IASLonline

Rivalen und Zwillinge

Matthias Buschmeier über das Wechselverhältnis von Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit

  • Matthias Buschmeier: Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft. (Studien zur deutschen Literatur 185) Tübingen: Max Niemeyer 2008. VI, 490 S. Paperback. EUR (D) 79,95.
    ISBN: 978-3-484-18185-4.
[1] 

Die Frage nach Wesen und Nutzen der Philologie erfreut sich wachsender Aufmerksamkeit. In der jüngeren Vergangenheit wurden von prominenter Seite ihre ›Macht‹ und ›Verheißungen‹ diskutiert. 1 Angeregt durch diese Diskussion untersucht Matthias Buschmeier »das ambivalente Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft als Rivalen und Zwillingspaar« (S. 1) in der Goethe-Zeit. Das Buch will kein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik sein: Buschmeier fragt nicht isoliert nach der Genese der Philologie im 18. und 19. Jahrhundert, sondern nach den Wechselwirkungen zwischen der Poesie und der mit ihr befassten Wissenschaft.

[2] 

Das Wechselverhältnis von Poesie und Philologie

[3] 

Seit der Antike als Wissensform stetig abgewertet, wurde die Dichtung aus dem System des Wissens verdrängt und durch die Philologie ersetzt. Diese hat die Literatur zum Studienobjekt und wird ihrerseits zum Thema der Literatur. Buschmeier zufolge versucht die Literatur in der Goethe-Zeit gar, Einfluss auf die Philologie und deren disziplinäres Selbstverständnis auszuüben:

[4] 
Die Literatur korrigiert also in ihrem Medium die Disziplin, deren Untersuchungsobjekt sie eigentlich ist. Mit anderen Worten: Die Literatur arbeitet an der Aufstellung eines Begriffs einer Wissenschaft ihrer selbst mit. (S. 6)
[5] 

Philologen gebärden sich als Dichter, während sich Literaten philologischer Methoden und Schreibweisen bedienen, um ihren Texten Einheitlichkeit und Werkcharakter zu verleihen. Dieses »Austausch-« bzw. »Wechselverhältnis« (S. 10, 38) steht im Zentrum des Interesses. Die grundlegenden Fragen sind demnach:

[6] 
Wie verhalten sich Poesie und Philologie im Prozess ihrer Ausdifferenzierung zueinander? Welche funktionelle Rolle kann die Dichtung gesellschaftlich noch beanspruchen, wenn sie kein Wissen, keine Wissenschaft mehr darstellt, sondern selbst Objekt wissenschaftlicher Untersuchung geworden ist? Und: Hat dieser Konflikt Auswirkungen auf die Schreibweisen der Dichtung? (S. 46)
[7] 

Diesen Fragen begegnet Buschmeier auf der Grundlage von Niklas Luhmanns Systemtheorie. In einer ausführlichen theoretischen Vorüberlegung geht er mit Luhmann davon aus, »dass Literatur sich nicht in einem bedeutungsfreien Isotop bewegt, sondern gekoppelt ist, an Beziehungen zur sie umgebenden Gesellschaft, und zwar in Bezug auf materielle, mediale und semantische Referenzen« (S. 12). Luhmanns Theorie stellt für Buschmeier nicht allein das methodische Fundament dar. Die Vorüberlegungen erheben darüber hinaus den Anspruch, »Nutzen und Anschlusswert der Luhmannschen Thesen für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung« (S. 13) aufzuzeigen.

[8] 

Friedrich August Wolf und die philologische Autorschaft

[9] 

