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Die Öffentlichkeit des Nichtöffentlichen oder: CCTV in den Massenmedien

  • Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung. (edition suhrkamp 2550) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. 382 S. Broschiert. EUR (D) 13,00.
    ISBN: 978-3-518-12550-2.
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Wer sich heute mit offenen Augen durch Großstädte bewegt, kann leicht ein neues Phänomen feststellen: Videokameras sind in Flughäfen, Bahnhöfen, U-Bahnen oder Bussen, an Gebäudewänden von Großunternehmen, Eigenheimen und über Straßenkreuzungen, in Banken, Fußballstadien, Tankstellen oder Gastronomiebetrieben allgegenwärtig geworden. Zu den Kameras kommen Hinweisschilder, die eigens auf die Videoüberwachung aufmerksam machen. Und seit den 1990er-Jahren zeigen auch die Massenmedien gehäuft Bilder, die Überwachungskameras mitgeschnitten haben. Berühmt wurden die Aufnahmen, die Prinzessin Diana 1997 in der Drehtür des Hotel Ritz zeigen. Jeder kennt die Bilder von 09-11-01-Terrorist Mohammed Atta auf dem New Yorker Flughafen (2001), die Fotos der Kofferbomber von Köln (2006), der U-Bahn-Schläger in München (2008) oder der Terroristen im indischen Bombay (2008). Das Hamburger Abendblatt druckte kürzlich (17. Juli 2009) sogar eine Serie von Videokamerabildern, die zeigen, wie ein Taschendieb einen eingeschlafenen Fahrgast in einer Hamburger S-Bahn bestahl. Die Bilder der Überwachungskameras – in englischsprachigen Ländern CCTV (Closed Circuit Television) genannt – sind also nicht nur sehr vielfältig, sie haben offenbar auch ihren ganz eigenen Reiz.

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Neues Forschungsgebiet

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Während die Videoüberwachung und die Videobilder alltäglich geworden sind, steht die Überwachungsforschung noch in den Anfängen. Sie hat zudem mit einem besonderen Problem zu kämpfen, das alle ›Sicherheitsforschung‹ betrifft: Da die Kameras Geheimes (Diebstahl, Gewalt, Drogenhandel und anderes) verhindern oder entdecken und Sicherheit produzieren sollen, bleiben ihre tatsächlichen Funktionen und technischen Möglichkeiten weitgehend Geheimwissen.

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Der Berliner Kulturwissenschaftler und Journalist Dietmar Kammerer hat nun in seiner Dissertation Bilder der Überwachung erstmals und sehr breit Geschichte und Gegenwart von CCTV beschrieben. Die Arbeit erzählt keine systematische Geschichte des Phänomens Videoüberwachung, sondern umkreist auf eine sehr eigene, anregende und fesselnde Art das Thema »Überwachung« aus verschiedenen Perspektiven. Kammerer berücksichtigt kulturwissenschaftliche, soziologische, theologische, medienwissenschaftliche und kriminologische Aspekte, konfrontiert Theorie und Empirie, Technik und Alltag, Realität und Fiktion – und er nutzt die »erkenntnisfördernde Leistung des Anekdotischen« (S. 13). Seine Bezugsgrößen sind vor allem Michel Foucault, Gilles Deleuze sowie die Arbeiten der noch jungen »Surveillance Studies«. Seine multiperspektivische, Eindeutigkeit vermeidende Arbeitsweise ermöglicht Kammerer Einsichten, die ohne Schwarz-Weiß- oder Gut-Böse-Zuschreibungen auskommen. Kammerer verzichtet sogar auf ein resumierendes Urteil. Die Arbeit endet offen mit einem Hinwies auf ein neues Untersuchungsfeld. »Die Herausforderung«, so beendet er seine 2007 von der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin angenommene Arbeit, »besteht darin, zu klären, wie nicht-konspirativ über die Kameras nachzudenken ist« (S. 353).

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Überwachungsbilder –
Bilder der Überwachung

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Die Videoüberwachung produziert nicht einfach nur Bilder. Kammerer beginnt seine Untersuchung mit einer kategorialen Trennung. CCTV erzeugt einerseits »Überwachungsbilder« (S. 9). Sie werden in separierten Kontrollräumen betrachtet oder von Computerprogrammen »gesichtet« und sind für die Öffentlichkeit im Allgemeinen verschlossen. Die Menge der produzierten Bilder ist enorm, und nur die wenigsten Aufnahmen werden jemals von Menschen betrachtet. So produziert ein mittelgroßes städtisches Videokamerasystem mit 80 Kameras pro Tag »geschätzte 172 Millionen Bilder« (S. 192).

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Andererseits entstehen aber auch »Bilder der Überwachung«. Diese »Repräsentationen« wurden aus der Masse der Überwachungsbilder von Polizei und Redaktionen bewusst ausgewählt. Sie zeigen den besonderen Ausschnitt (etwa: die letzte Aufnahme von Diana) und gelangen in die massenmediale Zirkulation, in Zeitungen und ins Fernsehen. Hinzu kommen die fiktiven Bilder der Spielfilme oder der Werbung. Sie alle bestimmen dann mit, wie über Videoüberwachung gesprochen wird. Fakten und Fiktionen vermischen sich.

