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An der Grenze zur Pathologie

Rainer M. Holm-Hadulla setzt sich mit
Goethes Weg zur Kreativität auseinander

  • Rainer M. Holm-Hadulla: Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität. Eine Psychobiographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 266 S. Kartoniert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-525-40409-6.
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Wer sich von der vorliegenden Studie eine Darlegung der Nähe von Genie und Wahnsinn bei Johann Wolfgang Goethe erwartet, wird enttäuscht sein. Der Psychoanalytiker und Psychiater Rainer M. Holm-Hadulla zeigt in Leidenschaft. Goethes Weg zur Kreativität. Eine Psychobiographie nämlich auf, dass der Mythos des literarisch-genialen Irren, der sich immer nahe am suizidalen Abgrund seiner eigenen Genialität bewegt, zumindest in Bezug auf Goethe nicht greift. Zwar blieb auch dieser von melancholischen Phasen nicht verschont, jedoch verliefen die keineswegs so eigengesetzlich wie primär biologisch bedingte klinische Depressionen.

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Lebenspraktische Bedeutung
und frühe Erfahrungen

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Nichtsdestoweniger verweist Holm-Hadulla auf Goethes »besondere Fähigkeit« (S. 7), seine Krisen und Leidenschaften in schöpferische Kraft umzuwandeln. Das Schreiben werde ihm zum therapeutischen Prinzip, und eine Beschäftigung mit Goethes wirksamen Bewältigungsstrategien von seelischen Konflikten könne demnach auch für den modernen Leser von lebenspraktischer Bedeutung sein. »[U]nter psychologischen Gesichtspunkten« (S. 10) betrachtet Holm-Hadulla den Weg des Dichters und zeichnet damit nicht nur die Biografie desselben nach, sondern unterzieht immer wieder ausgewählte Werke – sowohl Prosa als auch Lyrik – einer genaueren Textlektüre.

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Schon Goethes Geburt liefert Holm-Hadulla ein Indiz für die enge Verknüpfung von Individuum und Werk und damit für die Grundrichtung der vorliegenden Studie. Goethes Geburt war äußerst kompliziert, und die »Todesbedrohung durch die Geburt« (S. 11) werde an den verschiedensten Stellen in seinem späteren Werk zum Thema; unter anderem in der von Goethe oft ambivalent gehaltenen Darstellung von Müttern, was sich etwa in Mephistos Abneigung gegenüber einem Betreten des Reichs der Mütter zeige. »Frühe Lebenserfahrung [sic!] schlagen sich […] in Stimmungen und Phantasien nieder, sie werden Themen, die im Erwachsenenleben nachklingen« (S. 24).

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Goethes Leidenschaften

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Bereits während der ersten Studienjahre in Leipzig beginnt sich ein Muster in Goethes Leben abzubilden, das sich fortan scheinbar unzählige Male wiederholen wird: Unglücklich verliebt in die Wirtstochter Anna Katharina Schönkopf entwickelt Goethe »in seinem Inneren eine exaltierte Gefühlswelt, die nicht der äußeren Realität« (S. 49) entspricht. Anna wird damit zur ersten »entfernte[n] Geliebte[n]« (ebd.), die Goethe eben genau in ihrer Abwesenheit ermöglicht, liebevolle Gefühle zu entwickeln. Dann nämlich kann er »ihr Bild in seinem seelischen Binnenraum dichterisch neu erschaffen und seinen erotischen Sehnsüchten freien Lauf lassen« (S. 73). So sei es denn auch vor allem die »Sehnsucht auf ein Unerreichbares« (S. 81), welche Goethes Leidenschaft für Charlotte Buff – die er 1772 in Wetzlar kennenlernt und die sich später in Werthers Lotte zeigen wird – zum Unerträglichen intensiviere. Holm-Hadulla vermutet in diesem Mechanismus der Abwesenheit außerdem eine Parallele zur Kunst an sich, die in der Abwesenheit jeweils die Anwesenheit erschaffe.

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Holm-Hadulla untermauert seine Vermutung, dass in derartigen Konstellationen eine profunde Beziehungsangst zum Ausdruck komme, unter anderem anhand der Episode mit der Pfarrerstochter Friederike Brion. Goethes Beziehung mit dieser hatte im Herbst 1770 durchaus harmonisch begonnen; sein Gefühl des Überschwangs angesichts der erwiderten Zuneigung zeige sich beispielsweise im berühmten »Maifest« (später »Mailied«) der Sesenheimer Lieder. Nichtsdestoweniger wendet sich Goethe in einem ihm selbst unerklärlichen Zustand von Stimmungsschwankungen abrupt von der Geliebten ab, auch wenn er sich deswegen schuldig fühlen wird. Wenn er zurück in Frankfurt schließlich die Arbeit am Götz beginnt, sei vor allem die Figur des Adelbert von Weislingen interessant – an ihr zeige sich einmal mehr eine deutliche Verschränkung von Leben und Werk Goethes: »In Gestalt und Schicksal des treulosen Weislingen verarbeitete Goethe seine eigene Treulosigkeit gegenüber Friederike Brion« (S. 76).