Nach einer kursorischen Übersicht über die Stellung der Philologie im System des Wissens in Antike, Humanismus und Aufklärung wird zunächst das Verhältnis von Philologie und Hermeneutik bei Herder, dem Schelling-Schüler Friedrich Ast, Friedrich August Wolf und Friedrich Schlegel expliziert. Besonders hervorzuheben sind die Bemerkungen zu Wolf, dessen Prolegomena ad Homerum von 1795 einen Meilenstein in der Diskussion um die Philologie als Wissenschaft wie auch hinsichtlich des Verhältnisses dieser Wissenschaft zur Literatur darstellen. Wolf erachtet Ilias und Odyssee als Sammlung von Einzelgesängen, für deren formale Einheit nicht der geniale Autor Homer, sondern die ›Diaskeuasten‹ verantwortlich gewesen seien – Philologen, die Wolf als »Vollender oder Überarbeiter« 2 der homerischen Epen begreift. Es stellt bereits ein Verdienst der Studie dar, dass nicht nur der »Rezeption der Großthese« (S. 103, Anm. 106) Beachtung zukommt, sondern die Prolegomena als Text ernst genommen werden, was in der Forschung selten der Fall ist. Die epochale Untersuchung zur so genannten ›homerischen Frage‹ wird von Buschmeier in erster Linie als Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Philologie interpretiert. Dabei belässt er es allerdings nicht. Die homerischen Texte sind für ihn das Musterbeispiel für die Wechselwirkung von Dichtung und Philologie, da erst die philologische Bearbeitung einen dichterischen Text entstehen lässt. Die Philologen wiederum sind auf die vereinzelten dichterischen Bestandteile angewiesen, um ihre Wissenschaft ausüben zu können. Daraus werden weitreichende Folgen für den Status der Autorschaft abgeleitet.

[10] 
Autorschaft wird nicht über kreative Schaffenspotentiale, sondern philologische Ermächtigung definiert, die erst den Text und dann ein Werk konstituiert hat. (S. 112)
[11] 

Diese Verlagerung der Autorschaft und deren Wiederaneignung durch die Literatur vermittels philologischer Techniken und Schreibweisen ist über die Diskussion der Position Wolfs hinaus eines der wichtigsten Motive der Untersuchung.

[12] 

Herder und die zwei Formen der Philologie

[13] 

Während Wolf eine historisch-kritische Textwissenschaft initiieren will, ist es Friedrich Ast um eine Hermeneutik des ›Geistes‹ zu tun, die sich der Philologie bedient, um den einen, allem gemeinsamen Geist von seiner historisch zufälligen Erscheinungsform zu reinigen. Wolf und Ast stehen für zwei verschiedene Ausprägungen der Philologie um 1800. Die beiden gegensätzlichen Positionen werden auf den gleichen Ausgangspunkt zurückgeführt: Herders frühe Sprachtheorie. »Herder wird zum Paten sowohl für die Philologie als historische Wissenschaft […] als auch für ein Konzept poeto-philologischer Hermeneutik und Dichtung« (S. 184), insofern er sowohl die historische Differenz, die den Philologen von seinem Untersuchungsgegenstand trennt, ernst nimmt, als auch einen schöpferischen Umgang mit diesem fordert. Dies zu leisten sei Aufgabe eines ›dichterischen Philologen‹, der nicht rein antiquarisch, sondern selbst poetisch verfährt. Eine solche Engführung von Dichtung und Philologie beobachtet Buschmeier schließlich auch bei Friedrich Schlegel. Die Analyse von Schlegels frühen, altertumswissenschaftlichen Schriften zeichnet präzise nach, was Schlegel von Wolf, dem er entscheidende Anregungen verdankt, übernimmt, was er ablehnt und wo er ihn umdeutet.

[14] 

Arnim und Grimm

[15] 

Anschließend stellt Buschmeier dar, wie sich Philologie und Poesie bei Achim von Arnim, Jacob Grimm und Johann Wolfgang Goethe zueinander verhalten. Arnims ›poeto-philologischer‹ Umgang mit Texten wird mit dem ›wissenschaftsphilologischen‹ Grimms konfrontiert. Die verschiedenen Philologie-Modelle resultieren aus verschiedenen Dichtungsauffassungen. Diese werden anhand des Streits über Kunst- und Naturpoesie zwischen Grimm und Arnim entfaltet. Während Arnim Natur- und Kunstpoesie als anthropologische Konstanten sieht, bewertet Grimm sie als historische Phänomene, womit eine Unwiederbringlichkeit der Naturpoesie einhergeht. Für Arnim stellt Poesie ein überzeitliches Prinzip dar, das gleichwohl in seiner je konkreten Ausdrucksform kulturell-topographisch determiniert ist. Um das allgemeine poetische Prinzip in der Gegenwart originär zur Anwendung bringen zu können, muss der Dichter die Auseinandersetzung mit der dichterischen Tradition suchen.