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Die fünfte Infrastruktur

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Voraussetzung aller Überwachungsbilder ist die Etablierung von Videokameras. Kammerer zeigt sehr deutlich, wie rasch, widerstandsfrei und umfassend Videokameras in Großbritannien und in Deutschland durchgesetzt werden konnten. Die ersten Versuche wurden in den 1950er-Jahren zur Verkehrskontrolle unternommen, es folgten der private Einsatz im kommerziellen Sektor (Stichwort Ladendiebstahl), die öffentlichen Institutionen (Regierungsgebäude) und dann in den 1990er-Jahren die Verkehrsmittel und öffentlichen Plätze. »Über vier Millionen private und öffentliche Kameras sollen auf der Insel in Betrieb sein, es gibt keine Stadt oder größere Ortschaft, in der nicht ein Schild auf ›CCTV in operation‹ hinweist« (S. 35), in Deutschland sollen es »aktuellen Schätzungen zufolge« »zwischen drei- und vierhunderttausend Kameras« sein (S. 61), 2.000 allein auf dem Frankfurter Flughafen (S. 64). Doch der Graubereich ist enorm – die Zahlen sind »mit Vorsicht zu genießen« (S. 62). Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass Überwachung in größeren Städten »ubiquitär«, flächendeckend möglich ist.

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Dabei bilden die Kameras, die Hinweisschilder und die Bilder nur die »sichtbare Oberfläche« eines neuen und sich stetig vergrößernden »Netzwerk(s) visueller Information«. Denn hinter den Kameras verbergen sich Kontrollräume zur Überwachung der Kameras, hochmonotone Arbeitsplätze vor den Überwachungsbildschirmen, Computerprogramme zur automatisierten Erkennung, Dienstvorschriften zum korrekten Umgang mit dem manipulationsempfindlichen digitalen Material (Master- und Arbeitskopien) und sehr unterschiedliche technische Entwicklungsstufen (analog vs. digital; Standbild vs. Film). Kammerer geht davon aus, dass die Videoüberwachung inzwischen zur »fünfte(n)« »Infrastruktur« (S. 23) geworden ist. Wichtiger sind nur die traditionellen »Infrastrukturen« »Wasser, Gas, Elektrizität und Telekommunikation« (S. 23).

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Das unsichere Wissen

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Interessanterweise weiß man über die Wirkung von CCTV aber nur wenig Genaues. Der »Siegeszug« (S. 41) der Videokameras ist von einem überraschenden Nichtwissen über die Folgen der Maßnahmen begleitet, »eine eindeutige, allgemeine Wirkung von Videoüberwachung [kann] nicht behauptet werden« (S. 76). Zwischen den Absichtserklärungen sowie den prognostizierten Leistungen und den technischen Möglichkeiten der Kameras klaffen offenbar Welten. Sicherheit konnte durch CCTV dauerhaft nicht hergestellt werden, die automatisierte Gesichtserkennung etwa ist längst noch nicht möglich. Kammerer formuliert hier sehr eindeutige Positionen: »Es gibt ein offensichtliches und eklatantes Missverhältnis zwischen den öffentlichen Reden über Videoüberwachung – und das heißt regelmäßig: Fetischisierung von Hightech – und dem real sehr begrenzten Stand der technischen Dinge« (S. 82).

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Doch nicht nur die Technik, auch die populären postmodernen Beschreibungen des »Disziplinargesellschaft« (Foucault) oder der »Kontrollgesellschaft« (Deleuze) verbleiben im Ungefähren, ihnen fehlt das technische Wissen um die Möglichkeiten von Videoüberwachung. So bildet etwa Jeremy Benthams »Panoptikum« noch immer die Folie für die Analyse der »panoptischen« Videoüberwachung. Michel Foucault hatte hieran einst seine Thesen zur Disziplinargesellschaft entwickelt – doch das Panoptikum, Benthams Idealgefängnis, wurde nie gebaut; und die Kontrollgesellschaft setzt inzwischen wohl eher auf das Raster und den Algorithmus als auf das Bild.

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Die Rolle der Massenmedien

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Dass sich Videoüberwachung dennoch so leicht durchsetzen konnte, hängt offenbar vor allem von den Massenmedien, der Öffentlichkeitsarbeit und insbesondere vom Fernsehen ab. Kammerer stellt eine Fülle von Stimmen vor, die eine »Mischung von Placebeo-Effekt und medialer Berichterstattung« (Herbert Schenkelberg, S. 77) oder eine »Liebesaffäre« des Fernsehens mit der Videoüberwachung (S. 82) herausstellen. Er zeigt am Beispiel der medialen Aufbereitung des Kofferfunds im Regionalzug Aachen-Hamm (2006) und des Foto-Fahndung-Feldversuchs im Mainzer Hauptbahnhof (2006) sehr plastisch, wie Technik und Medien einander zuspielen. »Videoüberwachung«, so ein Resumee, »bedarf des Fernsehens und der Massenmedien« (S. 225), es kommt zu permanenten »Synergieeffekten« (S. 226) zwischen »Closed Circut« und »Broadcasting«. Medienwissenschaftlich tut sich hier ein breites Analysefeld auf.

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Resümee

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Dietmar Kammerers sehr anregende Studie öffnet nachgerade ein neues und hoch aktuelles Arbeitsfeld. Seine Arbeit ist kulturwissenschaftlich orientiert – und doch öffnet sie auch für die Medien- und Kommunikationswissenschaften neue Perspektiven. Denn hier wird den Massenmedien vor allem die Aufklärung zugeschrieben. Die »Bilder der Überwachung« zeigen auch eine andere Seite. Medien beeinflussen und befeuern gesellschaftliche »Themen« und geben ihnen Dauer.