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Krankheit und Metapher.

Medizinisches Schreiben in Literatur und Wissenschaft

  • Nicolas Pethes / Sandra Richter (Hg.): Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600-1900). (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 117) Tübingen: Max Niemeyer 2008. 343 S. 16 Abb. Broschiert. EUR (D) 72,00.
    ISBN: 978-3-484-35117-2.
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Das Forschungsgebiet ›Literatur und Medizin‹ erfreut sich seit geraumer Zeit einer gesteigerten Aufmerksamkeit, die sich in der Veröffentlichung zahlreicher Sammelbände und Monographien sowie eines Lexikons und mehrerer Forschungsberichte 1 niedergeschlagen hat. In der Einleitung des anzuzeigenden Bandes bieten die Herausgeber Nicolas Pethes und Sandra Richter eine knappe, aber mit umfangreichen Literaturhinweisen dokumentierte Skizze dieses Forschungstrends, um dann den Ansatz ihres Bandes im Verhältnis zu ihm zu positionieren. Ein Manko vieler Untersuchungen zum Thema ›Literatur und Medizin‹ sehen Pethes und Richter darin, dass diese von »mehr oder weniger deutlich fixierten und essentialistischen Komplexen ›Medizin‹ und ›Literatur‹ ausgehen« und als einzige Art von Relationen zwischen beiden Bereichen die literarische Symbolisierung medizinischer Motive oder Themen betrachten (S. 2). Demgegenüber soll der vorliegende Band erstens die Literatur, die Medizin und die Beziehungen zwischen ihnen stärker historisieren bzw. dem Umstand Rechnung tragen, dass »›Literatur‹ und ›Medizin‹ ihrerseits im Prozess der Ausdifferenzierung verschiedener Gesellschaftssysteme historisch gewachsene Kategorien sind, deren Verhältnis entsprechend wandlungsreiche, immer wieder neu konstruierte und funktionalisierte Genealogien kennt« (ebd.). Zweitens sollen Literatur und Medizin nicht über »motivische[ ] Gemeinsamkeiten« in Beziehung zueinander gesetzt werden, sondern über ihre gemeinsame Verwendung des Mediums der Schrift, also im Ausgang von der Feststellung, »dass sich sowohl Literatur als auch Medizin (wenigstens in weiten Teilen) schriftlich artikulieren.« (Ebd.)

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Analysiert werden sollen mithin die vielfältigen Textformen, die in verschiedenen historischen Epochen zur »Archivierung, Kommunikation und Reflexion« (S. 4) medizinischen Wissens entwickelt wurden. Dabei gehen Pethes und Richter im Anschluss an Walter Erhart von der Grundannahme aus, dass die Geschichte der Literatur und die der Medizin als ›koexistente und koevolutionäre‹ Prozesse betrachtet werden können (vgl. ebd.) 2 und dass auch das Verhältnis von »Wissensformen und Schreibweisen« durch eine »Koevolution und Wechselbeziehung« bestimmt sei (S. 9), dass also medizinisches Wissen einerseits durch seine textuellen und bildlichen Darbietungsformen geprägt werde und andererseits diese Darstellungsweisen und Gattungen mitgestalte (vgl. S. 5). Als eine zentrale Analysekategorie des skizzierten Forschungsprogramms wird der Begriff der ›Schreibweise‹ präsentiert; mit ihm sollen »Textkomplexe« bezeichnet werden, die »unterhalb der Ebene von Gattungen oder Genres liegen, aber – wie ›das Narrative, das Dramatische, das Satirische‹ – wiedererkennbare Konstanten aufweisen.« (S. 4 f.)

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Was die Ansprüche und erwarteten Leistungen dieses Forschungsansatzes betrifft, so soll er es zum einen ermöglichen, die Darstellungsformen, mit deren Hilfe medizinisches Wissen vermittelt wird, »rhetorisch, stilistisch, narrativ, semiotisch und metaphorologisch in den Blick zu nehmen«; dabei gelte es auch, die »etablierten Gattungen [...], in denen medizinisches Wissen auftaucht«, also etwa Selbstzeugnisse von Ärzten und Patienten, Ratgeber, Enzyklopädien und Lehrbücher, präziser zu kennzeichnen (S. 5, 7). Außerdem könne der Ansatz des ›Medical writing‹ auch gängige ›Erzählungen‹ der Medizingeschichte kritisch prüfen, indem er die Rolle von Rhetorik und kulturell geprägten Metaphern in der Medizin in den Blick rückt (vgl. S. 5 f.).

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Die Beiträge des Bandes sind nach einem diachronen Gliederungsschema angeordnet, das sich am Leitbegriff der Ausdifferenzierung orientiert. So steht die erste Gruppe von Aufsätzen unter dem Titel »Vor der Ausdifferenzierung: Medizinische Gelehrtenkultur und Literatur bis 1750«; die zweite Sektion trägt die Überschrift »Der Prozess der Ausdifferenzierung 1750–1850«, die dritte den Titel »Jenseits der Ausdifferenzierung: Schreibweisen zwischen den ›zwei Kulturen‹«. Zu den Autoren gehören neben Literaturwissenschaftlern, Medizinhistorikerinnen und Historikern auch ein Mediziner sowie ein Theologe.

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Schreibweisen in Medizin und Literatur

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Nicht alle Beiträge des Tagungsbandes stellen tatsächlich Schreibweisen in den Mittelpunkt. Einige Aufsätze, die Episoden der Medizingeschichte untersuchen, ohne dabei auf die Literatur einzugehen, behandeln nicht nur oder nicht in erster Linie Schreibweisen, sondern auch Theorien und experimentelle oder therapeutische Praktiken; einige Beiträge, die Beziehungen zwischen der Medizin, der Literatur oder anderen Bereichen wie Theologie und Religion zum Thema machen, konzentrieren sich dabei nicht unbedingt auf die Beziehungen zwischen medizinischen, literarischen und anderen Schreibweisen. – Im Folgenden sollen für die verschiedenen Beitragstypen, die sich auf diese Weise unterscheiden lassen, jeweils ausgewählte Beispiele näher vorgestellt werden.