[16] 

Jacob Grimm teilt Arnims Vertrauen in die Aktualisierbarkeit des Poetischen nicht. Die Vergangenheit, in der originäre, noch nicht künstliche Poesie möglich war, ist von der Gegenwart unüberbrückbar getrennt. Damit zementiert Grimm zugleich die Grenze zwischen Dichtung und Wissenschaft und lehnt Arnims Poeto-Philologie radikal ab.

[17] 

Bei Goethe, dessen Wunderhorn-Rezension vor dem Hintergrund dieser Debatte gelesen wird, beobachtet Buschmeier das Paradox, dass gleichzeitig ein positiver Bezug auf die Ergebnisse der Philologie wie eine Zurückweisung ihres methodischen Anspruchs stattfindet. Goethe lehnt das historisch-kritische Verfahren der Philologie ab und verlangt stattdessen einen produktiven Anschluss an Texte – die Grundlage für sein Konzept der Weltliteratur.

[18] 

Philologie und Roman

[19] 

Buschmeier weist plausibel nach, dass und wie poetischer und philologischer Diskurs miteinander in Berührung stehen. Die Auseinandersetzung der Literatur mit der Philologie findet sowohl durch Abgrenzung als auch durch Inklusion statt. Der wissenschaftliche Erkenntnisanspruch wird zurückgewiesen, zugleich aber werden einzelne Aspekte der philologischen Tätigkeit in die Literatur integriert. Dabei vertritt Buschmeier die These,

[20] 
dass dies wesentlich durch eine Figur geleistet wird: der philologischen Autorschaft im weitesten Sinne. Herausgeber, Sammler, Editoren, Archivare, sie sorgen einerseits für die oft bemerkten selbstreflexiven Erzählfiguren, andererseits sprengen sie immer wieder die vermeintlich formale Geschlossenheit der Werke. (S. 221)
[21] 

Ausgearbeitet wird diese These im umfangreichen Kapitel »Philologie und Roman«. Die Überschrift ist uneindeutig, und diese Uneindeutigkeit ist Programm. Einerseits sind Romane und deren philologische Schreibweisen Untersuchungsobjekt, andererseits ist stets die Frage nach der poetologischen Standortbestimmung des Romans und dessen Verhältnis zum Epos Erkenntnis leitend. Buschmeier analysiert dabei Goethes Der Sammler und die Seinigen, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, die Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans und Wilhelm Meisters Wanderjahre, Wielands Hexameron von Rosenhain und Schlegels Rezension von Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bereits die Textauswahl zeigt, dass Goethe der Mittelpunkt des Buches ist. Buschmeier beobachtet in Goethes erzählenden Texten einen verstärkten Einzug philologischer Schreibweisen zum Zwecke literarischer Aktualität. Darüber hinaus erkennt Goethe in den Noten zum Divan die Trennung von Poesie und Philologie nicht an. Er verlegt den Deutungsanspruch der Philologie in die Poesie zurück und verwischt die Ebenen zwischen poetischem Haupttext und philologischem Kommentar.

[22] 

Während Goethe in Der Sammler und die Seinigen sein Konzept des Sammelns textuell umsetzt und eine »Poetik der Sammlung« (S. 232) entwirft, veranschaulichen die Wanderjahre, wie moderne Literatur einzig durch den Rückgriff auf philologische Verfahren, hier von einem fiktiven Herausgeber ausgeführt, eine ihrer Zeit adäquate Form textueller Einheit erhalten kann. Nachdem Wolf die formale Einheit der homerischen Epen als philologische Fiktion und Konstruktion entlarvt hatte, musste der Roman als modernes Epos ebenfalls als Kompilation erscheinen, dessen Einheitlichkeit aus uneinheitlichen Bestandteilen erst als nachträglicher Effekt erscheint. In dieser Weise wird die Philologie zum Geburtshelfer des modernen Romans.

