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»Ethos der Individualität und Eros der Selbstentäußerung«

Aporien der Subjektidentität bei Goethe

  • Stefan Keppler: Grenzen des Ich. Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 38) Berlin: Walter de Gruyter 2006. IX, 296 S. Gebunden. EUR (D) 88,00.
    ISBN: 3-11-018861-9.
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Im postmodernen Diskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts schien das philosophische Konzept des Subjekts ausgedient zu haben. An die Stelle der neuzeitlichen Subjektentwürfe rückten Strategien wie die der Maskerade und der Travestie. 1 Dass der Begriff des Subjekts gleichwohl nicht aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden ist, wird niemanden verwundern, war allerdings von den Kritikern der Subjektphilosophie auch gar nicht intendiert. Wohl aber ist der Umgang mit Kategorien wie Subjekt und Identität ein anderer, ein differenzierter geworden. Dies zeigt sich mitunter auch an literaturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten wie der hier anzuzeigenden Dissertation von Stefan Keppler, die auf bemerkenswerte und innovative Weise die Untiefen von Goethes poetologischen Subjektentwürfen auslotet.

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Das Subjekt erzählen

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Keppler macht es sich zur Aufgabe Goethes narrative Darstellungsverfahren von Ich- und Subjektkonzepten in den Kontext der neuzeitlichen Subjektphilosophie zu stellen und zu analysieren. Es hat zunächst nichts Überraschendes, Goethes Werk mit den philosophischen Entwürfen von Denkern wie Spinoza, Hume, Kant oder Hegel zu konfrontieren. Das hat in der Goetheforschung lange Tradition. Ungewöhnlich ist aber, wie Keppler Goethes Poetik innerhalb des philosophischen Diskurses situiert. Keppler insistiert nämlich auf »Goethes veritable[n] Zweifel[n] am Ich« (S. 1) und nimmt somit eine Goethes Schreiben inhärente Subversion von zeitgenössischen Subjektkonzepten in den Blick, die sich insbesondere anhand der Ich-Entwürfe von Goethes bekannten Frauen-Figuren zeige:

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Die regelrechte Ich-Implosion seines ersten erzählten Protagonisten, der eben nicht nur die Modellierung, sondern auch die Zersetzung des Subjekts vor Augen führt, bildet den Ursprung einer Versuchsreihe, in der Goethe die Leiden am Vakuum der substanzlosen Subjektivität geschlechtsverschoben und ins Extrem getrieben anhand von Werthers Erbinnen – Mignon, Ottilie und Makarie – ergründet. (S. 3)
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Keppler geht es also nicht so sehr um eine weitere philosophische Exegese von Goethes Werk, vielmehr bringt er in seiner Untersuchung die Begriffe Subjektidentität, Figurenpoetik und Textidentität in eine lektürepraktische Konstellation, die als Schlüssel für die Analyse des Erzählverfahrens dienen soll. Seinen methodischen Ansatz beschreibt Keppler als »eine historisch rekonstruierende, quellenphilologisch abgesicherte und bewusstseinsgeschichtlich fundierte Narratologie« (S. 9). Diese vielleicht etwas umständlich klingende Standortbestimmung meint eine auf Intertextualität und Ideen- bzw. Mentalitätsgeschichte beruhende Erzähltextanalyse. Der Begriff der Narratologie ist hierbei nicht dogmatisch zu verstehen. Eine narratologische Analyse im Anschluss an Genette oder Scheffel / Martínez liegt hier nicht vor. Angestrebt wird vielmehr eine Analyse und Deutung der Erzählstrategien von Figuren- und Subjektidentitäten. Dabei rücken im Anschluss an die im Werther schon beobachtbare Disgregation des Subjekts aporetische und paradoxale Konstellationen der Ich-Identität in den Blickpunkt.