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Als Beiträge, die sowohl Schreibweisen innerhalb der Medizin als auch Schreibweisen innerhalb der Literatur in den Blick nehmen und somit das in der Einleitung entworfene Programm gewissermaßen in prototypischer Weise umsetzen, sind zu nennen die Aufsätze von Simone de Angelis (»Die Liebeskrankheit und der Eros-Mythos: Zur Beziehung von medizinischen und poetischen Texten in der Renaissance«), Sandra Richter (»Charakter und Figur – Charakterologie im Ausgang von der Rezeption des Theophrast von Eresos bis zu Christoph Martin Wielands Abderiten (1781)«) und Felix Sprang (»Tristram Shandy und die Anthropologia nova – Systematik in Literatur und Medizin«) sowie, mit gewissen Einschränkungen, der Beitrag von Nicolas Pethes (»Die Topik des Unvorstellbaren – Anthropotechnik und Biopolitik in medizinischer Science Fiction«). 3

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Der instruktive Beitrag von Sandra Richter befasst sich zunächst mit Theophrasts Werk über die Charaktere selbst, dann mit seiner Rezeption in der Frühen Neuzeit und mit verschiedenen Richtungen der Charakterologie, die sich im 17. und 18. Jahrhundert entwickelten; der Aufsatz schreitet somit ein sehr weites Feld ab und beschränkt sich folglich teilweise darauf, Fragen und Forschungsthemen zu markieren, ohne sie weiter zu entfalten. Ausführlicher werden zwei charakterologische Traktate des 18. Jahrhunderts und Wielands Abderiten-Roman gewürdigt. Den Ausgangspunkt von Richters Untersuchung bildet die Feststellung, dass die Charakterologie ein offenes, in viele Richtungen hin ›anschließbares‹ Wissensgebiet sei und sich außerdem in ihren verschiedenen Ausprägungen auch mit unterschiedlichen Schreibweisen verbunden habe. Die Entwicklung der Charakterologie in der Frühen Neuzeit sei vor allem durch eine Amalgamierung mit diversen anderen Wissensbereichen (etwa Humoralpathologie und Physiognomik) sowie durch eine Ausdifferenzierung nach Zielen und Anwendungszwecken gekennzeichnet. Wieland beziehe sich in seinem Abderiten-Roman auf vielfältige Weisen auf die Tradition der Charakterologie: Er greife Elemente von Theophrasts Schreibweise auf, insbesondere die Technik der indirekten Charakterisierung sowie die Tendenz zur Karikatur und zur Schematisierung, verbinde diese Züge aber mit Darstellungsformen von charakterologischen Traktaten des 18. Jahrhunderts, wie er auch auf der inhaltlichen Ebene die Amalgamierung von Charakterologie und Humoralpathologie aufnehme und zur Figurencharakterisierung nutze. Zugleich betreibe der Roman auf kritische Weise ›Meta-Charakterologie‹, indem er die Tragfähigkeit der ›politischen‹ Charakterologie à la Thomasius in Frage stellt.

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Das Verhältnis von Wielands Abderiten-Roman zu zeitgenössischen Ausprägungen der Charakterologie, wie Richter es deutet, ist teilweise eines der Rezeption und Anlehnung, teilweise eines der Abgrenzung und kritischen Reflexion. Felix Sprang dagegen legt in seinem Beitrag über Lawrence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman und die Medizin des 18. Jahrhunderts den Akzent vor allem auf die gegenseitigen »Abgrenzungsbemühungen« (S. 186), die das Verhältnis von Medizin und Literatur jener Zeit prägen, wenngleich er auch betont, dass Sternes Roman mit seinen kritischen Bezugnahmen auf die Wissensansprüche der Medizin diese immer auch ›transportiere‹ (S. 172). Diese Bezugnahmen auf die Medizin sind, wie Sprang zeigt, vielfältiger Art: Sterne lässt nicht nur eine Romanfigur Diskussionsthemen der aktuellen Geburtsmedizin aufgreifen, der Roman verweist darüber hinaus auf die Ordnungsverfahren und Systematisierungsbemühungen in der zeitgenössischen Medizin, insbesondere auf die ungelöste Spannung zwischen dem Streben nach spekulationsfreier Wiedergabe empirischer Daten und dem Anspruch auf eine systematische Ordnung und eine Offenlegung der geheimen Grundprinzipien der Natur. Diese Spannung kennzeichne etwa anatomische Lehrbücher wie die (Sterne bekannte) Anthropologia nova (1717) von James Drake, die in den Paratexten noch den Anspruch auf eine systematische Ordnung ausdrückt, diesen aber in der Präsentation der Inhalte nicht einlöst. Zudem empfiehlt Drake in dem Buch selbst eine ›konsultative‹ Lektüreweise, die sich von dem speziellen Interesse des Lesers und den Querverweisen im Text leiten lässt und zwischen auseinanderliegenden Textpassagen hin und her springt. Sternes Roman, so Sprang, bilde diese »konsultative Lektüre mimetisch ab«, indem er den Leser zum Überspringen oder mehrfachen Lesen von Textpartien auffordere; zugleich parodiere der Roman diese Lektüreweise und inszeniere ihr Scheitern, indem er angekündigte Themen unausgeführt und »Erzählstränge ›versanden‹« lässt (S. 185).