[23] 

Produktives Wechselverhältnis und Verlustgeschichte

[24] 

In der Goethe-Zeit erlebte das seit jeher ambivalente, zwischen Intimität und Rivalität pendelnde Verhältnis von Poesie und Philologie eine Verschärfung und Radikalisierung. Dies hatte einen verstärkten und produktiven Austausch zwischen den seit dieser Zeit institutionell strikt getrennten Bereichen zur Folge. Just diesen für beide Bereiche fruchtbaren Austausch vermisst Buschmeier in der Gegenwart, nachdem im Verlauf des 19. und 20.  Jahrhunderts eine deutliche Kluft entstanden sei: »Die Philologie hat der Literatur nicht mehr viel zu sagen und diese schert sich immer weniger um deren Analysen.« (S. 454) Die scharfsinnigen Analysen münden also in eine Verlustgeschichte. Die Philologie sei in einem Vogelkäfig gefangen und breche aus diesem nur vermittels eines »Ermächtigungsakt[s] über die Literatur« (ebd.) aus. Dies bedauernd, verlangt Buschmeier (Gedanken Susan Sontags variierend, ohne auf sie zu verweisen 3 ) nach einem nicht gewaltsamen, sondern erotischen Verhältnis der Philologie zu ihrem Gegenstand, um schließlich »die kritische Maske abzustreifen« und sich dezidiert als »sein Dichter [i. e. Goethe – Rez.] zu phantasieren« und wie dieser hinsichtlich der Wanderjahre für sein »Werk« (S. 455) einen einsichtigen Leser zu erhoffen. Wenn Buschmeier davon ausgeht, wie Goethe mit den Wanderjahren einen Versuch unternommen zu haben, »disparate Elemente zu vereinigen«, und dies als »bedenkliches Unternehmen« (ebd.) bezeichnet, muss ihm zugestimmt werden.

[25] 

Kritik

[26] 

In der Tat gewinnt der Leser den Eindruck, dass das Buch eine Vereinigung disparater Elemente darstellt. Der Autor hat sehr viel zu einem großen Spektrum zu sagen. Die Fülle an hervorragenden Interpretationen und Einzelbeobachtungen, die oft in nicht eigens gekennzeichneten Exkursen zum Ausdruck kommen, ist bei weitem zu groß, um sie vollständig zu referieren, und bekundet eine bewundernswerte Kennerschaft der Thematik. Für den Lese- und Argumentationsfluss des Buches sind diese Exkurse freilich nicht immer ein Gewinn. Eine stärkere Fokussierung auf die leitende Fragestellung wäre wünschenswert.

[27] 

Mangelnde Sorgfalt gilt es bisweilen hinsichtlich der Quellennachweise zu konstatieren. Zitate aus Wolfs Darstellung der Altertumswissenschaft werden dessen Prolegomena (vgl. S. 75), ein anderes Wolf-Zitat durch einen falschen ›Ebd.‹ -Anschluss Georg Friedrich Meier zugeordnet (vgl. S. 67 f.). Auch fehlerhafte Titelbezeichnungen sind hier zu nennen – ein Gespräch über den Roman von Schlegel gibt es nicht (vgl. S. 363).

[28] 

