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Von vier Regisseuren und Marseille

  • Daniel Winkler: Transit Marseille. Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole. Bielefeld: transcript 2007. 328 S. Paperback. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-89942-699-1.
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Das Urbane und der Film

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Daniel Winkler unternimmt mit seiner Monografie Transit Marseille den Versuch, Marseille in dreierlei Funktion mit dem französischen Film in Verbindung zu bringen: Marseille als Handlungsort in Filmen, als Produktionsort für Filme und als Herkunftsort der Filmschaffenden. Um diese Trias dem Leser näher zu bringen, wählt der Verfasser vier Regisseure aus, die eng mit der Mittelmeermetropole verbunden sind: Marcel Pagnol, Paul Carpita, René Allio und Robert Guédiguian. Winkler konstruiert anhand ihrer Filme die unterschiedlichen Facetten der Repräsentation Marseilles im Allgemeinen und verschiedenster Lokalitäten, Sehenswürdigkeiten und Stadtviertel im Besonderen. Er geht dabei chronologisch vor. Hier hebt er vor allem das durch Filme geprägte Image der Stadt hervor und wie dieses im Laufe der Filmgeschichte selbstreflexiv aufgenommen und entweder perpetuiert oder unterminiert wird:

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Ihre Filme vermitteln ein unterschiedliches urbanes Imaginäres und werden im (inter)nationalen Kontext zum Teil fast überhaupt nicht, zum Teil sehr stark rezipiert. Sie decken zudem aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen, aber auch wegen ihrer unterschiedlichen Filmästhetik und -praxis ein recht breites Spektrum der Tonfilm- und Kulturgeschichte Marseilles ab […]. (S. 54)
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Aufbau und theoretischer Hintergrund

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Das Buch ist in neun Kapitel unterteilt, wobei es sich neben einer Einleitung, einem Ausblick sowie Vorwort und Danksagung um fünf Hauptkapitel handelt. Das erste Kapitel führt Marseille als Stadt in der Provence ein und nimmt dabei Bezug zu Marcel Pagnol. Das zweite Kapitel setzt sich mit dem Hafen als politisch aufgeladenem Ort des Kommens und Gehens auseinander. Der Alltag Marseilles und die populäre Wahrnehmung der Stadt in den Filmen von René Allio werden im dritten Kapitel thematisiert. Das kürzere, vierte Zwischenkapitel geht auf die sozialen und politischen Veränderungen der Stadt im Film ein, und das fünfte Kapitel wendet sich Robert Guédiguian und seiner Betrachtung von Ausnahmesituationen und Randerscheinungen zu. Winkler betrachtet, abgesehen von Marcel Pagnol, weitgehend unbekannte Regisseure, die aber in ihrer Auswahl ein weites Spektrum des Filmschaffens in Frankreich abdecken.

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In der Einleitung verweist der Autor auf die weitreichende Geschichte Marseilles als Handlungsort von Spielfilmen. Hier nennt er einige prominente Beispiele wie William Friedkins The French Connection, John Frankenheimers 1 French Connection II, Jean Renoirs La Marseillaise, die französischen Kriminalfilme der 1960er Jahre mit Alain Delon und Jean-Paul Belmondo oder die Jean-Claude Izzo-Verfilmungen der 1990er Jahre; er geht bedauerlicherweise weder an dieser Stelle noch später näher auf sie ein. Dass Marseille als prototypischer Handlungsort für Kriminalfilme fungiert, wird somit leider nicht näher erläutert. Dieses Genre prägt aber laut Winkler dauerhaft das Image der Stadt als ville noire.

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Winklers filmtheoretischer Hintergrund besteht hauptsächlich aus Hamid Naficys Konzept des accented cinema. Winkler überträgt den besonderen Blick des migrantischen oder exilierten Regisseurs auf den von Stadt und Stadtkultur geprägten Filmschaffenden eines »regionalen« Kinos, sowohl lokal verankert als auch stofflich regional orientiert.

