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Von Anglophilie und Anglomanie

Die deutsche Rezeption englischer Literatur im Jahrhundert der Aufklärung

  • Jennifer Willenberg: Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts. (Archiv für Geschichte des Buchwesens 6) München: K. G. Saur 2008. 380 S. Gebunden. EUR (D) 128,00.
    ISBN: 978-3-598-24905-1.
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Der englisch-deutsche Transfer gehört, seiner Bedeutung gemäß, zu den relativ gut erforschten Bereichen des kulturellen ›Außenhandels‹ des deutschsprachigen Raums. Von den Forscherinnen und Forschern, die maßgebliche Vorarbeiten für das 18. Jahrhundert geliefert haben, seien nur Bernhard Fabian, Michael Maurer, Lawrence Marsden Price, Marie-Luise Spieckermann und Jürgen von Stackelberg genannt. Umso mehr ist eine zusammenfassende Darstellung willkommen.

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Jennifer Willenberg setzt aber auch eigene Akzente: Der Terminus ›Schrifttum‹ im Titel weist auf den verwendeten extensiven Literaturbegriff hin, der insbesondere auch wissenschaftliche Werke einschließt. Die explizite Konzentration auf die ›Distribution‹ rückt die im Vergleich etwa zur kritischen Rezeption noch weniger erforschte Rolle des Buchhandels und der Periodika für die materielle Verbreitung von englischen Texten in den Mittelpunkt. Zudem hat die Verfasserin verschiedene Quellen wie die Leipziger Bücherprotokolle, in denen die seit 1773 vergebenen Privilegien für Übersetzungen verzeichnet sind, und das Archiv der Universität Göttingen, dem wichtigsten Einfallstor englischer Kultur im 18. Jahrhundert, mehr oder weniger systematisch auf den ›Import‹ englischer Literatur hin ausgewertet. Schließlich fehlt auch noch eine zusammenhängende Geschichte der Übersetzung aus dem Englischen, für die das vorliegende Buch zumindest wichtige Grundlagen bereitstellt.

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Die Entdeckung Englands ab ca. 1740

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Das Interesse an England konzentrierte sich zunächst auf die Wissenschaften und die Politik (»Freiheit statt Absolutismus«), vermittelt wurden die einschlägigen Informationen und Urteile häufig über französische Autoren wie Voltaire und Montesquieu. Das deutsche nationale Selbstbewusstsein wurde durch die Hinweise auf die Vorreiterrolle der ›verwandten‹ englischen Nation gestärkt. Es verwundert wenig, dass die Zentren der Auseinandersetzung mit englischen Ideen im Norden Deutschlands (Hamburg, Göttingen) lagen, daneben noch Zürich erwähnenswert ist, in Österreich aber noch 1778 Englischunterricht an Universitäten explizit verboten wurde, um liberale Prinzipien fernzuhalten (S.  28). Das Interesse an englischen Verhältnissen erstreckte sich ferner auf weniger kontroverse Gegenstände wie die Mode, Speisen und Getränke sowie den neuen Landschaftsgarten.

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Eine zentrale Rolle bei dem Wissenstransfer kam den Reiseberichten zu, die im letzten Drittel des Jahrhunderts sehr beliebt waren und entsprechende Produktionszahlen erreichten, in den 1770er Jahren erschienen pro Jahr durchschnittlich zwei bis drei Reiseberichte über England. Von einem Vehikel nüchterner statistischer Informationen entwickelten sich die Reiseberichte zu einer literarischen Form, die verstärkt subjektive Eindrücke vermittelte. Entsprechend den Erwartungen des Publikums standen neben den Wissenschaften Theater und Literatur im Vordergrund.

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Die einleitenden Kapitel des Buches enthalten auch einen Abschnitt über die deutschen Englandbilder; Willenberg erinnert an Klimatheorie, das Klischee vom Volk der Freiheit, das durch den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg erschüttert wurde, in dem deutsche Söldner auf der Seite Großbritanniens ihr Leben lassen mussten. Die Einschränkung der Grundrechte nach 1789 verstärkte die englandkritische Haltung, selbst ein profilierter früherer Vertreter der Anglophilie wie Archenholtz schlug nun sehr kritische Töne an. England wurde weitgehend zu einem von Konservativen gewürdigten Gegenentwurf zum revolutionären Frankreich.

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Zusammen mit der englischen Kultur wurde auch die englische Sprache zwischen 1700 und 1800 als die neue Fremdsprache in Deutschland entdeckt. Die Übersetzer und Vermittler lernten die Sprache oft während längerer Aufenthalte vor Ort, das Selbststudium mit Hilfe von Lehrbüchern und Lektüre blieb noch lange die vorherrschende Art der Aneignung. Englisch war vor allem Bildungssprache, es sollte in einer Zeit, in der noch wenig übersetzt wurde, die Lektüre der Originale ermöglichen. Der Spracherwerb blieb oft sehr mangelhaft, wie nicht zuletzt die schlechte Qualität vieler Übersetzungen beweist. Auch die Versuche der Konversation mit Hilfe der aus Büchern erlernten Fremdsprache waren meist zum Scheitern verurteilt. Immerhin wurde nach und nach ein Markt für Bücher in englischer Sprache in Nachdrucken geschaffen.