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Bezugnahmen auf die Medizin in Literatur und Theologie

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Einige Aufsätze widmen sich Beziehungen zwischen der Medizin und der Literatur oder anderen Disziplinen wie der Theologie, wobei diese Beziehungen aber nicht primär die wissenschaftlichen und literarischen Schreibweisen betreffen. So analysiert Johann Anselm Steiger in einem ebenso material- wie aspektreichen Aufsatz den vielfältigen Gebrauch, den Luther sowie lutherische Theologen der Barockzeit von der Topik der medicina spiritualis machten, indem sie – vor allem in Predigten und anderen für eine breite Öffentlichkeit bestimmten Texten – etwa Christus mit einem Arzt oder einem Apotheker und das verbum Dei sowie die Sakramente mit Arzneien verglichen; daneben geht Steiger auch auf Luthers Deutung des Arztberufs ein, die im Kontext seiner Lehre von der leiblichen Präsenz Christi in allen Dingen zu verstehen sei. ›Medizinische Schreibweisen‹ im Sinne von in der Medizin gebräuchlichen Darstellungsformen allerdings kommen bei Steiger nicht in den Blick.

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Tom Kindt und Tilmann Köppe befassen sich in ihrem Beitrag mit den naturalistischen Manifesten von Émile Zola und Wilhelm Bölsche, also mit Bezugnahmen von Literaten auf die Medizin, die allerdings nicht auf medizinische Schreibweisen, sondern vor allem auf medizinische Methoden (etwa das Experiment) und Wissensansprüche zielen. Die Untersuchung der Texte von Zola und Bölsche verbinden Kindt und Köppe mit grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Wissen, auf die weiter unten näher eingegangen wird.

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Auch Barbara Beßlich widmet sich der Literatur des Naturalismus und ihrem Verhältnis zur zeitgenössischen Medizin, allerdings aus einer ganz anderen Perspektive als Kindt und Köppe. Gegenstand ihres Beitrags sind die analytischen Dramen des deutschen Naturalismus, insbesondere Gerhart Hauptmanns, und ihre »diagnostische[ ] Ästhetik« (S. 286). Beßlichs zentrale Thesen, die sie am Beispiel von Vor Sonnenaufgang und Das Friedensfest klar und überzeugend entwickelt, besagen 1.), dass das wirkungsästhetische Kalkül dieser Dramen darauf ziele, dem Leser oder Zuschauer die Rolle des Arztes zuzuweisen, der eine Anamnese zu erstellen hat, und 2.), dass die Dramen es dem aufmerksamen Zuschauer erlauben, die dramenintern von den Figuren selbst formulierten Diagnosen, die auf der Lehre des erbbiologischen Determinismus basieren, als verfehlt zu durchschauen und als die primär bedeutsamen Prägungsfaktoren die sozialen Umstände zu erkennen. In der von Beßlich analysierten Konstellation von Literatur und Medizin wird mithin eine traditionelle literarische Form oder Schreibweise – die des analytischen Dramas – dazu genutzt, eine medizinische Theorie zu kritisieren.

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Medizinische Schreibweisen im Kontext
von Institutionen, Praktiken und Medien

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Einige Beiträge nehmen eine primär medizinhistorische Perspektive ein, behandeln also Episoden aus der Medizin- sowie der Psychologie- und Psychiatriegeschichte, ohne literarische Texte heranzuziehen. Sie verbinden die Analyse von Schreibweisen bzw. Darstellungsformen mit der Untersuchung von Theorien, Praktiken oder Institutionen und nehmen dabei unterschiedliche Gewichtungen vor. Ausdrücklich ins Zentrum gestellt wird die Frage nach den Schreibweisen in dem Beitrag von Daniel Schäfer, der medizinische Dissertationen der Frühen Neuzeit analysiert und herausarbeitet, welcher Gebrauch in diesen Texten der medizinischen Fachprosa von »kleinsten literarischen Textelementen« (S. 135), nämlich von lateinischen und deutschen Sentenzen und Sprichwörtern sowie von Verweisen auf mythologische und biblische Figuren wie Medea und David, gemacht wurde. Diese Textelemente erfüllten, so Schäfer, unterschiedliche Funktionen, können aber generell als Beleg dafür gelten, dass diese Dissertationen in gewissem Maße dem literarischen Prinzip des »prodesse et delectare« verpflichtet waren (vgl. S. 144) und insofern tatsächlich einer Epoche vor der Ausdifferenzierung von Medizin und Literatur angehörten (vgl. auch S. 131 f.).