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Goethe hatte zweifelsohne eine gewisse Vorliebe für paradoxe Sentenzen. Das bekannte Briefzitat: »ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich« 2 , spielt mit einer Form der paradoxen Ich-Verdopplung: Das Ich wird sich selbst entäußert, um zum Objekt einer Darstellung, einer Geschichte zu werden. Nun geht es Keppler in seinem Buch nicht um Goethes briefliche Subjektentwürfe, die einer eigenen Untersuchung bedürften, sondern um die poetische Gestaltung von Figuren-Identitäten in Goethes Erzählwerk. Gleichwohl sind der Aspekt der Selbstentäußerung und die Praxis der Ich-Verdopplung für Kepplers Lektüreverfahren zentral. Keppler prägt hierfür das schöne Bild von Goethes »Janushaftigkeit auf subjekttheoretischem Gebiet«, die »teils von Differenzen zwischen vorwiegend pragmatischen und vorwiegend ästhetischen Schreibmodi, teils von Verschiebungen zwischen intendierter und symptomatischer Bedeutung« herrühre (S. 14). Goethes Oszillieren zwischen Konzepten des philosophischen Subjekts und deren narrativen Auflösungen in seiner eigenen Figurenpoetik bildet gleichsam den Leitfaden für Kepplers Lektüren. Er benennt diese Goethes Denken und Schreiben inhärente Diskrepanz prägnant mit dem Begriffspaar: »Ethos der Individualität und […] Eros der Selbstentäußerung« (S. 14). Ethos und Eros bilden dabei die zwei Seiten der einen Medaille, der Medaille der Subjektidentität: Auf der einen Seite wird nämlich in Goethes Erzählwerk der Anspruch auf ein moralisches Gesetz der Identität stets aufrechterhalten, auf der anderen Seite tendiert aber die Narration zu einer geschlechtlich codierten und oftmals erotisierten Auslösung der Figurenidentitäten. Das Wechselspiel dieser beiden Pole verfolgt Keppler vor allem im Wilhelm Meister-Komplex, in den Unterhaltungen und den Wahlverwandtschaften.

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Goethesche Erzähltheorie

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Ein Wilhelm Meister- oder ein Wahlverwandtschaften-Kapitel wird der Leser allerdings vergeblich suchen. Denn Keppler gliedert seine Kapitel nicht, wie dies häufig praktiziert wird, nach den einzelnen Werken, sondern thematisch. Solche »synoptisch angelegten Lektüren« (S. 64) haben den Vorteil, dass der Argumentationsgang in den Abschnitten flexibler wird und daher ein Vergleich zwischen den Werken leichter fällt und auch für den Leser besser nachvollziehbar ist. Seinen synoptischen Lektüren geht ein Kapitel zu Goethes Erzählsystem voran, das die weiteren Textanalysen »narratologisch fundier[en]« (S. 64) soll.

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Keppler geht von einer dem Goetheschen Werk inhärenten »Erzähltheorie des Dichters« (S. 48) aus, die es als Beschreibungs- und Analyseverfahren nutzbar zu machen gelte. Vor allem das Konzept der Wiederholten Spiegelungen wird als erzähltheoretisch und poetologisch relevantes System angesehen:

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Es geht im Spiegelungen-Aufsatz […] unausgesprochen um ein Textensemble, das die Sesenheimer Gedichte, Dichtung und Wahrheit (die Sesenheim-Episode) sowie den Aufsatz selbst umfasst. Damit liegt in ihm gewissermaßen eine auf das eigene Werk gewendete Theorie der generativen Textkonstitution Goethes vor. (S. 57)
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Fungiert für Keppler das Konzept der Wiederholten Spiegelungen als textgenerisches Modell, das damit auch eine Basis für den Textvergleich schafft, so kommt mit dem Verwandtschafts-Theorem eine zweites für das Goethesche Erzählverfahren wichtiges Vergleichs- und Erklärungsmodell hinzu, das die Perspektive auf die Verwandtschaft der Namen und Figuren über die Grenzen der einzelnen Erzähltexte hinaus öffnet:

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Diese Verwandtschaftsmathematik [der Wahlverwandtschaften; P.B.] hängt insofern mit der Konfiguriertheit der Erzählprojekte zusammen, als ihr Zahlenspiel bemerkenswerterweise weder erst eine Erfindung der Wahlverwandtschaften noch auf diese beschränkt ist: Dafür stehen in einer regelrechten Deklinationsreihe die Namen Lottes / Charlottes […] im Werther, Ottilies in der Ferdinand-Geschichte der Unterhaltungen sowie Lotharios in den Lehr- und Wanderjahren. (S. 59)

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Keppler geht es mit seiner Fokussierung auf die Goetheschen Konzepte der Spiegelungen und der Verwandtschaft um die Explikation eines aus sich selbst heraus erklärenden Erzählsystems. Dieses Verfahren, »mit Hilfe einer zweckmäßigen, aus Goethes eigenem Denken geschöpften Terminologie« (S. 64) eine Erzähltheorie zu entwerfen, mag den Verdacht regen, hier werde Goethe mit Goethe gelesen. Dass dem nicht so ist, zeigt sich nicht allein an dem philologisch reflektierten Umgang mit den Goetheschen Begrifflichkeiten, es erweist sich insbesondere in den Lektüren selbst, die die Texte stets historisch und philosophisch kontextualisieren.

