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Anthropologische Gottesbeweise

Christoph Schwöbel fragt nach Thomas Manns Religion

  • Christoph Schwöbel: Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2008. XVI, 288 S. Fadenbindung. EUR (D) 24,00.
    ISBN: 978-3-16-148743-9.
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Im Zuge der Debatten um das Wissen in der Literatur wird die Scheu, theologische oder gar religiöse Dimensionen in literarischen Texten zu entdecken, immer geringer. Trotzdem ist es bezeichnend, dass die erste umfassende und systematische Studie zur Religion in den Romanen Thomas Manns von einem Theologen vorgelegt wird. In seinem Vorwort zu Christoph Schwöbels ertragreichem Buch stellt denn auch der Präsident der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft, Hans Wißkirchen, fest, wie nötig die interdisziplinäre Forschung gerade bei einem Autor wie Thomas Mann ist, der einerseits ein reiches theologisches Wissen für sein Werk fruchtbar machte und andererseits selbst »religiös musikalisch« (Max Weber) war.

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Man muss nicht befürchten, einen schwärmerischen Traktat zu lesen, der Thomas Mann für eine Konfession oder eine enge kirchliche Bindung vereinnahmen möchte. Im Gegenteil: Sowohl Wißkirchen als auch Schwöbel selbst stellen heraus, wie wenig gläubig Thomas Mann im traditionellen Sinne war (S. XI und 3). Gebet und Kirchgang gehörten nicht zu seinen Gepflogenheiten: »Zum Bekenntnis herausgefordert sah sich Thomas Mann nur im Protest, wenn etwa die ›Überwindung des Christentums‹ als Forderung völkischer Ideologie erhoben wurde«, wie Christoph Schwöbel pointiert (S. 3).

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Religiöse und theologische Redeweise

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So stehen denn auch die »großen Romane« Thomas Manns im Mittelpunkt des Buches, also Buddenbrooks, Der Zauberberg, Joseph und seine Brüder, Doktor Faustus und Der Erwählte. Die Kapitel sind als Aufsätze an verschiedenen Stellen zwar bereits publiziert worden, doch erweist sich ihr notwendiger Zusammenhang in der Sammlung. Denn Schwöbel verfolgt stringent seine These, die religiöse oder theologische Rede habe eine anthropologische Funktion, und die einzelnen Kapitel fügen sich harmonisch ineinander.

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Schwöbel macht in Thomas Manns Werk den Versuch aus, »im Bedingten, dem Alltäglichen, die Dimension der Unbedingtheit aufzuspüren, und dabei sowohl die Absolutsetzung des Bedingten als auch das Erscheinen des Unbedingten im Bedingten beschreiben zu können« (S. 273). Dazu bedient sich Mann des religiösen Zeichensystems, wie Schwöbel feststellt. Zunächst nur als ironisches Zitat, wird es im Laufe der Entwicklung Manns immer stärker, bis es im Erwählten »das alle anderen Zeichensysteme integrierende und relativierende Zeichensystem wird« (S. 273). Schwöbel geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er deutlich herausstreicht: »Es läßt sich [...] eine gewisse Entwicklungslogik durch die wichtigsten Werke Thomas Manns hindurch verfolgen, die in ihren abschließenden Stadien zentralen Fragen der reformatorischen Theologie sehr nahe kommt.« (S. 15)

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Gestützt auf ein breites theologisches oder besser: religionswissenschaftliches Wissen, wie es zumal in den Josephs-Romanen deutlich wird, setzt sich Thomas Mann mit »Begrifflichkeiten der christlichen Glaubenslehre und Religionsphilosophie« auseinander (S. 3). Leiten lässt sich Mann dabei von der religiösen Frage, die nach seiner eigenen Definition immer die Frage des Menschen nach sich selbst und seiner Stellung im Kosmos bedeutet. 1 Daran schließt Schwöbel mit seinen Deutungen an. Er verweist auf den Theologen Paul Tillich und dessen berühmte Definition: »Der Gegenstand der Theologie ist das, was uns unbedingt angeht.« (S. 255) In diesem Sinne verhandelt er die Romane Thomas Manns als Erprobungen besonderer Lebenssituationen, die die Chance bieten, »unser Leben, unsere Wirklichkeitsdeutungen, unsere Handlungsmöglichkeiten und Handlungsziele in einem Möglichkeitshorizont von stellvertretendem Erleben zu reflektieren« (S. 5). Schwöbels hermeneutischer Schluss von der dargestellten auf die eigene Welt und ihre religiöse Befindlichkeit ist insoweit also durch Mann gedeckt, als dieser jede Auseinandersetzung mit dem Menschen in den Rang einer religiösen Frage erhebt. Indem Thomas Mann verschiedene Formen der Lebensgestaltung und verschiedene Strategien der Lebensbewältigung vorführt, treibt er bereits Theologie, wie Schwöbel pointiert.

