständigen den Band, nicht ohne den Leser zu verwirren. Gleich das erste Wort des Sachregisters, »Adresse«, scheint auf eine zentrale Kategorie zu verweisen, mit der Michael Giesecke die Herausbildung und bibliographische Verzeichnung des Buchtitels theoretisiert, meint jedoch einen Fachterminus für die Signierung von Kupferstichen. »argumentum« ist viermal belegt, nicht aber in der im Bandkontext wohl entscheidenden Bedeutung als paratextuelle Textsorte (S. 84 f.), wo – in (jedoch nicht ausgeführter) Analogie etwa zur Predigt, deren »Argumentum« in gedruckten Sammlungen oft dem Text voransteht – die als »The Argument« akrostichisch gestaltete Zusammenfassung eines Dramas diskutiert wird (auf das dramatische argomento S. 54 ist hingegen korrekt verwiesen). Die »Apotelesmatik« findet sich im Sachregister, nicht aber die Exzerpierkunst (vgl. S. 285), und im Namenregister ein wenig Blumenberg und ausreichend Derrida, nicht aber Roger Chartier, Robert Darnton, Philip Gaskell, Anthony Grafton oder Natalie Zemon Davis.

[25] 

Damit ist der Kerneinwand angeschnitten: der Band spiegelt die breit ausdifferenzierte Arbeit der Münchner Forschergruppe in beeindruckendem Ausmaß, er spiegelt aber nicht minder beeindruckend, mit welcher Nonchalance man sich in allzu vielen der Beiträge der Ankoppelung an die internationale oder auch nur die ältere deutschsprachige Forschung entschlägt – in der Gewissheit, die Vorgängerarbeiten hätten »in der Regel kein systematisch-theoretisches Interesse« (S. XV) und es sei ohnedies, SFB sei Dank, »noch ein ganzer Kontinent zu erforschen« (S. XVI). Weshalb man auf Michael Gieseckes Standardwerk, auf die Perspektiven Chartiers zur Materialität von Drucken, auf die Vorarbeiten Reinhard Wittmanns zur Widmung, auf die international diskutierten Konzepte von Zirkulation und Reziprozität 3 symbolischen Kapitals und in der Folge auf die Ansätze historischer Netzwerkforschung verzichten kann, ist argumentativ nicht aufzufangen. Zu Grimmelshausens Titelkupfern, insbesondere zum rätselhaften des Simplicissimus, besteht eine ausgedehnte Forschungsdiskussion 4 auf der Höhe von Genettes Modell – geschenkt.

[26] 

Manchen Beiträgern kann man kaum glauben, dass sie wenigstens die Klassiker der historischen Druckforschung zur Kenntnis genommen haben, denn die Materialität des Druckens wird allzu häufig ignoriert. Wenn der Grund für die Unterschiede zwischen Kupferstich und Holzschnitt in der Differenz zwischen Handwerkern (Holzschnitt) und Künstlern (Kupferstich) gesucht wird (S. 105), wenn von Holzschnitten die Rede ist, »die ein Gebet abdrucken« (S. 106), dann sind die zwischen Tief- und Hochdruck resultierenden technischen Unterschiede und ihre Konsequenzen im Druckgewerbe übersehen, die von der Auflagenhöhe bis zur Arbeitsökonomie die unterschiedliche Entwicklung der Buchillustration und Druckgraphik zumindest mit verantworten, wenn nicht stiften. Negiert werden die historischen Fakten und Bedingungen bisweilen auch in Fragen der Autorisierung oder der Privilegierung. Die Frage nach der Autorleistung bei der Gestaltung eines Titelblattes ist keineswegs eindeutig zu klassifizieren (Rabelais wie Fischart seien »Autoren der Autorschaft«, S. 13) – wir wissen auch bei Fischart wie in der gesamten Frühneuzeit kaum etwas Exaktes über die Autorisierung von Titelwortlaut und typographischer Umsetzung. Nicht verstanden hat beides, wer vermutet, dass man sich »mittels eines Widmungsschreibens um ein Druckprivileg für sein Buch bemüht« (S. 338).

[27] 

Für Einzelaspekte wie für die Diskussion des Modells haben wir am vorliegenden Band reiche Hilfestellung, und gewiss hätte der Verzicht auf das Zweitklassige die vielen erstklassigen Untersuchungen noch stärker freigestellt. Wenn ein zwiespältiger Gesamteindruck bleibt, dann nicht von der Leistungsfähigkeit der Fragestellung oder der Qualität einzelner Beiträge her, sondern vom Selbstverständnis eines sich selbst stets neu erfindenden Forschungsbetriebes.

 
 

Anmerkungen

Lisa Jardine: Erasmus, Man of Letters. The Construction of Charisma in Print. Princeton: University Press 1993.   zurück
Daniel de la Feuille: Devises et Emblemes Anciennes et Modernes (Amsterdam 1691), dessen deutsche Bearbeitung Emblematische Gemüths-Vergnügung (Augsburg 1693), Julius Wilhelm Zincgref: Emblemata ethico-politica (Frankfurt/M. 1619), Filippo Picinelli (Ü Augustinus Erath): Mundus Symbolicus (Köln 1681 u.ö.), das elaborierte Titelkupfer der jesuitischen Festschrift zur Prinzengeburt Fama Prognostica ad cunas S. P. Maximiliani Emmanuelis (München 1662), Daniel Meisner: Politisches Schatzkästlein (Frankfurt/M. 1625/31) sowie Isaac von Ochsenfurth OFMCap: Vita, et gesta Sancti et Gloriosi Martyris Sebastiani (Augsburg 1694).   zurück
Vgl. Natalie Zemon Davis: Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance. Aus dem Amerikanischen v. Wolfgang Kaiser (C. H. Beck Kulturwissenschaft). München: C. H. Beck 2002 [The Gift in Sixteenth-Century France, 2000] mit äußerst anregenden Konsequenzen für die Beschreibung des Widmungswesens. Vgl. auch Franz M. Eybl: Typotopographie. Stelle und Stellvertretung in Buch, Bibliothek und Gelehrtenrepublik. In: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. DFG-Symposion 2004 (Germanistische Symposien Berichtsbände 27). Stuttgart: Metzler 2005, S. 224–243.   zurück
Vgl. zuletzt Andreas Bässler: Sprecherkonstellationen in Grimmelshausens Titelkupfer-Arrangements. In: Simpliciana 30 (2008), S. 17–46. Ein einschlägiger Vorgängeraufsatz Bässlers lag bereits 2006 vor, ebenso Hubert Gersch: Literarisches Monstrum und Buch der Welt. Grimmelshausens Titelbild zum »Simplicissimus Teutsch«. Tübingen: Niemeyer 2004. Dietmar Peil weist auf diese Arbeit kursorisch hin, S. 302 Anm. 3. Gersch referiert gründlich über das »Titelbild-Genre im Barock« (S. 6–17) sowie »Literarische Titelbilder im Barock« (S. 18–23), bevor es an das Simplicissimus-Titelbild und an »Grimmelshausens Urheberschaft an dem Titelbild« (S. 36–43) geht, allesamt Fragen, die im Band mehrfach berührt werden.   zurück