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Zwei andere medizingeschichtlich ausgerichtete Beiträge nehmen jeweils einen einzelnen Text in den Blick. Mariana Saad analysiert Pierre Georges Cabanis’ Journal de la maladie et de la mort de Mirabeau, den Text, in dem der später vor allem durch sein Werk Rapports du physique et du moral de l’homme berühmt gewordene Mediziner die tödlich verlaufene Krankheit von Mirabeau schilderte und sich zugleich gegen den von jakobinischer Seite erhobenen Vorwurf verteidigte, seinen Tod beschleunigt zu haben. Während bei diesem »Journal«, das gewissermaßen zugleich Krankheitsprotokoll und Verteidigungsrede war, aufgrund seines besonderen Entstehungskontextes nicht ganz klar wird, welches Maß an Repräsentativität es beanspruchen kann, geben Gerhard Aumüller, Natascha Noll und Irmtraut Sahmland ausdrücklich an, für welche Textgruppe das in ihrem gemeinsam verfassten Beitrag untersuchte Dokument als repräsentativ stehen könne: Sie analysieren einen Bericht von einem Besuch in einem Hospital für Geisteskranke, der 1784 im Journal von und für Deutschland erschien und dessen Autor der Offizier, Lehrer für Militärwissenschaften und physiokratisch gesinnte Schriftsteller Jacob Mauvillon war. ›Irrenhausbesuche‹ wurden, wie die Verfasser im Anschluss an Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni feststellen, 4 zur Zeit der Spätaufklärung sehr häufig und in verschiedenen Textsorten beschrieben; außerdem repräsentiert Mauvillons Bericht als Beitrag zu einem gelehrten, aber überdisziplinär angelegten Journal einen für das späte 18. Jahrhundert besonders wichtigen Texttyp. Aumüller / Noll / Sahmland bieten eine ›dichte Beschreibung‹ bzw., wie sie selbst es ausdrücken, eine »mikrologische[ ]« und »multiperspektivische« Analyse von Mauvillons Bericht (S. 192, 194), die nicht nur Inhalt und Darbietungsform des Textes untersucht, sondern auch ausführlich die Zustände in dem von Mauvillon besuchten Hospital schildert, seine Darstellung mit anderen zeitgenössischen Quellen abgleicht und so die spezifischen Akzentsetzungen und ›Leerstellen‹ seines Berichts herausarbeitet. Für die Schreibweise des Textes sei vor allem die »geschickte Mischung verschiedener Textgenres« und die Verwendung »dramatische[r], metaphorische[r] und rhetorische[r] Stilmittel« kennzeichnend, die ihm »eine gewisse Literarizität« gäben (S. 225). Gerade diese Aussagen zur Schreibweise allerdings bleiben in dem – insgesamt sehr aufschlussreichen und differenzierten – Beitrag von Aumüller / Noll / Sahmland etwas vage und werden auch kaum durch aussagekräftige Zitate konkretisiert.

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Stellen die eben genannten Beiträge jeweils einen Text ins Zentrum, so widmen sich zwei andere Aufsätze jeweils einer einzelnen Person; das vorrangige Interesse richtet sich in beiden Fällen darauf, wie die betrachteten Personen – ein Arzt und ein Psychologe – auf publizistischem Wege ihre Theorien und Therapien propagierten und ihre eigene Autorität zu festigen suchten. Karen Nolte untersucht den Fall des Göttinger Arztes und Professors Friedrich Benjamin Osiander (1759–1822), der um 1800 in Fachkreisen als der Arzt galt, der als erster Gebärmutterkrebs operativ behandelt hatte. Obwohl der Heilungserfolg seiner Operationen, wie eine genaue Prüfung der Quellen ergibt, sehr begrenzt war, stellte Osiander in Publikationen seine Behandlungsmethode als hochwirksam und sich selbst als mutigen Pionier dar. Eine der wichtigsten Strategien, deren sich Osiander zur Steigerung seiner Autorität sowie der Akzeptabilität seiner Vorgehensweise bediente, bestand nach Noltes plausibler Argumentation darin, seine Operationen als wissenschaftliche Experimente darzustellen und die Anwesenheit von Augenzeugen hervorzuheben. In einem ähnlich kritischen Licht wie Osiander bei Nolte erscheint John B. Watson, einer der Begründer des Behaviorismus, in dem Aufsatz von Marcus Krause. Krauses Interesse gilt einerseits den propagandistischen Verfahren Watsons, andererseits den weitreichenden, auf eine umfassende Gesellschaftsreform zielenden Ansprüchen seines behavioristischen Programms. Im Zentrum des Aufsatzes stehen die Konditionierungsexperimente, die Watson 1920 mit dem neun Monate alten Kleinkind Albert durchführte; die Ergebnisse der Experimente teilte er nicht nur in einem wissenschaftlichen Aufsatz mit, sondern auch in populären Zeitschriften sowie in einem Buch, das in einer Werbekampagne als unerlässliche Erziehungshilfe für Eltern angepriesen wurde. An die knappe Beschreibung der von Watson gebrauchten Publikationsmittel schließt Krause allerdings keine eingehendere Analyse der sprachlichen und visuellen Darstellungsstrategien an, die dann auch Aufschluss über die (im Hinblick auf das Thema des Sammelbandes besonders interessante) Frage geben könnte, welche Implikationen der Einsatz moderner Massenmedien zu Popularisierungszwecken hinsichtlich der vermittelten wissenschaftlichen Inhalte besaß; statt dessen wendet er sich den übergeordneten Zielen von Watsons Behaviorismus zu, um sie unter Rekurs auf Foucault als ›Produktion normalisierter / disziplinierter Kinder‹ einerseits, ›Produktion eines souveränen Wissenschaftlersubjekts‹ andererseits zu charakterisieren.

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Theoretisches und Methodologisches

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Theoretische und methodologische Fragen, die sich im Kontext der Forschungen zu »Literatur und Medizin« und zu den Schreibweisen in beiden Bereichen stellen, werden in zwei Beiträgen des Bandes ausführlicher diskutiert.