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Figurenpoetik, weiblich

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Die Lektüre-Kapitel der Arbeit bauen auf der Annahme einer textübergreifenden erzählerischen Problematisierung der Identitätslogik auf: der Darstellung und Analyse der weiblichen Identitäts-Entwürfe (II.) folgt die Einbettung von Goethes Poetik in die neuzeitliche Subjektphilosophie (III.), woran sich ein Kapitel zu den aporetischen Strukturen des Subjekts (IV.) und ein Abschnitt über Verfahren der Desubjektivierung (V.) anschließen. In dem Kapitel »Der homo fictus als Träger von Subjektprädikaten« wird Goethes Figurenpoetik anhand der Frauengestalten seines Erzählwerks in den Blick genommen. Mit Rückgriff auf Blanckenburgs Versuch über den Roman, demzufolge die Figuren nicht nur ein Skelett des Charakters, sondern lebendige Menschen sein sollen, konturiert Keppler Goethes Figurenpoetik als Medialisierung des Charakters: »Soweit sehen sich die Repräsentationsansprüche bereits vom ›Charakter‹ auf das ›Bild des Charakters‹ verwiesen.« (S. 67) Die Motivkette, die Keppler dabei für Goethes Erzählverfahren geltend macht, umfasst die Metaphernfelder der Gliederpuppe, des Theaters und der Bilder. Eindrücklich vermag Keppler zu zeigen, wie die narrative Inszenierung von Subjekthaftigkeit zugleich die mediale Verfasstheit der Figuren und damit die Subversion der figuralen Ich-Identität zur Schau stellt. All diese Formen der Medialisierung des narrativ hergestellten Individuums verweisen letztlich auf das Moment des »Nicht-Identischen« (S. 80).

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Besonders sinnfällig wird dieses Darstellungsverfahren anhand von Goethes »Poetik ›weiblicher‹ Figuren« (S. 87). Das Moment des Nicht-Identischen erweist sich in Kepplers luzider Lektüre der narrativen Inszenierung der Frauenfiguren als Prozess der medialen Mortifikation des weiblichen Ich: So »neigen die exponiertesten von Goethes erzählten Frauen zu einer Erstarrung als Kunstwerk« (S. 91). Die allgemeine Tendenz zur Ikonisierung der Frauenfiguren, die in Ottilie ihren Höhepunkt findet, lässt sich durchaus als Moment der Nicht-Identität auffassen. Die solchermaßen zur Darstellung gebrachten fiktiven Frauen verschwinden in ihrer künstlerischen Idealität, in ihrer gleichsam ikonischen Rolle: »Sie spielen die Rolle einer Rolle, deren stummer Text lautet ›Ich bin nicht ich‹. « (S. 92)

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Aporien des Subjekts

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Die Kapitel »Goethes subjektphilosophischer Horizont und Aporien des Subjekts« sind eng miteinander verzahnt und werden daher im Folgenden zusammen behandelt. Entgegen der »Annahme von Goethes philosophiegeschichtlicher Unbedarftheit« (S. 97) sucht Keppler den Nachweis einer Arbeit am Subjekt-Begriff in Goethes Denken und Schreiben zu erbringen. Dafür geht er den Spuren der philosophiegeschichtlichen Tradition von Descartes bis Hegel in Goethes Werk nach. Auch bei der Rezeption der unterschiedlichen philosophischen Schriften, das machen Kepplers Ausführungen deutlich, gilt Goethes Diktum, dass nur durch »Aneignung fremder Schätze […] ein Großes« 3 entstehe. Goethes Verfahren der Aneignung transformiert die Philosopheme in die eigene poetologische Darstellungsform. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist der Umgang mit geschlechtstheoretischen Positionen, sowohl aus dem Bereich der Populärphilosophie (den von der Goetheforschung bisher noch nicht berücksichtigten Arbeiten von Ernst Brandes und Christoph Meiners) als auch aus dem Kontext der großen Systeme (Kant, Hegel). Denn Goethes Weiblichkeitsimaginationen, die auf der Geschlechtertheorie seiner Zeit aufbauen, stehen durchaus quer zu einer geschlechtsdifferentiellen Ästhetik, in welcher das Geschlechterverhältnis als Gegenverhältnis aufgefasst wird. Vielmehr bedienen sich Goethes »narrative[ ] Weiblichkeitsarrangements […] [der] Engführung von Weiblichkeit und Schönheit […] für die ästhetische Auslöschung des Subjekts in der Objektivität der Kunst« (S. 139).