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Die Distribution von Texten
durch den Buchhandel und Periodika

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Englische Bücher waren in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ausgesprochene Mangelware. Die Strukturen des internationalen Bücherverkehrs wurden zwar stark verbessert, noch am Ende des Jahrhunderts waren nicht ›gangbare‹ Titel aber kaum erhältlich. Dem privaten Buchleihen (und den Leihbibliotheken, auf die Willenberg allerdings mit keiner Silbe hinweist) kam daher höchste Bedeutung zu.

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Englische Titel wurden zunächst über Holland oder Paris besorgt, später direkt aus London. Häufig wurden die Bücher privat importiert, d.h. von Reisen mitgebracht. Den deutschen Buchhändlern fehlte es »fast durchgängig an Credit, und an Correspondentz« mit den ausländischen Buchhändlern, wie es um die Jahrhundertmitte in einem Memorandum heißt (S. 102). Die englischen Buchhändler sahen (noch) keinen Grund, die Leipziger Buchmesse zu besuchen, es fehlte auf beiden Seiten an Sprachkenntnissen und anderen Grundlagen des internationalen Handels. Nach Auskunft der Messkataloge setzte ein nennenswerter Import um 1755 ein, er verstärkte sich ab 1770, als auch der Nachdruck englischer Originalausgaben in Schwung kam. Führend in diesem Bereich waren Richter (Altenburg), Thurneysen (Basel) und Walther (Dresden), auch die Wiener Trattner, Sammer und Schrämbl visierten mit ihren Nachdrucken unter anderem den deutschen Markt an.

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Sodann werden die wichtigsten Zeitschriften ausführlich als Vermittlungsorgane vorgestellt, wobei sowohl die Kritik wie der Abdruck von Texten in den Blick genommen werden. Anfänglich waren französische Zeitschriften wie das Journal des Scavants und der Mercure de France als Informationsquelle auch über englische Neuerscheinungen wichtig, dann Blätter wie die Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, die Frankfurter Gelehrten Anzeigen, die Bibliothek der Schönen Wissenschaften, der Teutsche Merkur und andere, eher spezialisierte Zeitschriften wie die Brittische Bibliothek, das Brittische Museum oder die Annalen der brittischen Literatur.

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Die Übersetzung englischer Literatur

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Dieses Kapitel umfasst beinahe die Hälfte des Buches, was nicht überrascht, ist doch die Übersetzungsgeschichte ein äußerst weitläufiger Gegenstand. Der übersetzerische Transfer verlief anfänglich häufig über das Französische und in zweiter Linie, im Fall von wissenschaftlichen Werken, über das Lateinische. Die Übersetzungen über Drittsprachen (»aus zweiter Hand«) verbreiteten die englische Literatur dadurch häufig in Form der von den Vorlagen meist erheblich abweichenden französischen (»schönen untreuen«) Übersetzungen. Dazu kam der Usus des ›eklektischen‹ Übersetzens, bei dem verschiedene Vorlagen (englische, französische, auch deutsche Vorgänger) als Basis für die Erstellung einer deutschen Version dienten.

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Zu welchen Verwerfungen und Verzweigungen diese Praktiken führen konnten, zeigt das Beispiel von Fieldings Joseph Andrews. 1743 war mit Angabe des fingierten Druckortes London eine französische Übersetzung erschienen, 1745 folgte die erste deutsche Übersetzung, die sich eng an die französische Fassung hielt und sogar Wort für Wort wiedergegebene französische Redewendungen enthielt. 1761 und 1765 erschienen neue bearbeitete Versionen der ersten Übersetzung, erst 1775 konnte das deutsche Publikum eine direkt aus dem Englischen angefertigte Übersetzung lesen (S. 171). Einen Wendepunkt hatte allerdings schon die 1744 direkt aus dem Englischen gearbeitete Übersetzung von Popes Rape of the Lock gebildet. Frau Gottsched hatte das Werk zunächst über eine französische Zwischenstation übertragen, musste aber, nachdem sie mit Verspätung das englische Original in die Hände bekommen hatte, feststellen, dass ihre frühere Übersetzung aus dem Französischen völlig wertlos war, und berichtete im Vorwort der Neuübersetzung ausführlich über dieses Schlüsselerlebnis.

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Die Auswertung der Messkataloge bestätigt das Einsetzen des Interesses an England durch statistische Angaben zur Zunahme der Übersetzungstätigkeit um 1740, den bis 1790 anhaltenden Aufwärtstrend und den Höhepunkt um 1770. Es folgt ein Überblick über die wichtigsten Übersetzungen in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und im Bereich der Belletristik sowie über alle wichtigen Verleger von Übersetzungen und ihre Produktion, also über die Leipziger Weygand, Dyck, Weidmann und Reich und all die anderen Verlage in Göttingen, Braunschweig, Hannover und Berlin, bis hin nach Süddeutschland und Zürich.