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Die theoretischen Überlegungen in Lutz Dannebergs Aufsatz (»Das Gesicht des Textes und die beseelte Gestalt des Menschen. Zu Formen der Textgestaltung und Visualisierung in wissenschaftlichen Texten sowie zu Problemen ihrer Deutung«) kreisen um Fragen, die sich bei der Untersuchung von Darstellungsweisen wissenschaftlicher Texte ergeben, insbesondere bei dem Versuch, die Funktionen dieser Darstellungsweisen zu bestimmen. Danneberg diskutiert diese Fragen am Beispiel verschiedener Formen der optischen Textgestaltung, so vor allem der Gliederung des Textes durch typographische Mittel und der Kombination von Text und Bild; er bezieht sich dabei auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen aus verschiedenen Wissensbereichen, vor allem aus der Anatomie. Ein Grundgedanke, der in mehreren Abschnitten des umfangreichen Beitrags wiederkehrt und an verschiedenen Beispielen veranschaulicht wird, lautet, dass Darstellungsformen häufig unterschiedlichen Funktionen dienen können und dass der einzelnen Darstellung allein meist nicht abzulesen ist, zu welchem Zweck ein Mittel eingesetzt wurde. So können nach Danneberg zwischen Text- und Bildteilen in anatomischen Werken der Frühen Neuzeit unterschiedliche Relationen bestehen, etwa eine Kommentar-Relation, eine Illustrations- oder Veranschaulichungs-Relation oder auch eine emblematische Relation. Welche Beziehung in einem gegebenen Fall intendiert ist, lasse sich in der Regel nicht den bildlichen Darstellungen selbst entnehmen; wo dies nicht im Text erläutert werde, sei es wahrscheinlich in der betreffenden epistemischen Situation als bekannt vorausgesetzt worden. Im Zentrum des Schlussteils des Aufsatzes steht mit den anatomischen Zeichnungen von Andreas Vesalius ein historisches Fallbeispiel. Danneberg diskutiert die Deutungsprobleme, die ein besonders frappierendes Merkmal dieser Zeichnungen aufwirft, nämlich die Tatsache, dass die »mitunter anatomisch heftig zerfledderten Gestalten« (S. 48) sich bewegen und auf vielfältige Weisen posieren. (Leider ist dieser Aufsatz, im Gegensatz zu einigen anderen, nicht mit Abbildungen ausgestattet.) Mehreren der bisher vorgeschlagenen Deutungen – die in diesem Aspekt der Darstellungen bei Vesal etwa eine Anlehnung an die Totentanz-Tradition oder eine Gestaltung tragischer Größe sehen – ist Danneberg zufolge gemeinsam, dass sie die Bewegungen zu einer ›extrinsischen Eigenschaft‹ der Darstellung machen, also zu einer Eigenschaft, die vom Ziel oder Zweck der Darstellungen unabhängig ist. Dagegen entwickelt er eine Interpretation, die die Bewegtheit als eine ›intrinsische Eigenschaft‹ der Darstellungen begreift, sie nämlich auf Vesals Absicht zurückführt, in den Abbildungen neben Strukturen und der Lage von Organen auch ihre Funktionen darzustellen; das implizierte, dass die Körper als beseelte erscheinen mussten. Dannebergs Diskussion des Vesalius-Beispiels bietet zum einen eine informative Analyse von Debatten und Praktiken in der Anatomie des 16. Jahrhunderts und macht zum anderen deutlich, wie komplex die Argumentationen sind bzw. sein können, mit denen interpretatorische Zuschreibungen von Funktionen zu Darstellungsweisen gestützt werden.

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Während Danneberg Fragen der Analyse von Darstellungsweisen ins Zentrum rückt, fokussieren Tom Kindt und Tilmann Köppe in ihrem Aufsatz den Begriff des Wissens sowie die Beziehungen zwischen Literatur und Wissen. Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bilden die Auffassungen vom Verhältnis zwischen Dichtung und wissenschaftlichem Wissen, die in den naturalistischen Programmschriften von Émile Zola (Le Roman expérimental, 1880) und Wilhelm Bölsche (Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, 1887) formuliert wurden. Kindt / Köppe geht es darum, diese Auffassungen zu rekonstruieren und kritisch zu prüfen; in Begrifflichkeit und Vorgehensweise orientiert sich ihre Untersuchung an erkenntnistheoretischen Positionen der analytischen Philosophie und an den intensiven Diskussionen über Literatur und Erkenntnis, die in der jüngeren Philosophie und Literaturtheorie des angloamerikanischen Raums geführt wurden und werden. Bölsche und Zola, so Kindt / Köppe, vertreten unterschiedlich ›starke‹ Versionen der These, dass Literatur zum Erwerb psychologischen Wissens beitragen könne. In der Evaluation dieser Auffassungen stellen Kindt / Köppe fest, dass schon die von Bölsche vertretene ›schwache‹ Erwerbsthese – nach der der Roman eines Autors, der sich am aktuellen Stand der Wissenschaften orientiert hat, »für den Leser zur Quelle von psychologischem Wissen werden« (S. 274) könne – Probleme aufwerfe und dass die Position Zolas – der zufolge der Autor selbst Experimente durchführen und sie im Roman dokumentieren solle, so dass der Roman »im eigentlichen Sinne ein Medium der Gewinnung von Wissen« werde (S. 274) – an der Tatsache scheitere, dass fiktionale literarische Werke zwar Hypothesen enthalten und nahe legen, sie aber nicht begründen können. Romane können aber gleichwohl, wie die Autoren in einer weiterführenden Diskussion darlegen, heuristisch wertvoll sein und den Leser etwas Neues lernen lassen, indem sie ihn dazu veranlassen, aus Meinungen, die er bereits besitzt, neue Schlüsse zu ziehen.

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So schlüssig die (hier verkürzt referierten) Argumentationen von Kindt und Köppe für sich genommen sind, kann man Zweifel haben, ob sie jeweils den Kern der Positionen Bölsches und Zolas treffen. 5 Auch erscheint es fraglich, ob tatsächlich, wie die Verfasser im knappen Schlussteil ihres Beitrags behaupten, viele jüngere literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu ›Literatur und Wissen‹ ebenfalls die von Zola und Bölsche vertretene Annahme voraussetzen, »dass Literatur zum Wissenserwerb beizutragen vermag« (S. 283); diese These müsste zumindest ausführlicher begründet werden, zumal die Verfasser in den dazugehörigen Anmerkungen recht unterschiedliche Forschungsansätze über einen Kamm zu scheren scheinen. Diese Fragen, die sich auf Begriffsverwendungen und Prämissen jüngerer Forschungen zu ›Literatur und Wissen‹ beziehen, sind mittlerweile eingehender in einer von Köppe angestoßenen Debatte in der Zeitschrift für Germanistik diskutiert worden. 6 Mit Blick auf den Beitrag von Kindt / Köppe im hier besprochenen Sammelband bleibt aber trotz der angedeuteten Einwände festzuhalten, dass er in erhellender Weise auf Probleme aufmerksam macht, die mit den (zweifellos weit verbreiteten) Annahmen verbunden sind, literarische Werke könnten Wissen vermitteln oder ein Medium der Gewinnung von Wissen sein.