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Kulturprotestantismus und
Verfall bürgerlicher Religion

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Doch muss sich Schwöbel nicht allein auf diesen hermeneutischen Schluss verlassen. Die Romane Thomas Manns thematisieren in vielfacher Weise religiöse oder theologische Fragen, wie die Einzelinterpretationen belegen. Den Anfang macht Schwöbel, der strikt werkchronologisch verfährt, um seine Entwicklungslinie zu belegen, mit Buddenbrooks. Hier führt Mann vor, wie sehr der Protestantismus im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts an Orientierungskraft verliert (S. 16). Die Religion bietet den Buddenbrooks in zunehmendem Maße keine Hilfe mehr bei der Lebensbewältigung. Am Ende von Thomas Buddenbrooks Suche nach den ewigen Wahrheiten steht seine Erkenntnis, metaphysischer Wahrheiten nicht habhaft werden zu können. Die Religion, die ihm seit Kindertagen vertraut ist, bietet ihm so wenig Stütze wie Schopenhauers Philosophie (S. 21). Schwöbel zeichnet den Verfall religiöser Verbindlichkeit in der Generationenfolge der Buddenbrooks überzeugend nach. Steht am Anfang ein aufgeklärter Protestantismus, der sich zum schwärmerischen Pietismus steigert, verflüchtigt sich in den Folgegenerationen die Religion – zunächst in die Philosophie bei Thomas, dann in die Kunstreligion bei Hanno. Das Unbedingte rückt immer ferner, die Säkularisation schreitet voran. Schwöbel pointiert diesen von Mann inszenierten Prozess als eine »Anti-Providenzlehre«: »Nicht die Logik der Vorsehung Gottes, sondern die Logik des Verfalls steht im Vordergrund.« (S. 66) Die Buddenbrooks verlieren ihre Religion, weil sie ihnen angesichts ihrer Orientierungslosigkeit nicht weiterhilft. Ihr Scheitern – Thomas’ im Geschäft, Hannos im Leben – wird von der Religion nicht aufgefangen, sie bleiben allein.

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Weltanschauliche Zerrissenheit

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Dies ist auch Hans Castorps Situation auf dem Zauberberg. Auch er weiß nichts mit seinem Leben anzufangen. Doch anders als die Buddenbrooks ist er vielen verschiedenen Deutungsangeboten ausgesetzt, zwischen denen er sich entscheiden muss, um sein Leben zu bewältigen. Schwöbel kennzeichnet sein Problem als ein »Wählen-Müssen einer Weltsicht angesichts eines Überangebots auf dem Markt der Wirklichkeitsdeutungen« (S. 95). Castorps Mittelstellung zwischen seinen beiden Lehrern Settembrini und Naphta ist für Schwöbel das theologische Zentrum des Romans. In Settembrini und Naphta ringen »Unbedingtheitsansprüche« miteinander:

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Auf der einen Seite die Unbedingtheit der aufklärerischen Vernunft, auf der anderen die Auffassung, daß Vernunft immer noch anderen Bedingtheiten untersteht, Gott, dem Gottesstaat, jedenfalls einer ihr nicht verfügbaren Transzendenz, die stets die für Settembrini evidenten Wertordnungen der Aufklärung relativiert. (S. 106)
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Dies mag in der Einzelbeobachtung nicht neu sein, doch Schwöbels konsequente Rückbindung an seinen theologischen Ausgang eröffnet eine neue Perspektive auf den Roman. Der Zauberberg verhandelt dasselbe Problem wie Buddenbrooks: Wie soll man leben inmitten der »transzendentalen Obdachlosigkeit« (Georg Lukacs) der Moderne? Doch anders als im Erstlingsroman gewinnt die Frage im Zauberberg an grundsätzlicherer Bedeutung. In Castorps Ringen um die Mitte zwischen Aufklärung und Religiosität spiegelt Mann die Notwendigkeit, Gesellschaft auf beiden Bereichen aufzubauen. An dieser Stelle nimmt sich Schwöbel zurück. Zwar hebt er hervor, dass Manns Gesellschaftsbild sich weder an einem aufgeklärt-westeuropäischen noch an einem östlich-mystischen Modell orientiert und auf Vernunft und Liebe basiert, doch expliziert er Manns Modell nicht deutlich. Denn im Zuge seiner eigenen Überlegungen legt Schwöbel nahe, dass es Mann um die Vermengung der Aufklärung mit der Religiosität geht. Religiosität wird im Zauberberg wie in den zugehörigen Reden der Weimarer Republik als notwendige Verbindlichkeit herausgestellt, ohne die kein Gemeinwesen existieren kann. Es geht Mann dabei keineswegs um eine konfessionell genau greifbare Religion, sondern um etwas, das über den Menschen hinausgeht und in dieser Idealität Menschen auf etwas verpflichtet, das sie nicht in sich selbst finden können.