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Die paradoxale Struktur dieser Form der weiblichen Selbstauslöschung wird in dem Kapitel »Aporien des Subjekts« beleuchtet. Für Keppler macht sich bei Goethe »[d]ie aporetische Zirkelstruktur […] schon darin geltend, dass der Versuch, Selbstbezug als durch Fremdbezug generiert zu begreifen, jenes Selbst, das aus den Quellen erst gespeist werden soll, bereits voraussetzt« (S. 153). Als Untersuchungsfelder dieser problematischen Form der narrativen Subjektkonstitution markiert Keppler: a) die ständisch verfassten Familien- und Liebesdiskurse, b) die religionsgeschichtlichen Implikationen, c) die Vernunftkritik, d) den Leibdiskurs und e) die Gedächtniskonzeption.

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Kann für den Familien- und Liebesdiskurs von Goethes Erzählwerken, wenig überraschend, eine »Desillusionierung der Liebesmoral« (S. 159) diagnostiziert werden, so erweist sich der Isebel-Diskurs aus der Theatralischen Sendung, in dem die Geschichte vom gewaltsamen Sturz der Königin als intermediales Spiel mit Bild- und Text-Überlieferungen inszeniert wird, als eine geschlechtsdifferentielle Form der Goetheschen Machtanalyse. Der Text konfiguriert, wie Kepplers präzise Lektüre herausstellt, den Urtext aus dem 2. Buch der Könige mit dem bei Goethe genannten Kupferstich von Matthäus Merian d.Ä. und markiert, da der von Wilhelm referierte Dramenplan eine Darstellung des Sturzes hinter geschlossenem Vorhang vorsieht, auf diese Weise das Performativ der Exklusion des weiblichen Selbstverlusts.

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Die von Kant und Meiners diagnostizierte weibliche »Vernunftdefizienz« (S. 185) geht mit einer schwächeren Gedächtnisleistung einher. Bei Goethe finden Keppler zufolge die »daraus resultierenden memorialen Notstände[ ]« (ebd.) in den Figuren Mignons und Ottilies ihren Niederschlag. Deren traumatisch-labile Identitätskonstrukte lassen sich auf den jeweiligen »Verlust der Herkunftsfamilie« (ebd.) zurückführen. Die Figur der Makarie unterscheidet sich hier in signifikanter Weise von ihren literarischen ›Schwestern‹: Sie verfügt über ein Archiv, das an die Stelle des Gedächtnisses tritt, und wird somit zu einer Repräsentantin eines nichtpersonalen »technisch-mechanischen Erinnerungsmodell[s]« (ebd.).

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Der Körperdiskurs ist in mehrfacher Hinsicht für die aporetische Verfasstheit des weiblichen Subjekts von Bedeutung. Keppler macht hier auf Aspekte der zeitgenössischen Geschlechterphysiologie aufmerksam, die auch bei Goethe zu Zweifeln an einer körperlichen Determinierung der Geschlechtsidentität führten: »Nun traten mir«, so Goethe, die »gegen das Geschlechtssystem von Zeit zu Zeit erregten Zweifel sogleich vor die Seele und was ich selbst über diese Angelegenheit gedacht hatte ward wieder lebendig« 4 . Diese Einsicht in den Gender-Aspekt der Geschlechter-Konstruktion schlägt sich freilich nicht ungebrochen in Goethes Erzählsystem nieder. Keppler versteht die hermaphroditischen Figuren Goethes wie Mignon daher als Resonanzraum für die Zweifel am natürlichen Geschlecht. Goethes poetologische »Hybridisierung der Körpergestalt« (S. 191) geht aber über die geschlechterphysiologischen Wissensdiskurse hinaus, insofern seine »zwitterhafte[n] Geschöpf[e]« 5 selbst schon Formen der Maskerade (Mariane als Offizier) bzw. der Subversion des weiblichen Körpers (Melusine) inszenieren.