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Zusammenfassende Einschätzungen
und weiterführende Überlegungen

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Inwiefern werden nun die in der Einleitung formulierten Grundhypothesen des Forschungsprojekts ›Medical writing‹ bestätigt und seine Ansprüche erfüllt? Es bietet sich an, zwischen unterschiedlich ›starken‹ Lesarten dieser Zielsetzungen zu unterscheiden. Wenn eine der Leithypothesen besagen soll, dass Literatur- und Medizingeschichte durch eine ›Koevolution‹ miteinander verbunden sind und dass sich diese Verbindung unter anderem oder vor allem in den Schreibweisen beider Bereiche manifestiere, so wird diese Annahme durch die Beiträge des Bandes nur bedingt konkretisiert und plausibel gemacht, da die behandelten Episoden aus Literatur- und / oder Medizingeschichte oft eng umgrenzt oder von ungewisser Repräsentativität sind und da, wie oben ausgeführt, nicht alle Beiträge tatsächlich Schreibweisen bzw. Darstellungsformen (und zwar möglichst in Literatur und Medizin) ins Zentrum der Analysen rücken. Die allgemeinere These aber, der zufolge Beziehungen zwischen Literatur und Medizin sich nicht allein in Motiven und Themen, sondern auch in Darstellungsformen niederschlagen können und dass es folglich wichtig und fruchtbar ist, in der Untersuchung historischer Konstellationen von Medizin und Literatur auch die Dimension der Schreibweisen zu berücksichtigen – diese These wird durch den Band in erhellender und eindrucksvoller Weise bestätigt.

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Beim Überblick über die Beiträge des Bandes zeigt sich ferner, dass auf dem hier eröffneten Forschungsgebiet nicht nur historische Fallstudien gefragt sind, sondern auch die theoretischen und methodischen Grundlagen noch der weiteren Ausarbeitung bedürfen. Als Desiderate erscheinen hier sowohl eine ausführlichere Entfaltung der Prämissen über die »Wechselbeziehung zwischen Wissensformen und Schreibweisen« (S. 9) als auch eine präzisere Bestimmung des Begriff der Schreibweise selbst, der im vorliegenden Band recht vage oder offen verwendet wird. Die Herausgeber verweisen in der Einleitung zwar beiläufig auf die Einführung dieses Terminus in Klaus W. Hempfers Entwurf einer Gattungstheorie (S. 5, Anm. 19), doch es ist nicht recht zu sehen (und wird von den Herausgebern nicht näher erläutert), wie der Hempfer’sche Begriff der Schreibweise – der tendenziell ›ahistorische‹ Invarianten wie »das Narrative« oder »das Satirische«, die sich in verschiedenen literarischen Gattungen konkretisieren können, bezeichnet 7 – für die Untersuchung von historisch wandelbaren, für einen bestimmten Wissensbereich wie die Medizin charakteristischen Darstellungsformen nutzbar gemacht werden kann. In den Beiträgen, die von dem Ausdruck ›Schreibweisen‹ Gebrauch machen, wird er ohne Definitionen oder Explikationen verwendet, und es werden recht unterschiedliche Dinge als konstitutive Merkmale spezifischer Schreibweisen genannt: der Gebrauch bestimmter Metaphern und Vergleiche, die Verwendung von Sprichwörtern und Erwähnungen biblischer und mythologischer Gestalten, Verfahren der typisierenden oder schematischen Figurenzeichnungen, primär inhaltlich definierte Argumentations- und Erklärungsmuster.

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Diese Bemerkungen sind nicht als Kritik gemeint; angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Forschungsansatz ›Medical writing‹ um ein relativ junges Unternehmen handelt, kann es durchaus sinnvoll sein, in den historischen Fallstudien zunächst mit einem solchen ›offenen‹ Begriff zu arbeiten, mit dem sich viele verschiedene Textmerkmale einfangen lassen. Doch wenn es der Anspruch des von Pethes und Richter vorgestellten Forschungsansatzes ist, in umfassender Weise historische Ausprägungen von Medizin und Literatur vermittels ihrer Schreibweisen in Beziehung zueinander zu setzen, so dürfte dies auch grundsätzliche Reflexionen darüber erforderlich machen, welche Arten von Textmerkmalen eine Schreibweise konstituieren. Einhergehend damit wäre die Frage zu stellen, auf welche Beschreibungs- und Analyseinstrumentarien die Untersuchung von Schreibweisen zurückzugreifen hätte; denn man kann kaum ohne weiteres voraussetzen, dass jene Analysewerkzeuge, mit denen die Literaturwissenschaft besonders vertraut ist (etwa die der Narratologie, Rhetorik und Stilistik), alle jene Textmerkmale in den Blick zu bekommen vermögen, die im Hinblick auf die Verknüpfung von spezifischen medizinischen Wissensformen mit schriftlichen Darstellungsweisen besonders relevant sind. Es dürfte vielmehr angezeigt sein, etwa Begrifflichkeiten und Methoden auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen, die von verschiedenen Bereichen der Linguistik, insbesondere der Textlinguistik und der Fachsprachenforschung, angeboten werden. 8 Abgesehen davon ist daran zu erinnern, dass schriftliche Darstellungsformen der Wissenschaften seit einiger Zeit in verschiedenen Disziplinen (neben der erwähnten Fachsprachenforschung vor allem in der Wissenschaftsgeschichte und -theorie) zum Thema gemacht worden sind; 9 einige Beiträge des vorliegenden Bandes beziehen sich denn auch auf Untersuchungen dieser Art, und man kann vermuten, dass auch künftige Forschungen zum medizinischen Schreiben in Literatur und Wissenschaft von diesen Vorarbeiten zum scientific writing profitieren können.

