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Mit synthetischem Verstand

Ein neuer Blick auf den Transfer
von Wissenschaft in Literatur
in Robert Musils Roman
Der Mann ohne Eigenschaften

  • Thomas Sebastian: The intersection of science and literature in Musil’s »The man without qualities«. (Studies in German literature, linguistics, and culture) Rochester, NY: Camden House 2004. 300 S. Hardcover. USD 65,00.
    ISBN: 1571131167.
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Naturwissenschaften zu Musils Zeit

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»Chaotic, yet subject to scientific laws« (S. 67): so beschreibt Thomas Sebastian in seinem Buch The Intersection of Science and Literature in Musil’s »The Man Without Qualities« die Welt, die in Musils Hauptwerk erzählt wird, eine Welt, in der das Chaos herrscht, die sich aber auch nicht von der Wissenschaft lösen kann. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wehte in allen Wissensgebieten ein neuer Wind des Aufschwungs. Während seiner Studienzeit trat Musil mit einigen der wichtigsten Philosophen und Psychologen jener Epoche in Kontakt und erlebte mit ihnen eine Zeit des radikalen Wandels: Mit der Ablehnung des deterministisch-Newton’schen Ansatzes bereitete sich die Wissenschaft auf den Beginn einer neuen Weltanschauung vor, in der die wissenschaftliche Methode bis in ihre Grundfesten erschüttert werden sollte. Mit den neuen Beiträgen von Plank zur Quantenphysik, von Einstein mit seiner Relativitätstheorie und der Heisenberg’schen Theorie der Unbestimmtheitsrelation wurde eine neue Variable in die Wissenschaft eingeführt: die Ungewissheit. Die wissenschaftlichen Prognosen verloren dadurch den Status von unabsetzbaren Gesetzen und wurden ebenfalls dem Zufall unterworfen.

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Thomas Sebastian zeigt mit großer Klarheit, wie dieses kulturelle und wissenschaftliche Substrat den Mann ohne Eigenschaften beeinflusst hat, allerdings immer auf Schleichwegen. Trotz seiner wissenschaftlichen Ausbildung fühlte Musil sich nie als echter Wissenschaftler. Er nutzte sein Wissen als »springboard« (S. 2), als Sprungbrett, von dem er springt, um sich in die Literatur zu versenken. Er beschränkte sich nie auf das Studium der Wissenschaft als eigene Disziplin, die man den geistwissenschaftlichen Studien entgegen setzen konnte, sondern er verband sie mit der Literatur, womit er den ewigen Dualismus überwand, der der Kunst die Wissenschaft, den sinnlichen Empfindungen die Vernunft, und den Gefühlen den Intellekt entgegenstellte.

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Das Buch ist in thematische Kapitel gegliedert: Ausgehend von »Musil’s Academic Apprenticeship« bringt Sebastian die Einflüsse der experimentellen Psychologie auf das Werk Musils ans Licht. Dank der Bekanntschaft u.a. mit Carl Stumpf und Alois Riehl entwickelte Musil sein Interesse für die neuen psychologischen Experimente, die sich auf die Analyse der Empfindungen konzentrieren und die in einer Dissertation über den Empiriokritizismus Ernst Machs gipfelten. Musil übernahm von Mach die Vision der Welt als unklare und undefinierbare Dimension, was er später in seinem Epochenroman umsetzte. Sebastian schreibt: »For Mach, the world is in flux and complete knowledge of it is impossible. No substances and no causalities prevail. There is no center that would allow one to posit a structured whole. According to Mach, we are always only aware of sensations« (S. 22–23), während Ulrich »searches for a ›center‹ that is strictly speaking no longer a center but a dynamic condition that is de-centering« (S. 28).

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Fast zehn Jahre nach der Dissertation Musils mündeten die Studien über die Beziehungsproblematik zwischen Geist und Körper in die Gestalttheorie – ein Thema, das Sebastian in dem Kapitel »Figure and Gestalt« behandelt. Laut Sebastian überarbeitete Musil diese neue Theorie in einer sehr persönlichen Form: »In Musil’s own terminology this means that when the Gestalt is interpreted as a figure, it is a ›pseudoreality‹ (Seinesgleichen); yet interpreted as something that has no comparison (Ohnegleichen), the Gestalt is a substance«, auch wenn in diesem Fall gleichfalls die substanzielle Unbestimmtheit und die Unmöglichkeit, einen Mittelpunkt zu finden, herrschen: »Gestalt theory flickers in The Man Without Qualities like one of those oscillating objects one cannot clearly identify« (S.42).