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Das Gottesbild ergibt sich
aus dem Menschenbild

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In Schwöbels Darstellung der gewissermaßen theologischen Entwicklung Thomas Manns ist es dann nur folgerichtig, wenn er im Joseph Theologie und Anthropologie zu wechselseitigen Bedingungen macht. In Umkehrung der Feuerbachschen These, im Gottesbild das Menschenbild zu erkennen, verfolgt Schwöbel, wie Thomas Mann vom Menschenbild ausgehend Gott entwirft. Abraham zieht los, um den höchsten der Götter zu finden, dem allein er dienen will. Damit formuliert er bereits einen stolzen Anspruch an sich selbst: Der Mensch ist als Wesen so beschaffen, eben nur dem höchsten Gott zu dienen. Abraham findet Gott als einen Gott im Werden, dessen Reich in der Zukunft liegt und erst noch entdeckt werden muss (S. 153). Die Synthese von Vernunft und Religion, die Mann im Zauberberg fordert, scheint im Joseph eingelöst in der Gottesvernunft, die auf Gottes universale Herrschaft zielt. Diese Herrschaft kann jedoch nur beginnen, wenn der Mensch sich freiwillig Gott unterstellt. Abrahams Suche wird so zum Sinnbild einer aufgeklärten Religion, die den Wert des Menschen herausstreicht.

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Bundesbruch und Gnade

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Abrahams Entdeckung führt zum Bund mit Gott. Im Doktor Faustus führt Thomas Mann nach Schwöbels Lesart den Bundesbruch vor – und die überwältigende Gnade Gottes. Dabei greift Schwöbel intensiv zurück auf Tillichs Theologie, die das Dämonische einbezieht. In Leverkühns Abschiedsrede sieht Schwöbel »die Radikalität und die Exklusivität des reformatorischen ›sola gratia‹ erreicht« (S. 249). Und an dieser Stelle überzeugt seine These von Manns Annäherung an zentrale Fragen der reformatorischen Theologie nicht völlig. Denn im Doktor Faustus führt Mann die Mischung verschiedener theologischer und religiöser Elemente fort, die sein Joseph bereits in Ägypten zu lernen hatte. Zu Leverkühns contritio tritt eine Spielart der Werkgerechtigkeit hinzu: Seine Kompositionen artikulieren das Leid der Menschheit in einer schlimmen, gottfernen Zeit. Ist Leverkühn als Mensch allein auf die göttliche Gnade verwiesen, hat er als Künstler jedoch etwas geschaffen, das ihm angerechnet werden kann.

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Eklektizistische Religiosität

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In einem Brief an Reinhold Schneider vom 18. Dezember 1953 schreibt Thomas Mann: »Um Ihre katholische Basis und Bindung sind Sie zu beneiden. Mir fehlt diese Geborgenheit, denn mein Protestantismus ist bloße Kultur, nicht Religion«. 2 Die von Schwöbel für Buddenbrooks beschriebenen Zweifel an der Orientierungskraft des Protestantismus bestehen weiterhin. Thomas Manns Religiosität – was als Begriff vielleicht eher zutrifft als Religion – zielt darauf ab, Ordnungswissen zu vermitteln. Insofern ist Christoph Schwöbel zuzustimmen, wenn er in den Strategien der Lebensbewältigung Manns eine Form der Religiosität erkennt. Doch löst sich Thomas Mann stark von konfessionellen Vorgaben. Innerhalb eines von Humanität und Aufklärung bestimmten Rahmens experimentiert er mit Versatzstücken verschiedener Überlieferungen, er formt eine eklektizistische Religiosität. Darin erweist sich sein Werk als unbedingt modern. Christoph Schwöbels Verengung auf protestantische Theologeme verkennt, wie differenziert sich Thomas Mann mit Theologie und Religion auseinandergesetzt hat. Dieses Feld ist noch lange nicht ausgemessen. Schwöbels Buch stellt aber einen ersten wichtigen Schritt dar.

 
 

Anmerkungen

Thomas Mann: Fragment über das Religiöse. In: T.M.: Essays. Band 3: Ein Appell an die Vernunft. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 296–298, hier S. 297.   zurück
Zitiert nach: Thomas Mann: Tagebücher 1953–1955. Hg. von Inge Jens. Frankfurt/M.: Fischer 1995, S. 542.   zurück