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Das Werk als psychotherapeutisches Erzeugnis

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Wissenschaftliche Studien wollen nicht nur ergeben haben, dass Dichter dreimal häufiger von Stimmungsschwankungen betroffen seien als die sogenannte »Durchschnittsbevölkerung«, sondern auch, dass problematische Beziehungssituationen von manchen Dichtern geradezu bewusst inszeniert würden. Holm-Hadulla schließt sich dieser Theorie insofern an, als er auf den künstlerischen Antrieb verweist, den Goethe aus seinen schmerzhaften Liebeserfahrungen gewinnt. Die aus den Beziehungsverwicklungen resultierenden psychischen Leiden würden Goethe »als Geburtsschmerzen der Selbstwerdung Voraussetzung seiner schöpferischen Tätigkeit« (S. 51). In der 1774 entstandenen Hymne Prometheus zeige sich sehr deutlich eine entsprechende Richtung in Goethes Auseinandersetzung mit seinem Künstlertum: Die Titelfigur klagt die Götter an, weil sie das menschliche Leid nicht mindern können, »und setzt sich selbst als kreatives Subjekt an die Stelle Gottes« (S. 89).

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Das Werk übernehme so die psychotherapeutische Aufgabe der »Gestaltung eines kohärenten Narrativs« (S. 122), und in Gretchens Bitte an Faust, sich nach ihrem Tod um die Gräber zu kümmern, sei zugleich die Funktion einer derartigen Kunst abgebildet: »Sie soll bezeugen, was geschehen ist und die Leiden und Freuden, die uns geschenkt werden, erinnern, wiederholen und durcharbeiten« (S. 128) – und zwar durchaus im Sinne Sigmund Freuds. Dies zeige sich unter anderem auch im Torquato Tasso, der Goethes Situation am Weimarer Hof widerspiegle. Im ältesten Stück der Bearbeitung des Zweiten Römischen Aufenthalts wird Goethe später, am 31. August 1817, schreiben, sich »mit dem Tasso dem Schicksale nach vergleichen« zu können (S. 147).

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Wilhelm Meister und »Vermächtnis«

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Eine besondere Stellung innerhalb der von Holm-Hadulla besprochenen Werke nimmt der Wilhelm Meister ein. In der Romanfigur ›Wilhelm‹ ließen sich sehr klare biografische Züge ausmachen. Dies ist zweifellos richtig. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit Goethe tatsächlich eine »nahtlose[] Identifikation mit seinem Protagonisten« (S. 198 f.) unterstellt werden kann. Holm-Hadulla scheint hier das dichterische Moment als solches – das wohl aus dem jeweiligen Inneren des Autors schöpft, sich aber längst nicht auf dieses reduzieren lässt – zu übergehen, obwohl er an anderer Stelle anmerkt, eben nicht den Eindruck erwecken zu wollen, »dass psychologische Untersuchungen die dichterischen Gestaltungen umfassend erklären könnten« (S. 114); dennoch werden in der fortlaufenden Analyse also Autor und Figur explizit gleichgesetzt, indem das analytische Interesse auf »Wilhelm alias Goethe« (S. 197) zielt.

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In einem letzten Schritt wendet sich Holm-Hadulla dem im Februar 1829 entstandenen Gedicht »Vermächtnis« zu, in dem sich das Ergebnis von Goethes lebenslangem Kampf mit Angst und Verzweiflung ausdrücke. Auf eine Kurzformel gebracht laute Goethes Botschaft, »dass wir unsere Existenz mit Leidenschaft annehmen und kreativ transformieren sollen« (S. 262). Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Aspekten von Kreativität und kreativer Arbeit verweist Holm-Hadulla schließlich auf die Notwendigkeit, unser Leben zu führen und zu gestalten; womit er Kreativität, verstanden als die »Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen« (S. 222), bestimmt als »Bestandteil der Lebenskunst« (S. 233).

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Eine höhere Gesundheit

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Die depressiven Schwankungen, die Goethe jeweils zur künstlerischen Tätigkeit antrieben, werden in der Folge – in Anlehnung an einen 1842 verwendeten Begriff des mit Goethe befreundeten Arztes und Naturphilosophen Carl Gustav Carus – bestimmt als »gesunde Krankheiten« (S. 240), womit Goethes Weg zur Kreativität durch eine Leidenschaft zu charakterisieren sei, »die die Grenzen zum Pathologischen auslotet, aber letztlich zu einer höheren Gesundheit führt« (S. 250).

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Holm-Hadulla nähert sich Leben und Werk Goethes in der vorliegenden Psychobiografie seriös und mit einem Auge fürs Detail. Dennoch praktiziert er verschiedentlich eine psychoanalytische Lesart, die eine literaturwissenschaftlich nicht mehr zulässige Gleichsetzung von Autor und literarischer Figur behauptet. Gleichwohl gelingt ihm – auch wenn sowohl Leidenschaft als auch Kreativität »letztlich unverständlich, ja dämonisch« (S. 175) bleiben müssten – das Aufzeigen der Verschränkung von Leben und Werk Goethes sehr gut. Goethe selbst hat diesen Umstand in einem Brief an Auguste Gräfin zu Stolberg vom 10. März 1775 mit den Worten zusammengefasst: »O wenn ich iezt nicht dramas schriebe ich ging zu Grund« (S. 104).