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Statistik, Zufall – ihre literarische Verleugnung

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Ausgehend von Bernouillis »Gesetz der großen Zahlen« und Leibniz’ »Prinzip des zureichenden Grundes« hebt Sebastian in dem Kapitel »Indeterminacy, Chance, and Singularity« das Interesse Musils an Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie hervor, ein Thema, das später in dem Roman im Gewand des »Zufalls« wieder auftaucht. Zufall gerät dann zu einem heimlichen Gesetz, das die Wirklichkeit regelt. Auf diese Weise leugnet Musil wieder das Determinationsprinzip in der Wissenschaft, die sich nicht mehr auf die Kausalbeziehungen zwischen den Ereignissen verlassen kann und sie als unvoraussehbar und unbestimmbar erkennen muss.

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Das Thema der extremen Variabilität der Sprache wird in »Construction of a Hypothetical Narrative« behandelt, wo Sebastian herausstellt, dass die kommunikativen Gaps und die chronologischen Relativierungen im Roman einen entropischen Zustand hervorgebracht haben, in dem die Figuren »are described as being perplexed by their mutual misunderstandings and the unsatisfactory results of their public debates« (S. 107). In dem letzten Kapitel, das dem Frauenmörder Moosbrugger gewidmet ist, entfacht genau dieser Mangel an transzendentalen Gesetzen, die die Sprache regeln, den Blutrausch: »violence erupts in the absence of communication and mutual understanding« (S. 116).

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Mit seinem Buch hat Sebastian heraus gearbeitet, wie das Meisterwerk Musils die Unmöglichkeit einer vollständigen Erfassung der Wirklichkeit verdeutlicht, nicht aufgrund eines Nihilismus ante litteram, sondern weil die Welt zu voll von Möglichkeiten ist, zu fragmentiert, um ihre Ganzheit zu erfassen, und auch die Wissenschaft ihren Zweck – die Welt zu erklären – nicht erreichen kann, einfach weil »there is too much to know« (S. 125), ein Satz, der an »Kein Genie ist mehr imstande, das Ganze zu beherrschen« erinnert, eine Formulierung Musils aus dem Essay »Der mathematische Mensch«, den Thomas Sebastian allerdings nicht unter seinen Quellen aufführt. Es wäre interessant gewesen, wenn Sebastian seine These mit diesem weniger bekannten Aufsatz verglichen hätte, in dem Musil die Rolle der Wissenschaft und der Wissenschaftler in Frage stellt und die Kunst als einziges Mittel bezeichnet, um Verstand und Geist in Einklang zu bringen. Sebastian zufolge kann im Mann ohne Eigenschaften nur die Literatur erklären, was die Wissenschaft rational nicht definieren kann, darum vertraute Musil die Aufgabe, die Welt begreiflich zu machen, dem Schreiben an, in der Hoffung, das Unbeschreibbare beschreiben zu können.

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Indeterminismus – der gemeinsame Nenner

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Sebastian bewegt sich sicher von einem Thema zum anderen, von wissenschaftlichen zu philosophischen Theorien, von der Psychologie zur Textanalyse, dabei behält er aber das Hauptthema, die Wissenschaft, im Fokus und lässt seine Überlegungen von ihr ausgehen. Der Hauptvorzug dieses Buchs ist nicht die endgültige Klärung des wissenschaftlichen Backgrounds Musils, ein Thema, das schon ausführlich behandelt worden ist, 1 sondern die Fähigkeit Sebastians, verschiedene wissenschaftliche Bereiche wie Psychologie, Physik oder Statistik durch den gemeinsamen Nenner des Indeterminismus – der Unbestimmtheit (oder Ungewissheit?) – in Zusammenhang zu bringen.

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Fazit

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Das Unterfangen, die Schnittpunkte zwischen Wissenschaft und Literatur bei Musil aufzuzeigen, kann als heldenhaft betrachtet werden und es hätte unmöglich scheinen können, es auf nur 137 Seiten zu schaffen, aber Sebastian fehlt es sicher nicht an synthetischem Verstand, und so ist ihm das schier Unmögliche gelungen.

 
 

Anmerkungen

Zum Beispiel bei Annette Gies »Musils Konzeption des sentimentalen Denkens« (Würzburg 2003), Sabine Döring »Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen« (Paderborn 1999), Christian Hoffmann »Der Dichter am Apparat« (München 1997) oder von Silvia Bonacchi, »Die Gestalt der Dichtung« (Bern 1998), wo Sebastian nachgeschlagen hat.   zurück