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Fazit

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Für die Fortsetzung der Erforschung von ›medizinischen Schreibweisen‹ in Literatur und Wissenschaft wäre mithin zu wünschen, dass historische Fallstudien durch Reflexionen über die theoretischen Grundlagen, zentralen Begriffe und Analyseinstrumente dieser Untersuchungen begleitet werden. Dem vorliegenden Band aber kommt das Verdienst zu, mit seiner historisch sehr weit gefächerten Sammlung von Fallbeispielen die Ergiebigkeit eines bei Schreibweisen, Textsorten und Darstellungskonventionen ansetzenden Zugangs zum Verhältnis von Literatur und Medizin demonstriert zu haben. Unabhängig davon, was der Band für die Etablierung des Forschungsunternehmens ›Medical writing‹ leistet, gilt es außerdem festzuhalten, dass die Aufsätze sich in ihrer Mehrzahl durch klare und sorgfältige Argumentationen auf einer breiten Quellenbasis auszeichnen und dass der Band daher – wie auch aufgrund der interdisziplinären Anlage und der daraus resultierenden Perspektivenvielfalt – einen ebenso instruktiven wie anregenden Beitrag zum Forschungsgebiet ›Literatur und Medizin‹ darstellt.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Bettina von Jagow / Florian Steger (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005; Sandra Pott: Literatur und Medizin im 18. Jahrhundert. Von der erneuerten Fortschrittskritik bis zum ›Medical writing‹. In: Gesnerus 63 (2006), H. 1/2, S. 127–143; Florian Steger: Literatur und Medizin. In: KulturPoetik 5 (2005), S. 111–118; Walter Erhart: Medizin – Sozialgeschichte – Literatur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29 (2004), H. 1, S. 118–128; Walter Erhart: Medizingeschichte und Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Forschungsbericht. In: Scientia Poetica 1 (1997), S. 224–267.    zurück
Pethes und Richter beziehen sich hier auf: Erhart, Medizin – Sozialgeschichte – Literatur (wie Anm. 1), hier S. 121. Erhart tritt an der zitierten Stelle allerdings auch dafür ein, Literatur und Medizin in ihren jeweiligen sozialgeschichtlichen Zusammenhängen zu betrachten und auf diese Weise in Beziehung zueinander zu setzen; diese sozialgeschichtliche Dimension spielt in dem von Pethes und Richter entworfenen Ansatz keine prominente Rolle. Ein Plädoyer für die intensivierte Erforschung von Schreibweisen bzw. von Erzählmodellen und Metaphern innerhalb der Medizin findet sich in einem früheren Forschungsüberblick Erharts; vgl. Walter Erhart: Medizingeschichte und Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 1), S. 258 f.    zurück
Pethes will literarische und wissenschaftliche Texte untersuchen, die sich »der Zukunft der Medizin widmen« (S. 328), also zukünftige Entdeckungen, Techniken und Verfahren auf medizinischem Gebiet imaginieren. Die Reihe der diskutierten literarischen Werke reicht von Mary Shelleys Frankenstein bis zu populären Science Fiction-Romanen der Gegenwart; als Beispiel für wissenschaftliche Texte über die Zukunft der Medizin bespricht Pethes lediglich den 1923 gehaltenen Vortrag Daedalus, or, Science and the Future des englischen Biologen J.B.S. Haldane, in dem dieser eine Prognose über wissenschaftliche Entwicklungen innerhalb der folgenden 150 Jahre entwickelte. Es ist nicht ohne weiteres klar, dass es sich hier, wie Pethes sagt, um einen wissenschaftlichen Text handelt; zumindest wäre näher zu erläutern, weshalb der Vortrag so klassifiziert werden kann und welcher Art von wissenschaftlichen Texten er angehört. – Im Übrigen können die zentralen Thesen und Argumentationen des Aufsatzes nicht recht überzeugen. Pethes geht von der Annahme aus, medizinisches Wissen sei prinzipiell ›zukunftsorientiert‹, insofern es der Medizin nie allein um eine Beschreibung des gegenwärtig Tatsächlichen gehe, sondern immer um Veränderungen, die »den Menschen ein sichereres und besseres Leben [...] ermöglichen« sollen (S. 321 f.). Aber die »Zukunft des Wissens« wie die Zukunft überhaupt sei »per se unvorstellbar« (S. 324, vgl. auch S. 327); um sie doch vorstellbar zu machen, müsse das Sprechen über die Zukunft (des Menschen, des Wissens, der Medizin; vgl. S. 323, 324, 329) auf Altes und Vertrautes zurückgreifen. Diese »Verbindung von alt und neu, von Zukunft und Vergangenheit« bezeichnet Pethes als eine »Topik des Unvorstellbaren« (S. 324f.); einer solchen Topik bedienen sich ihm zufolge sowohl Science Fiction-Texte als auch wissenschaftliche Zukunftsprognosen wie der Haldane-Vortrag. – Dazu wäre zunächst anzumerken, dass die Behauptung, die Zukunft der Medizin oder die Zukunft des Wissens sei »per se unvorstellbar«, zumindest sehr unklar ist, wenn man sie nicht geradewegs als falsch bezeichnen will. Die These, dass die Verbindung von Altem und Neuem die Zukunft ›vorstellbar mache‹, dürfte sich letztlich auf die (ans Tautologische grenzende) Feststellung reduzieren lassen, dass diese Verbindung die Differenzen und Kontinuitäten zwischen Vergangenheit und imaginierter Zukunft kenntlich macht. Außerdem bleibt der Begriff einer ›Topik des Unvorstellbaren‹ recht diffus, da Pethes darunter neben Topoi im engeren Sinne und mythologischen Anspielungen auch konventionelle Erzählmuster und sogar die Verwendung des »narrativen Imperfekt[s]« (S. 329) subsumiert.    zurück
