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Das »Opernhafte« als kulturtheoretische Kategorie

  • Immacolato Amodeo: Das Opernhafte. Eine Studie zum »gusto melodrammatico« in Italien und Europa. Bielefeld: transcript 2007. 221 S. Paperback. EUR (D) 25,80.
    ISBN: 978-3-89942-693-9.
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Eine aufschlussreiche und interessante Auseinandersetzung mit dem Opernhaften als einer in der italienischen Literatur- und Kulturtheorie ästhetisch bzw. kulturtypologisch gebrauchten Kategorie liefert die Literaturwissenschaftlerin Immacolata Amodeo in ihrer Bayreuther Habilitationsschrift. »Opernhaft« wird dabei im Sinne einer Übersetzung des italienischen Adjektivs melodrammatico verwendet und tritt im Rahmen der Ausführungen in der Bedeutung ›der Oper eigen‹ oder ›der Oper zugehörig‹ auf. Mit diesem Terminus soll also kein Gattungsbegriff erfasst werden, sondern das Opernhafte »als eine Form der Theatralität« begriffen werden, die »nur indirekt erschließbar« und »nicht allein als eine spezifische Form (mehr oder weniger spektakulärer) Bewegungen oder Sprache aufzufassen« ist (S. 9). Die Studie beleuchtet dabei unter dem Fokus des Opernhaften einige Aspekte der italienischen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, und unternimmt dabei eine Zusammenführung unterschiedlicher Bereiche, die im Schnittpunkt von Diskurs, Medium, Sozialgeschichte, Ästhetik und Alltagsverhalten liegen.

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Die Konstruktion der Oper als Nationalkultur Italiens

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Ausgehend von Antonio Gramscis These, die Oper übernehme in der italienischen Kultur die Funktion einer »letteratura nazionale-populare« (S. 94), nähert sich Amodeo dieser Funktionsäquivalenz zunächst in einem historischen Exkurs zu einigen Italienbeschreibungen aus dem 18. Jahrhundert an. Diese Texte verbindet eine gemeinsame Bewertung ihrer Verfasser, »nicht in der italienischen Literatur, sondern in einer bestimmten Form der italienischen Oper die ›Seele‹ des Landes bzw. des Volkes wiederfinden zu wollen« (S. 11). Bereits in Johann Wolfgang von Goethes Italienischer Reise erweist sich das Opernhafte als eine kulturtypologische Kategorie. So beobachtet Goethe einen wechselseitigen Zusammenhang von Theater und Alltag, denn »Theater ereignet sich in seiner Beschreibung nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Parkett« (S. 17) und darüber hinaus sogar außerhalb des Theaters in zahlreichen theatralischen Situationen, etwa in einer Gerichtsverhandlung, die er als »vorgefertigte Komödie« beschreibt, in der die Beteiligten den althergebrachten Typen aus der Commedia dell’arte gleichen (S. 18). Auch die Musikalität der Italiener erregt Goethes Aufmerksamkeit. Amodeo weist in diesem Zusammenhang berechtigterweise auf die Stilisierung dieser Beobachtungen hin, die – wie sich anhand des Vergleiches der Italienischen Reise mit den bereits vor der Endfassung im Teutschen Merkur veröffentlichten Fragmenten eines Reisejournals feststellen lässt – beweisen, dass Goethes Beschreibungen keinem alltäglichen Ereignis entsprechen, sondern als Idealisierung zu bewerten sind (vgl. S. 26). Sein Bild von der Alltagskultur kann als »Kultursemiotik in nuce angesehen werden, in der [sich] das Opernhafte als kulturtypologisch relevante Kategorie abzeichnet« (S. 11).

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Positionen der italienischen Literaturwissenschaft

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Dieses Bild von Italien als dem »Land des Opernhaften« wird von vielen Dichtern und Romanciers in der Nachfolge Goethes – etwa von Stendhal, Heine oder Madame de Stael bis hin zu Rolf Dieter Brinkmanns negativer Einschätzung der italienischen Kultur im 20. Jahrhundert – aus einer verklärenden oder aber kulturkritischen Sicht fortgeführt. Hier deckt Amodeo eine interessante Abweichung der ausländischen Sicht auf Italien von der italienischen Binnenperspektive auf. Anzuführen sind hierbei die beiden Positionen der italienischen Literaturwissenschaft, vertreten durch Francesco De Santis und durch Benedetto Croce. Kommt De Santis dabei zu dem Schluss, dass »die opernhaften Tendenzen der italienischen Literatur als großes Defizit hinsichtlich der Herausbildung eines Nationalbewusstseins und einer nationalen Kultur« (S. 85 f.) anzusehen sind, ordnet Croce aufgrund seiner normativen Wertungsästhetik Komödien und Libretti, aber auch die opernhafte Barockdichtung nicht dem Bereich der poesia, sondern der »minderwertigen letteratura« zu. Diesen abwertend idealistischen Zugriff löst Antonio Gramsci auf, in dem er das Opernhafte »als eine Konstante der italienischen Kultur seit Jahrhunderten« anerkennt und damit den »gusto melodrammatico« als Massengeschmack zu einer kulturtypologischen Kategorie aufwertet (vgl. S: 106).