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Mythische Desubjektivierung

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Das abschließende Kapitel der Arbeit, »Mythopoetik und Desubjektivierung«, fokussiert in einem ersten Schritt anhand der Neuen Melusine Goethes eigene ›neue Mythologie‹, um dann in einem weiteren Schritt die sich daraus ergebende poetologische Praxis einer mythischen Desubjektivierung aufzuzeigen und zu erläutern. In dem ersten Abschnitt zeichnet Keppler zunächst präzise die Überlieferungs- und Rezeptionsbedingungen des Melusinenstoffes nach. Dabei kann er nachweisen, dass »Movens und Leitfaden der Neuen Melusine […] eine politische Nachfolgefrage [bildet]« (S. 217), in der aber auch immer »die Rede vom prekären Status weiblicher Herrschaft intoniert« (S. 216) werde. Zugleich macht Keppler auf die programmatische Bedeutung der Neuen Melusine für Goethes Altersroman aufmerksam: »Mit dem Märchen der Wanderjahre hat sich die Melusinenkonstante in Goethes Erzähluniversum gegen allen Anschein noch nicht erschöpft. Vielmehr erstreckt sie sich […] unsichtbar und doch grundlegend, durch ein transtextuelles Spiegelverhältnis der Schauplätze nämlich, auch auf die Felix-Hersilie-Handlung des Altersromans« (S. 217) – insofern nämlich das Kästchenmotiv des Märchens hier wieder aufgenommen wird.

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Die sich an Goethes Bearbeitung des Melusinestoffs zeigende Ambivalenz des weiblichen Körpers wird für Keppler im zweiten Abschnitt des Kapitels zum Leitfaden für die Erkundung jenes »größeren Motivnetz[es], in dem Goethe die Grenzwerte des Subjekts an den Bauplänen erdichteter Menschen ausmisst« (S. 219). Hier wird nicht nur deutlich, dass das Goethesche Todesarten-Projekt, wie es insbesondere in Mignon und Ottilie figuriert ist, zum Ausdruck der Desubjektivierung weiblicher Identität gerät. Keppler macht auch auf die Relevanz jenes eigentümlichen weiblichen Vampirismus aufmerksam, der sich offenbart, wenn etwa Mignon Wilhelm beißt oder Hersilie lustvoll Felix’ Wunde aussaugt. Das Herausstellen des »weiblichen Blutdursts in Goethes Erzählen« (S. 230) ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, da die Figur des Vampirs geradezu ein Ausweis der Nichtidentität ist: »Der Wiedergänger ist derselbe und nicht derselbe Mensch; er ist tot und ist es nicht.« (S. 231)

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Fazit

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Keppler ist mit seiner Studie etwas Besonderes gelungen. Unprätentiös verknüpft er klassische Goethephilologie – im besten Sinn – mit Verfahren der Diskursanalyse und der Wissensgeschichte. Denn das, was am Anfang der Studie als ideen- und mentalitätsgeschichtlicher Ansatz ausgewiesen wird, erweist sich als analytisches In-Bezug-Setzen von zeitgenössischen Wissensformationen zur Poetik des Goetheschen Erzählsystems. Dabei fällt positiv aus, dass das methodisch-reflektierte Vorgehen niemals dogmatisch gerät und somit auch methodische Anleihen – wie aus dem Bereich der Gender Studies – möglich sind. Für die Goetheforschung stellt diese Arbeit in jedem Fall einen Gewinn dar: Wer in Zukunft zu Goethes Subjektentwürfen forschen will, wird gut beraten sein, diese Studie zu konsultieren.

 
 

Anmerkungen

Vgl. u.a. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 1991; Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt/M. 1994.   zurück
Brief an Wilhelm von Humboldt, 1.12.1831 (Johann Wolfgang von Goethe: Briefe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. Hg. v. Karl Robert Mandelkow. München 1988. Bd. 4, S. 463).   zurück
Goethe zu Kanzler von Müller, 17.12.1824 (Goethes Gespräche. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Frhrn. von Biedermann. Hg. v. Wolfgang Herwig, 5 Bde., Stuttgart, Zürich 1965–1987, hier: Bd. 3.1, Nr. 5564).   zurück
Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Morphologie. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt. Bd. 24. Hg. v. Dorothea Kuhn. Frankfurt/M. 1987, S. 509.   zurück
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt. Bd. 9. Hg. v. Wilhelm Voßkamp u. Herbert Jaumann. Frankfurt/M. 1992, S. 355–992, hier: S. 553.   zurück