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Marcel Pagnols früher Tonfilm

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Als prägend für den Topos des idyllischen Marseille der Zwischenkriegszeit werden die frühen Tonfilme Marcel Pagnols genannt. Aus einer nostalgischen Pariser Perspektive inszeniere Pagnol Filme, die mit einem folkloristischen Touch ein pittoreskes und populärkulturelles Marseille zeigen. Zwar würden in drei in Marseille angesiedelten Filmen – der Trilogie Marius (1929), Fanny (1931) und César (1936) – die starken Gegensätze des zentralistisch organisierten Frankreich zwischen Hauptstadt und Peripherie konstituiert, so sticht aber für Winkler eher das Primat der regionalen Tradition über technischen Fortschritt, die antimoderne Lebensführung und Moral als lebensbestimmende Elemente hervor: »Das Moment des Kosmopolitischen wird auf einen exotischen Dekor reduziert und kann keinen Subjektstatus erreichen« (S. 66). Zudem stelle Pagnol das kosmopolitische Marseille der Seefahrer und Fischer dem provencalischen der zugewanderten Geschäftsleute, Handwerker und Bauern gegenüber, wobei Pagnol gesellschaftliche Modernisierungsprozesse weitgehend ausblende. Pagnol verharre im fremden, folkloristischen Blick von außen, was sich auch in der Sprache der Figuren niederschlage. Die Darstellung verkomme zu einem schablonenhafte dolce far niente. Dieses Imaginäre des idyllischen Südens, des Exotismus auch im innerfranzösischen Kontext, wird in den Operettenfilmen der 1930er Jahre fortgeschrieben, allerdings – so Winkler – werde der Süden auch als in der Entwicklung zurückgeblieben gezeigt und die eindeutige kulturelle Überlegenheit von Paris manifestiert.

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Die politischen Filme Paul Carpitas

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Paul Carpita gilt in der vorliegende Studie als der Ahnvater des alternativen Films in Marseille. Der Regisseur, politisch linksstehend, thematisiert mit seinem Film Le Rendez-vous des quais (1953/55) den kommunistischen Protest gegen den Indochinakrieg und den daran anschließenden Streik der Hafenarbeiter. Aufgrund seines kritischen Inhalts wird der Film nach wenigen Aufführungen der Zensur unterworfen und erst 1990 wieder gezeigt. Carpita imaginiert im Film ein positives Ende des Streiks. Winkler schildert eindrücklich seine schwierige Entstehungs- und späte Wirkungsgeschichte. Der Film hebt sich durch seine Entmythologisierung Marseilles mit einer realistischen, oft dokumentarischen Bildästhetik ab. Marseille werde an anderen Orten manifest, es wird zu einer Stadt des Klassenkampfs, einer ville rebelle.

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Carpita zeigt die Stadt weitgehend in Kontrast zur Tradition des film méridional als eine Industriestadt der Jetztzeit. [...] Die kinematografische Stadt repräsentiert bei ihm eine überregionale Metropole, die in internationale Modernisierungsprozesse (Industrialisierung, Wiederaufbau) und Konflikte (Vietnamkrieg, 2 Arbeitskampf) involviert ist. Marseille wird vom fremden Blick befreit und erscheint nicht mehr als südliche Provinz des dolce far niente. Der ›realistische‹ und minimalistische Stil sowie der zusätzliche Einsatz des Archivmaterials verleiht dem Film vordergründig dokumentarische Authentizität. (S. 137)
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Zu René Allio und Bertolt Brecht

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Der vom Theater kommende Filmemacher René Allio entwickelt die Repräsentationsmöglichkeiten Marseilles ästhetisch weiter. In seiner Brecht-Verfilmung von Die unwürdige Greisin gehe es eher um die charakterliche Entwicklung einzelner Figuren als um die Abbildung von Wirklichkeit. Winkler arbeitet heraus, dass sich in La Vielle dame idigne (1964) die Handlungsorte ausweiten und über traditionelle Bilder hinausgehen:

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Im Zentrum [bei Allio] stehen nicht wie bei Carpita politische Fragestellungen, sondern die Umbrüche im Alltag einer Einzelperson und die ambivalente Stadttopografie. (S. 164)
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Die filmische Wiederentdeckung Marseilles
in den 1980er Jahren

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Das vierte Kapitel geht auf die Entwicklungen des Marseiller Films in den späten 1980er Jahren ein. Mit einer Pagnol-Renaissance und den Romanverfilmungen Jean de Florette und Manon des Source und weiteren Verfilmungen wird Marseille als Standort wieder interessant. Winkler thematisiert allerdings nicht, dass diese Filme in der Provence spielen und Marseille lediglich logistischer Ausgangspunkt für die Produktionen war. Wenig später entstehen die populären Taxi-Filme, die unter anderem von Luc Besson produziert wurden. Das danach entstandene junge Marseiller Kino nimmt laut Winkler klassische Muster der kinomatografischen Repräsentation der Stadt auf.