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Oper und Roman

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Wie Amodeo anhand einer Gegenüberstellung von italienischer Oper und europäischem Roman nachweisen kann, wurde der Roman im Jahrhundert nationalstaatlicher Bewegungen in fast allen europäischen Kulturen zu einem führenden Genre (vgl. S. 107). Dagegen lag der Schwerpunkt im Italien des 19. Jahrhunderts nicht auf der Gattung des Romans, sondern auf dem Gebiet der Oper. Um die von Gramsci festgestellte Funktionsäquivalenz von Oper und Roman nachvollziehbar zu machen, untersucht die Autorin im nächsten Schritt das Verhältnis von Roman und Oper »im Hinblick auf diese Fragestellung nicht in ihrer gattungsgeschichtlichen Ausdifferenzierung, sondern als Medium« (S. 109). Das Ergebnis ist überzeugend, denn Amodeo arbeitet heraus, dass die Forderungen der Literatur hinsichtlich ihrer formalen, sprachlichen und thematischen Erscheinungsform unzeitgemäß hinter dem politisch-ideologischen Diskurs zurück blieben, 1 so dass »in dieser Situation die Oper ein Medium [war], das sich für die Kollektivierungsprozesse besser eignete« (S. 131). Bestimmte die Spektakelkultur – in der es neben der visuellen Komponente um eine öffentliche und gleichermaßen kollektive Produktion und Rezeption ging (S. 136) – bereits seit der Renaissance die italienische Kultur, etwa in Gestalt der höfischen Feste, Garten-Spektakel und der Komödie, fügte sich auch »die Oper in den Spektakelschwerpunkt der Kultur ein« (S. 144). Gleichzeitig ermöglichte die Oper einer wenig alphabetisierten Bevölkerung die Teilnahme an Aufführungen und blieb darüber hinaus in ihren Verbreitungsmöglichkeiten im In- und Ausland der italienischen Literatur im 19. Jahrhundert überlegen. Damit war die Oper »massenwirksamer und homogenisierender als die Literatur, die nur einer extrem gebildeten Schicht offenstand« (S. 144).

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Oper und Risorgimento

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Amodeo versucht im Weiteren die tatsächliche Bedeutung herauszuarbeiten, die der Herausbildung der Oper zum nationalen Medium im Zuge der italienischen Nationbildung zukam. Während Anthony Arblaster 2 die Opern von Rossini, Bellini, Donizetti und vor allem Verdi in einem unmittelbaren stofflich-thematischen Bezug zum Nationalen sieht, zeigt Birgit Pauls auf, wie Verdis Opern für die »nationale Mythenbildung genutzt wurden«. 3 Amodeo zieht daraus den Schluss, dass den Opern des Risorgimento rückwirkend die Funktion eines »imaginären Blockprojektes« (S. 150) zukam, wurde doch die Oper erst Ende des 19. Jahrhunderts zu einem populären, allen Teilen der Bevölkerung zugänglichen Medium.

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Die transmediale Qualität des Opernhaften

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In einem mit »Narrationen und Praktiken« überschriebenen Kapitel untersucht Amodeo Texte der nicht-italienischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen Ausschnitte französischer und deutscher Texte die transmediale Qualität des Opernhaften deutlich machen. Ihre Ausführungen widmen sich zum einen der »Handwerklichkeit von Oper« (S. 162), dargestellt an E.T.A. Hoffmanns Der vollkommene Maschinist, zum anderen der spektakulären Wirkung einer Aufführung, nachvollziehbar gemacht anhand von Flauberts Madame Bovary und Stendhals Le Rouge et le Noir, sowie dem Aspekt der visuellen und akustischen Künstlichkeit einer Oper bzw. Opernaufführung, etwa in Thomas Manns Kapitel »Fülle des Wohllauts« aus dem Zauberberg. Wird in Fellinis Filmen das Opernhafte zum ästhetischen Prinzip erhoben, sieht Amodeo darin nicht nur die publikumswirksamste Ausformung, sondern auch die von Gramsci für das 20. Jahrhundert skizzierte Kulturtypologie bestätigt. Demnach liegt der »gusto melodrammatico« nicht in der Natur der Italiener, sondern tatsächlich in der Kultur der Oper – so wie sie sich im kulturellen Raum Italiens herausgebildet hat – begründet.

 
 

Anmerkungen

Als Gründe hierfür führt Amodeo die »sprachliche und die politische Heterogenität des Landes, die gering fortgeschrittene Alphabetisierung, die spät aufkommende und sich nur langsam durchsetzende allgemeine Schulpflicht, die wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit großer Gebiete« an, welche »einer „Herausbildung eines großen Lesepublikums im Italien des 19. Jahrhunderts im Wege standen«. Vgl. dazu S. 131.   zurück
Anthony Arblaster: Viva la Libertà! Politics in Opera. London, New York 1992.   zurück
Birgit Pauls: Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozess der Nationenbildung. Berlin 1996.   zurück