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Die zunehmende Konkurrenz auf dem Gebiet der Übersetzung führte zu Versuchen einer Regulierung durch das so genannte Reich’sche Mandat von 1773, das es Verlegern ermöglichte, die Übersetzung eines bestimmten Werkes in Leipzig protokollieren zu lassen und sich dadurch das alleinige Recht auf die Herausgabe einer Übersetzung zu sichern. Wegen der begrenzten Wirkung des Mandats außerhalb Sachsens und den diversen Bedingungen, an die das Übersetzungsmonopol gebunden war, kam es zu zahlreichen Streitfällen und Parallelausgaben, z.B. von Gibbons berühmter History of the Decline and Fall of the Roman Empire, ganz zu schweigen von den kaum zu unterbindenden Nachdrucken.

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Auch die wichtigsten Übersetzer werden in Porträts vorgestellt. Die Entwicklung verlief von vorwiegend gelehrten Übersetzern, die zwar in ihrem Fachbereich ›zuhause‹ waren, aber, was das Übersetzen betrifft, in den viel zitierten »Nebenstunden« als Amateure agierten, hin zu professionellen Übersetzern. Für den ersten Typus können Brockes, Garve oder Baumgarten stehen, für den zweiten C. F. Michaelis und W. C. S. Mylius. Als ausgesprochene ›Übersetzungsentrepreneure‹, die einen Stab von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen beschäftigten, etablierten sich C. F. Weiße, J. F. Schiller und G. Forster. Eigenständige Übersetzerinnen wie Viktoria Gottsched oder Meta Liebeskind sind noch selten anzutreffen; erst gegen Ende des Jahrhunderts treten sie häufiger auf, etwa in Gestalt von Therese Huber, Benedikte Naubert, Sophie Mereau-Brentano oder Johanna Schopenhauer, die es schafften, sich als Berufsschriftstellerinnen durchzusetzen.

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Die Arbeitsbedingungen waren unerquicklich, der Zeitdruck der Messetermine wirkte sich negativ auf die Qualität der Texte aus, im Vergleich zu Originalautoren genossen Übersetzer wenig literarisches Prestige. Die Honorare hingegen waren attraktiv, so dass sich auch im Bereich der Vergabe von Übersetzungen die Konkurrenz verschärfte. Verzichtbar erscheint in diesem Zusammenhang der folgende kurze Überblick über die Übersetzungstheorie von Gottsched bis Schleiermacher. Wichtig sind hingegen die Einblicke in die Übersetzungspraxis, die die Angaben in den Übersetzervorreden zulassen. Es herrschte ein funktionaler, auf die Wiedergabe von Inhalten bezogener Zugang vor, erst im Lauf der Zeit bildete sich ein Bewusstsein von der Sprachlichkeit und der Bedeutung der Form von Übersetzungen heraus. Bis zur Mitte des Jahrhunderts war die Wort-für-Wort-Übersetzung die Regel, erst danach rückte der Stil in der Zielsprache zusammen mit dem angeblichen Nationalgeschmack in den Blickpunkt. Die Differenzierung und Verbreiterung des Publikums, der Umstand, dass man nicht mehr nur »für den Kenner englischer Sitten, Thorheiten, Eigenheiten« (S. 288) übersetzte, machte die Ausklammerung allzu fremdartiger Elemente, erklärende Kommentare und andere Hilfestellungen nötig. Andere Eingriffe betrafen die Reinigung von Anstößigem, die Distanzierung von politisch radikalen Meinungen, z.B. über die Französische Revolution, diente der persönlichen Absicherung der Übersetzer.

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Ein überaus nützliches und detailreiches Handbuch

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Das Buch kann in vielen Passagen enzyklopädischen Anspruch erheben, etwa im Bereich der an der Übersetzungsproduktion beteiligten Verlage, der wichtigsten Übersetzer und Übersetzerinnen sowie der für die Produktion und Distribution maßgeblichen Faktoren. Es zeichnet damit umfassend »eine der großen Erfolgsgeschichten des europäischen Kulturtransfers« (S. 329, Zitat von Marie-Luise Spieckermann) nach. Äußerst nützlich ist nicht zuletzt das 45 Seiten umfassende Literaturverzeichnis. Wenn man auch da und dort Lücken konstatieren kann – die Leihbibliotheken als zentrale Distributionsinstanz bleiben z.B. ausgeklammert, auch die Entwicklung der Bücherpreise als wesentlicher Indikator der sozialen Reichweite von Literatur hätte mehr Beachtung verdient – eignet sich Willenbergs Band vorzüglich als Referenzwerk, das den state of the art der Forschung zu den englisch-deutschen literarischen Beziehungen repräsentiert.