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Die Stadt wird mit ihrem marginalen Status im nationalen Kontext und ihrer Funktion als Ort der Passage in Verbindung gebracht, gleichzeitig aber auch in der Repräsentation marginalisiert. Marseille erscheint nur selten als Ort eines neuen, identitätsstiftetenden Wohnortes oder eines normalen Lebensalltags – fern von Exotismus, Nostalgie und spektakulären Erfahrungen. (S. 208)
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Ebenso entstehen zu dieser Zeit Erinnerungsfilme mit und über Yves Montand und Filme über die Armenische Diaspora von Henri Verneuil Mayrig (1991) und 588, rue Paradis (1992). Marseille ist hier Ort der Rahmenhandlung oder der Flashbacks.

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Das Film-Marseille heute

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Winkler zeigt, dass wenig später differenziertere Darstellungen Marseilles entstehen, die den regional- und kulturpolitischen Standpunkt der Stadt hervorheben. Der bekannteste Regisseur dieser Produktionen ist Robert Guédiguian. Er wird vor allem mit zwei Filmen vorgestellt Marius et Jeannette (1997) und La ville est tranquille (2000). Einerseits vermeide er eine realistische Ästhetik mit Anleihen bei Bertolt Brecht und Märchenmustern. Andererseits setze er einen expliziten Fokus auf konfliktuelle Alltagssituationen unterschiedlicher Marseiller Millieus, jenseits cineastisch-topografischer Traditionen. Die innerurbane Fragmentierung werde zum Leitmotiv und die Stadt wirke nur in der Vogelperspektive ruhig. Ein sozialer Ausgleich erscheine nicht möglich.

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Im Ausblick wird die jetzt positivere Verortung Marseilles hervorgehoben, dennoch verbleibe diese nach wie vor klischeebeladen:

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[Es] fällt eine deutlich traditionsgebundene Verankerung der ProtagonistInnen in den meisten Filmen des Marseiller Regionalkinos auf. Die Filme insistieren auf klassischen regionalen Atrributen [...]. Die Marseiller Identität wird von Pagnol bis zu Guédiguian eng mit einer regionalen Sprachmarkierung und einer popularen sozialen Herkunft der ProtagoinstInnen verbunden. (S. 297)
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Winklers Resümee

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Die Quintessenz der Arbeit wird im folgenden Zitat klar:

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Im Kontext des gesamtfranzösischen AutorInnenkinos fällt das Marseiller ›accented cinema‹ also durch seine solidarische und partikularistische Tendenz auf, zwei Eigenschaften, die sich nicht nur auf der Repräsentationsebene zeigen: Mit der Ausnahme Pagnols sind die hier unter den Begriff des ›accented cinema‹ gefassten Filmemacher als Nachkommen von MigrantInnen in Marseille geboren oder aufgewachsen und haben als ›Integrierte‹ in Paris und darüber hinaus Karriere gemacht. Nicht wenige von ihnen sind im nördlichen Marseille zwischen Industriehafen und Estaque aufgewachsen, also in einem popularen Milieu, dessen Alltag von deutlichen sozialen und politischen Spannungen sowie ökonomischen Krisen geprägt war und ist. (S. 298)
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Fazit: Kritik und Lob

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Leider geht Winkler nicht auf weitere interessante Ansätze wie etwa die Verortung Marseilles als transitorische Hafenstadt oder Handlungsort in Kriminalfilmen ein, sondern erwähnt diese Funktion nur kurz. Wünschenswert wären, nachdem Winkler immer wieder von einer Topografie der Filmstadt spricht, neben einem Stadtplan von Marseille ein Index und vor allem eine chronologische und/oder nach Regisseuren geordnete »Marseille-Filmografie«. Die im Buch enthaltene Filmografie verweist in alphabetischer Reihenfolge auf alle Filme, die in der Monografie zitiert wurden, auch wenn diese gar nichts mit der Stadt zu tun haben z.B. Modern Times von Charlie Chaplin.

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Hervorzuheben ist die detaillierte Annäherung Winklers an weitgehend unbekannte Filmregisseure und deren Werke über ein ganzes Filmjahrhundert hinweg. So werden alle Filme in ihrem zum Teil sehr unterschiedlichen Bezug auf Marseille beleuchtet und ausführlich in ihrem Inhalt und ihrem zeitgenössischem Umfeld dargestellt. Besonders aufschlussreich ist so zum Beispiel das Unterkapitel »Kinematografische Stadt(t)räume« zu Pagnols Marius.

 
 

Anmerkungen

Dieser wird im Text leider fälschlicherweise durchgängig Robert Frankenheimer genannt.    zurück
Winkler benutzt diese Bezeichnung für den Indochinakrieg.    zurück