Die Autoren beziehen sich hier auf: Anke Bennholdt-Thomsen / Alfredo Guzzoni: Der Irrenhausbesuch. Ein Topos in der Literatur um 1800. In: Aurora 42 (1982), S. 82–110.    zurück
In der Kritik an Bölsche wie an Zola erörtern Kindt / Köppe vor allem, ob der Leser eines Romans das Recht habe, das im Roman Mitgeteilte für Wissen (im Sinne von begründeten, wahren Meinungen) zu halten; in beiden Fällen machen Kindt / Köppe u.a. den Einwand geltend, dass ein solcher Umgang mit Romanen im Widerspruch zu einer der »grundlegenden Regeln der Fiktionalitätsinstitution« stehe, der zufolge »Autoren als fiktional kenntlicher Werke von der Verpflichtung zur Aufrichtigkeit entbunden sind« (S. 275). Aber Bölsche und Zola wollen nicht in erster Linie Leser zu einer bestimmten Rezeptionshaltung, sondern Autoren zu einer bestimmten Produktionsweise auffordern bzw. eine Produktionsweise rechtfertigen; und für diese Produktionsweise ist jeweils kennzeichnend, dass sie diese ›grundlegende Regel der Fiktionalitätsinstitution‹ nicht in Anspruch nimmt, sondern sich (u.a.) zur Aufrichtigkeit verpflichtet. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass beide für eine Modifikation der Regeln der Fiktionalitätsinstitution plädieren. Jedenfalls dürften Bölsche wie Zola eine Rezeptionshaltung, die den Roman als eine Mitteilung von Wissen ansieht, nur gegenüber solchen Werken für angemessen halten, von denen der Leser weiß, dass ihre Autoren sich um Aufrichtigkeit bemüht haben.    zurück
Vgl. Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), S. 398–410. Vgl. außerdem die Antworten von Roland Borgards und Andreas Dittrich auf Köppes Beitrag (ebd., S. 425–528, 631–637), Köppes Replik auf Borgards und Dittrich (ebd., S. 638–646) und die Stellungnahme von Fotis Jannidis zu Köppes ursprünglichem Beitrag, in: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), S. 373–377.    zurück
Vgl. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München: UTB 1973, S. 27, 224. Vgl. auch Klaus W. Hempfer: Art. ›Schreibweise2‹. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band III: P–Z. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York: de Gruyter 2003, S. 391–393.    zurück
So kommt man etwa kaum um die Feststellung herum, dass vermutlich die meisten medizinischen Texte neben narrativen auch nicht-narrative Anteile enthalten, und es dürfte daher sinnvoll sein, auch für diese nicht-narrativen oder ›diskursiven‹ Teile ein möglichst differenziertes Beschreibungs- und Analysevokabular zur Verfügung zu haben – zumal auch literarische Texte, einschließlich erzählender Texte, so gut wie nie ausschließlich aus narrativen Teilen bestehen. Ein Analyseinstrumentarium für solche nicht-narrativen Textstrukturen hat bisher vor allem die Textlinguistik erarbeitet, in der etwa zwischen narrativen, deskriptiven, argumentativen und explikativen (erklärenden) Formen der Themenentfaltung bzw. Vertextungsmustern unterschieden wird. Vgl.: Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 4., durchges. und erg. Aufl. Berlin: Schmidt Erich Verlag 1997; zu dem Begriff der thematischen Entfaltung vgl. ebd., S. 60–63; zu den Grundformen thematischer Entfaltung (deskriptiv, narrativ, explikativ, argumentativ) vgl. ebd., S. 63–80. Im HSK-Band zur Textlinguistik wird statt der Kategorie der thematischen Entfaltungsform die des »Vertextungsmusters« gebraucht und zwischen den Vertextungsmustern der Narration, Explikation und Argumentation differenziert; vgl.: Klaus Brinker / Gerd Antos / Wolfgang Heinemann / Sven F. Sager (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Linguistics of Text and Conversation. 1. Halbband. Berlin, New York: de Gruyter 2000 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 16.1). – Als eine Studie, die Begriffe und Analyseverfahren der Textlinguistik und Pragmatik für die Untersuchung von Texten im ›Grenzbereich‹ zwischen fiktionaler und faktualer Literatur fruchtbar macht, sei genannt: Susanne Niefanger: Schreibstrategien in Moralischen Wochenschriften. Formalstilistische, pragmatische und rhetorische Untersuchungen von Gottscheds ›Vernünfftigen Tadlerinnen‹. Tübingen: Niemeyer 1997 (Medien in Forschung + Unterricht, Ser. A, Bd. 45).    zurück
Vgl. etwa: Lutz Danneberg / Jürg Niederhauser (Hg.): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1998 (Forum für Fachsprachen-Forschung, Bd. 39); Timothy Lenoir (Hg.): Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality of Communication. Stanford: Stanford University Press 1998; Peter Dear (Hg.): The Literary Structure of Scientific Argument. Historical Studies. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1991; Theo Bungarten (Hg.): Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. München: Wilhelm Fink 1981.   zurück