Ungleich problematischer ist indes, dass mit uneindeutigen Begriffen operiert wird. Dies beginnt beim zentralen, alles tragenden Begriff: ›Philologie‹. An keiner Stelle erklärt der Autor, was er darunter verstanden wissen will, und füllt ihn im Verlauf der Untersuchung durchaus unterschiedlich. Dies bedingt eine mangelhafte Vergleichbarkeit der einzelnen Resultate, was aufgrund von deren unzweifelhafter Qualität umso bedauerlicher ist. Sicher ist es der historischen Wandlung des Begriffs geschuldet, dass verschiedene Bereiche damit bezeichnet werden, einer stringenten Analyse ist dieses Changieren aber nicht förderlich. Es bleibt unklar, ob Philologie als strenge Wissenschaft aufgefasst wird, die mit der Sammlung, Edition und Kommentierung von zumeist altertümlichen Texten befasst ist, oder ob beispielsweise auch Reflexionen über das Wesen künftiger Dichtung unter den fraglichen Oberbegriff subsumiert werden. Damit allerdings wäre das Gebiet der Philologie überschritten und das der Poetik erreicht. Auch Literaturkritik scheint Buschmeier zur Philologie zu zählen, ohne zu beachten, dass diese Begriffe bereits bei den untersuchten Autoren keineswegs synonym verwendet wurden. Es ist sprechend, dass Buschmeier im Verlauf des Kapitels »Philologie und Roman« nur in einer Fußnote darauf hinweist, nun einen weiteren Philologiebegriff zu verwenden als in den vorigen Ausführungen (vgl. S. 242, Anm. 88). Wie er diesen Begriff aber ausfüllt und wodurch genau er sich von der vorigen Verwendung unterscheidet, wird nicht genannt. ›Philologie‹ ist bald eine Wissenschaft, bald literarische Bildung im Allgemeinen, so dass die überaus attraktive Ausgangsfrage, wie sich die Wissenschaft der Philologie und die Literatur zueinander verhalten, durch die ungenaue und wechselhafte Verwendung des Philologiebegriffs aufgeweicht wird und schließlich nicht schlüssig beantwortet werden kann.

[29] 

Ähnlich steht es mit dem ebenfalls zentralen Begriff ›Hermeneutik‹. Besonders problematisch ist die unscharfe Verwendung des Hermeneutikbegriffs bei der Diskussion der Position Jacob Grimms, die »jenseits der Hermeneutik« angesiedelt wird. ›Hermeneutik‹ wird offenbar gleichgesetzt mit einem vermittelnden »Verpflanzen« alter Dichtungen in die je eigene Zeit, wie es beispielsweise in Form von Übersetzungen zum Ausdruck kommen kann. Dies lehnt Grimm tatsächlich ab. Doch wenn Buschmeier mit ›Hermeneutik‹ allein eine Vermittlung meint, nicht aber eine auf Verstehen abzielende Methodenlehre der Textauslegung, die spezifischen text- und interpretationstheoretischen Prämissen verpflichtet ist – unter denen das Moment des Vermittelns eines unter mehreren ist –, dann ist eine solche Begriffsverwendung zumindest erläuterungsbedürftig. Ohne eine solche Erläuterung ist nicht nachvollziehbar, dass Grimm jeglichen hermeneutischen Verstehensanspruch zurückweise – schon gar nicht, wenn wie geschehen dezidiert dargelegt wird, auf welche Weise sich Grimm zufolge ein Verstehen, mithin das Ziel jeglichen hermeneutischen Umgangs mit Texten, einstellen könne (vgl. S. 191). Der Hinweis, dass »die Rede von der Nicht-Hermeneutik [...] freilich zugespitzt« (S. 192, Anm. 96) sei, ist ebenfalls nicht hilfreich, da auch in der zugespitzten Negation unklar bleibt, was genau negiert wird.

[30] 

Aufgrund dieser Befunde muss die Frage gestellt werden, ob nicht anstelle der ausführlichen systemtheoretischen Reflexionen zu Beginn des Buchs eine Klärung der grundlegenden Begriffe hilfreicher gewesen wäre – zumal die einzelnen Untersuchungen explizit den Anspruch erheben, »auch ohne diese theoretischen Überlegungen aus der Einleitung verständlich zu sein« (S. 12). Dieses Versäumnis berührt viele der glänzenden Einzelbeobachtungen nicht im Mindesten, beeinträchtigt aber ihre Einheitlichkeit, Kohärenz und Vergleichbarkeit.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003; Peter-André Alt: Die Verheißungen der Philologie. Göttingen: Wallstein 2007.   zurück
Friedrich August Wolf: Prolegomena zu Homer. Mit einem Vorwort über die Homerische Frage und die wissenschaftlichen Ergebnisse der Ausgrabungen in Troja und Leukas-Ithaka. Ins Deutsche übertragen v. Hermann Muchau. Leipzig o. J. [1908], S. 165.   zurück
Vgl. Susan Sontag: Gegen Interpretation. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Deutsch v. Mark W. Rien. 7. Auflage. Frankfurt/M. 2003 S. 11–22, besonders S. 18 und 22.   zurück